Potsdamer Allerlei 1

Foto: Kemfar auf wikimedia-commons

Nach den Landtagswahlen in Brandenburg gibt es aus der bruchstücke-Küche zweierlei Potsdamer Allerlei. Acht Kurz-Kommentare, verteilt auf zwei Tage, registrieren, analysieren und interpretieren, versuchen sich an Nahaufnahmen, Überblicken und Vorausschauen.
Heute in der Reihenfolge Wolfgang Storz „Meine Lieblingsthese, ein Rohrkrepierer“, Klaus West “Blankoscheck für eine Selbstinszenierung”, Thomas Weber „Jetzt kann die SPD die Ampel auch platzen lassen“ und Horand Knaup “Zu kitten ist da nichts mehr”.
Morgen dann Fabian Arlt „Reichlich Asche, wer sieht den Phoenix?“, Klaus Lang „Die FDP soll ernst machen: Neuwahlen jetzt“, Klaus West „Das Me-first-Klima nicht mehr bedienen“ und Hans-Jürgen Arlt „Empörte Opfer oder Faschismus, eine moderne Konstante“.

Meine Lieblingsthese, ein Rohrkrepierer
Wolfgang Storz

Können wir nicht die Kirche mal im Dorf lassen? In drei wirtschaftlich und machtpolitisch unbedeutenden Bundesländern mit insgesamt etwa sieben Millionen Wahlberechtigten hat die faschistische AfD jeweils etwa 30 Prozent der Stimmen erreicht. 70 Prozent der WählerInnen haben, einschließlich der Wagenknecht-Partei, für im Prinzip demokratisch gesinnte Parteien gestimmt. Und nun steht die Republik Kopf, sieht sich wanken. Macht nicht das erst den Sieg der AfD aus?

Dass den Wahlergebnissen Motive zugrunde liegen, die mit den wirtschaftlichen Lagen wenig zu tun haben, zeigt vor allem das Wahlergebnis in Brandenburg. Der Unterschied: Die Wirtschaftslage von Thüringen und Sachsen ist, flapsig gesagt, bestenfalls mittelprächtig, Brandenburg dagegen gilt in Deutschland als Wirtschaftsmotor. AfD und Bündnis Sahra Wagenknecht, beide gleichermaßen die parteiorganisationelle Verkörperung der ostdeutschen Tristesse und Entrechtung, haben jedoch im prosperierenden Brandenburg so gut abgeschnitten wie zuvor in Thüringen und Sachsen. Detlef Pollack, Religions- und Kultursoziologe, argumentiert entsprechend, auch auf Basis eigener empirischer Arbeiten:

„Es hat sich im Osten eine soziale Affektlage des Protests und der Empörung, des Gekränktseins und des Unmuts, der Erniedrigung und des Aufbegehrens herausgebildet, die sich allen Versuchen von Dialog, Verständigung und Aufklärung verweigert.“

Es gehe um eine Art Underdog-Syndrom. Die tiefe Ursache: Die große Wirtschafts-Transformation der letzten Jahrzehnte sei misslungen und via Abwanderung und Subventionen lediglich notdürftig repariert worden, aber eben nicht via eines selbsttragenden Aufschwunges gelungen. Pollack: „Diese Geschichte hat Wunden geschlagen, die bis heute nicht verheilt sind.“ Diese Position nähmen in Ostdeutschland etwa zwei Fünftel der Leute ein, eine Position, die unbeeinflussbar sei.

Heilsbringerin Sahra

Und dann taucht den Ostdeutschen ausgerechnet eine Heilsbringerin auf, Sahra Wagenknecht, die mit im Gepäck einen Mann hat, Oskar Lafontaine, der zu Zeiten der Wiedervereinigung Kanzlerkandidat der SPD war und dem immer nachgesagt wurde, er widme sich dem Wohlergehen der Ostdeutschen höchstens ungern.

Sehr beachtenswert sind die Halbierungen der Grünen, vor allem in Brandenburg. Sie wurden am (Wahl-)Sonntag von der Wahlbevölkerung aus dem Landtag geworfen, einem Sonntag, an dem nicht nur im brandenburgischen Frankfurt (Oder) HelferInnen Flutsperren errichteten, Anwohner ihre Häuser mit Sandsäcken sicherten, und Ministerpräsident Woidke seine WählerInnen auf die drohende Flut einschwor. Es sei nötig, mit allen Kräften Menschen und Hab und Gut zu schützen, so Woidke. Über welch` unermessliche Verdrängungskapazitäten muss eine Wählerschaft verfügen, um auf dem Gang zur Urne zu vergessen: wenn, dann kümmern sich die Grünen um den Klima- und Naturschutz. Und wenn, dann werden damit Fluten und Dürren vermieden.

Es war meine Lieblings-These, weil dann (fast) alles gut gewesen wäre: Da die Wagenknecht-Partei den möglichst ausländerniedrigen Nationalstaat und das Deutsch-Soziale mag, ebenso Putin und eine waffenlose Ukraine, deshalb jagt sie mit hohem Erfolg der AfD WählerInnen ab. Denn wer wählt schon gerne freiwillig Faschisten! Doch nur in der demokratischen Not, wenn gar keine andere Partei für eine rigide Geflüchtetenpolitik eintritt. Deshalb war ich sicher: starke Wagenknecht, schwacher Höcke. Was ist herausgekommen: starke Wagenknecht, starker Höcke. Die These war zu schön, um als Rohrkrepierer zu enden. Warum? Erbitte Hinweise.

Wir können aber auch optimistisch sein nach diesen drei Landtagswahlen. Das parlamentarische System erweist sich als geschmeidiger denn je: Erst gründeten sich in den 1980er Jahren erfolgreich die Grünen, dann die Linke, 2013 die AfD, jetzt die Wagenknecht-Partei. Damit ist endlich jeder irgendwo schwelende Stammtisch-Faschismus und Digital-Populismus auf dem Tisch und beim Urnengang zugelassen. Mit anderen Worten: Das Parteiensystem lebt, bildet mehr Interessen denn je ab, die Wahlbeteiligung ging bereits auf EU-Ebene, nun auch bei diesen drei Wahlen fast durch die Decke. Wo bitte ist das Problem?


Blankoscheck für eine Selbstinszenierung
Klaus West

Was bewegt die Teile der Bevölkerung, die in den drei ostdeutschen Bundesländern Sachsen, Thüringen und Brandenburg das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) gewählt haben? Konnten sie wissen, was es vorhat?

Sahra Wagenknecht tritt für die Verständigung mit dem Präsidenten Russlands, Wladimir Putin ein. Sie scheint seine imperiale Gewaltpolitik zu unterstützen, die nicht nur der Ukraine gilt, sondern auf die westlichen Demokratien zielt. Jüngst hat Frau Wagenknecht angekündigt, sie werde die Beendigung der Ukraine-Hilfen zu einer zentralen Forderung bei möglichen Koalitionsverhandlungen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg machen.

Darüber hinaus hat das BSW kein klares Programm. Auch die Forderung seiner Führerin nach sozialer Gerechtigkeit bleibt leer. Sie fordert für billiges Gas und Öl aus Russland die weitere Unterstützung der Ukraine zu opfern, aber es gibt kein engagiertes Ja zur Energiewende. Ebenso wenig hat Wagenknecht ein stringentes Konzept für den Bau von Elektroautos in Deutschland, die für alle bezahlbar sind. Stattdessen klagt sie, dass Elektroautos nur etwas für Reiche seien. Wir warten auf ihr Bekenntnis zum Asylrecht und auf die Anerkennung des Engagements hunderttausender Menschen mit Migrationshintergrund in Organisationen wie den Gewerkschaften. Stattdessen will sie die Zuwanderung pauschal begrenzen.

Sahra Wagenknecht hat einen weiten politischen Weg hinter sich. Sie kam als Kommunistin 1991 in den Vorstand der „Partei des demokratischen Sozialismus“ (PDS) und lobte die Modernisierungsleistungen Josef Stalins zu einem Zeitpunkt, als die PDS begann, sich von diesem Erbe zu lösen. Die friedliche Revolution der DDR war in ihren Augen eine Konterrevolution. Heute präsentiert sie sich als ordoliberal inspirierte Doktorin der Volkswirtschaftslehre. Dazwischen liegen Welten.

Beim Gründungsparteitag des BSW war alles auf sie als Führerin zugeschnitten. Fragen und kritische Diskussionen über den Kurs dieser Partei soll es nicht gegeben haben. Davon hätte Wladimir Iljitsch Lenin in seiner bolschewistischen Partei nur träumen können. Das Programm ist durch politisches Charisma ersetzt. Es ist, wie alle anderen Bindestrichcharismen auch, absolutistisch und bedarf nur der Gefolgschaft.

Was macht das politische Charisma und die Außeralltäglichkeit dieser Frau aus? Eine Kombination aus Redegewandtheit, ästhetischem Stil und entsprechender Inszenierung ihres Auftretens. Dieses nimmt mit Haaren und Haltung auf die linke Ikone Rosa Luxemburg Bezug, wie schon einst Lothar Bisky ironisch befunden hatte.

Es ist diese Erscheinung, die ihre Wähler:innen fasziniert. Hätte Frau Wagenknecht sonst die Zahl der Stimmen für ihre ehemalige Partei in Thüringen quasi halbieren können? Der Einsatz von „Farben, Klängen und Symbolen“ scheint ihren Wähler:innen wichtig zu sein – wichtiger als die solide und verlässliche Arbeit des vergleichsweise blassen Ministerpräsidenten. Sie haben dieser schillernden Person einen politischen Blankoscheck auf die Zukunft ausgestellt.


Jetzt kann die SPD die Ampel auch platzen lassen
Thomas Weber

Die Landtagswahl 2024 in Brandenburg war die bisher vorletzte reguläre Landtagswahl vor der Bundestagswahl im September 2025. Im März 2025 steht noch die Bürgerschaftswahl in Hamburg an. In Hamburg dürfte es zu Gunsten der SPD und eher zu Ungunsten der CDU ausgehen. Größere unmittelbare Auswirkungen auf die Bundespolitik sind aus dieser Hamburger Wahl aber nicht mehr zu erwarten.
Da auch in Brandenburg wie in Sachsen und Thüringen eine Koalitionsbildung ohne Beteiligung des BSW nicht möglich erscheint, kann das bedeuten, dass die jeweiligen Ministerpräsidenten noch lange geschäftsführend in ihren Ämtern bleiben oder es je nach Landesverfassung zu Minderheitsregierungen oder in einigen Monaten zu Neuwahlen kommt. Die bundespolitischen Auswirkungen solcher Neuwahlen wären aus heutiger Sicht kaum abzuschätzen.

Ungeachtet solcher möglichen Entwicklungen: Wie stellt sich die Lage der Parteien im Bund nach diesen Landtagswahlen Ende September 2025 dar im Hinblick auf die notwendigen Erfolgsfaktoren (dazu https://bruchstuecke.info/2024/07/28/olaf-scholz-bundeskanzler-2025ff/), insbesondere Geschlossenheit und plausible Koalitionsperspektiven?

SPD

Für die SPD stellen die Wahlergebnisse keine unmittelbare Gefährdung der bisherigen seit 2020 bestehenden Geschlossenheit in der Parteiführung und in der Partei dar. Die Frage der Zusammenarbeit mit dem BSW dürfte jetzt in Brandenburg aufschlagen, sie birgt eine gewisse strategische Unkalkulierbarkeit.

Etwaige, von einigen Medien vor diesen Wahlen herbeigeschriebene kritische innerparteilichen Stimmen über den Bundeskanzler dürften jetzt – sofern es sie überhaupt gegeben hat – schnell verstummen. Die SPD als Kanzlerpartei und Olaf Scholz können jetzt ohne absehbare innerparteiliche Hindernisse an das Projekt Wiederwahl des Kanzlers und zweite Legislaturperiode unter sozialdemokratischer Führung gehen.
Dabei kann die SPD jetzt auch die Ampel platzen lassen – wenn z.B. die FDP die Nerven völlig verliert. Eine vorgezogene Bundestagswahl etwa zeitgleich mit der Hamburger Bürgerschaftswahl aus der Regierung heraus mit einem Bundeskanzler Scholz, der als Krisenmanager die internationale und nationale Bühne nutzen kann, stellt eine zu bewältigende Aufgabe dar.

Koalitionär ist die SPD für alle rechtsstaatlich demokratische Parteien offen.

CDU

Die CDU dagegen zeigt sich in allen relevanten Fragen tief gespalten. Die Antipoden Wüst und Söder schicken Merz als Kanzlerkandidaten in ein Rennen, das dieser, nachdem die schwarz-grüne Koalitionsperspektive von Söder zunichte gemacht wurde und wird, nicht gewinnen kann. Nicht völlig ausgeschlossen scheint es auch, dass der aiwangerisierte Söder mit anderen „Rechten“ in der CDU noch mit einem unionsübergreifenden Rechtsbündnis um die Ecke kommt, das in Konkurrenz zur AfD gleichzeitig eine Zusammenarbeit mit der AfD nicht ausschließt.

Als Koalitionsperspektive hat die CDU nur noch eine Koalition mit der SPD in Aussicht.

Grüne

Die Grünen befinden sich in einer grundsätzlichen Identitätskrise. Nach diesen Wahlen wird es für sie schwer, als wichtiger Player im Bundestagswahlkampf eine Rolle zu spielen. Die Grünen haben zugelassen und selbst betrieben, dass die großen und systemischen Fragen und Aufgaben der Bewältigung der Nachhaltigkeits- und Klimakrise auf Fragen des individuellen moralischen Verhaltens reduziert werden. Das fällt ihnen jetzt auf die Füße und macht sie gegen die Angriffe insbesondere der CSU und von Teilen der CDU wehrlos.

Die Grünen sollten sich nicht nur aus Selbstachtung, sondern auch als Ausdruck politischer Klugheit im Bundestagswahlkampf eindeutig gegen die Union und für Rot-Grün positionieren. Tun sie das nicht, laufen sie Gefahr, zwischen Union und SPD zerrieben zu werden, so dass sich für sie eine Koalitionsfrage gar nicht mehr stellt.

AfD

Die rechtsstaatlich demokratischen Parteien schließen es (noch) aus, in den Ländern und im Bund mit der AfD Koalitionen einzugehen. Das führt dazu, dass mit den stärkeren Wahlergebnissen der AfD Regierungsbildungen erschwert und behindert werden. Der Ausschluss der AfD aus Koalitionen mit den rechtsstaatlichen Parteien wird sich auf Dauer aber kaum durchhalten lassen, wenn die AfD bei Wahlen weiterhin antreten kann und als Partei nicht verboten wird. Deshalb sollten die rechtsstaatlich demokratischen Parteien im Bundestag und Bundesrat jetzt daran gehen, das AfD-Verbotsverfahren beim Bundesverfassungsgericht auf den Weg zu bringen.

BSW

Das BSW dürfte sein Potential, solange die AfD nicht verboten wird, zunächst ausgeschöpft haben. Das BSW wird sich entscheiden müssen, wie es in den Ländern seine für Koalitionen ohne AfD ausschlaggebende Rolle spielen wird. Ob es in den Ländern zur Zusammenarbeit mit SPD und CDU kommt, ist dabei aus meiner Sicht noch nicht sicher. Das BSW will eigentlich die Parteienlandschaft im Bund verändern. Länderkoalitionen dürften da eher im Weg stehen. Nach der Bundestagswahl ist es allerdings durchaus vorstellbar, dass das BSW bei Koalitionsbildungen eine Rolle spielt.


Zu kitten ist da nichts mehr
Horand Knaup

Und die Sozialdemokraten? Sie rätseln schon länger, seit Sonntagabend aber mit erhöhtem Pulsschlag: Was will die FDP? Wollen die Liberalen die Koalition selbstbestimmt verlassen oder herauskomplimentiert werden? „Den Herbst der Entscheidung“, den FDP-General Bijan Djir-Sarai am Sonntagabend ausgerufen und nebenbei auch das geplante Tariftreuegesetz als Zumutung für die Wirtschaft klassifiziert hatte, hatten sie in der SPD-Zentrale sehr aufmerksam wahrgenommen. Und auch die Bemerkung von FDP-Chef Christian Lindner vom Montag, „die Grenzen des Möglichen seien erreicht“, unterfütterte den Gesamteindruck. Zu kitten, so sieht man es in der gesamten Breite der sozialdemokratischen Partei, ist da nichts mehr. Zumal die FDP, so die Unterstellung, einen Auszug aus der Koalition mit maximalem Flurschaden inszenieren würde.

Bleibt die Frage: Sollte Olaf Scholz dem Rückzug der Liberalen zuvorkommen? Hat er die Führungskraft dazu? Ist er bereit, zumal nach dem Woidke-Erfolg in Brandenburg, die Rolle des Machers anzunehmen? In den oberen Parteietagen schließen sie, was das Agieren der FDP angeht, jedenfalls nichts mehr aus. Parteichef Lars Klingbeil bemühte sich am Montag noch als Brückenbauer. „Wir haben einen Job zu erledigen – ich hoffe, dass niemandem die Puste ausgeht“, mahnte er an die Adresse des liberalen Partners. Andererseits haben die Genossen bei Themen wie Rente, Tariftreue oder auch Industriearbeitsplätzen die Latte auf eine Höhe gelegt, die für die FDP nur noch schwer zu überqueren ist. 

Aber auch für den Kanzler ist die Lage nach der Sonntagswahl nicht gemütlicher geworden. Denn mit seiner klaren Kante gegen die AfD, mit seinem Mut zum Risiko hat Dietmar Woidke demonstriert, wie man auch mit weniger ausgeprägtem Charisma aus einer Führungsrolle heraus Wahlen gewinnen kann. „Eine klare Haltung, Kampfgeist, Geschlossenheit und Mut“ hat Klingbeil als Gründe des Erfolgs ausgemacht – Attribute, die sie im Willy-Brandt-Haus jetzt auch von ihrem Kanzler erwarten. Ob Olaf Scholz den Erwartungen gerecht wird? Bisher war eher Attentismus sein Markenzeichen. Haltung, Kampfgeist und Mut gehörten nicht zu seinen hervorstechenden Eigenschaften.

1 Kommentar

  1. Hallo Autoren,

    gefällt mir gut – keine Resterampe, sondern kluge Kommentare, auch im zweiten Teil.
    Regt zum Denken an und macht Mut, nicht nur depressiv den Kof zu schütteln ob der Wahlergebnisse.
    Grüsse aus Hannover
    Stefan

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