Eskalationsspirale hin zum europäischen Flächenbrand?  

Bild: Tumisu auf Pixabay

In der letzten Woche ist die Ukrainedebatte endgültig in den heißglühenden Overdrive gekippt. Nach der Veröffentlichung des unterstützenden Artikels von Habermas und dem offenen Brief deutscher Intellektueller kennen die Freiheitskämpfer kein Halten mehr. Aus allen Rohren werden die “Unterwerfungspazifisten” beschossen, diskreditiert, gecancelt. Auf Brief folgt Gegenbrief, gut so, wäre der Stil der Debatte ein anderer.

Der Stil der Debatte folgt strikt dem Muster der Kulturkämpfe
1. fckptn hat unsere Werte verletzt!
2. Shitstorm to cancel Putinhitler!
3. Shitstorm gegen alle Kontaktschuldigen
4. Bevölkerung wendet sich angewidert ab

Und tatsächlich stützen laut einer Umfrage 65% der Bevölkerung den “besonnenen Kurs des Kanzlers”. Wirklich gefährlich an diesem Empörungsüberbietungswettbewerb ist allerdings, dass sich die Eskalationsspirale immer schneller dreht. Einen Atomkrieg in Kauf zu nehmen (“besser jetzt als uns erpressen zu lassen”) gilt oft schon als Tapferkeitsausweis. Gleichzeitig wachsen die Kriegsziele ins Unermessliche: die Verteidigung der Souveränität der Ukraine ist jetzt schon Verrat am Völkerrecht, und selbst die Reconquista der verlorenen Gebiete reicht kaum aus; Putin muss vors Weltstrafgericht! Russland muss zerschlagen werden!

Zeit zu sagen, was ist

Aber auch manche dogmatische Pazifisten sind mitverantwortlich für die Empörungsspirale, weil sie an Glaubenssätzen festhalten, die angesichts eines Angriffskrieges mitten in Europa aus der Zeit gefallen wirken. Selbstverständlich hat die Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung, und wir sollten sie dabei nach Kräften unterstützen. Der Aufruf an den Angegriffenen, um der Rettung von Leben willen besser gleich die Waffen niederzulegen wirkt zynisch. Letztlich zeigt sich aber nur, dass es vielen deutschen Intellektuellen nach 70 Jahren unter dem amerikanischen Schutzschirm nicht gelingt, nüchtern die deutschen bzw. europäischen Interessen zu definieren. Stattdessen wird gefühlsduselig ein Pazifismus beschworen, der schon in der Vergangenheit nicht mehrheitsfähig war und heute weltfremd wirkt.

Es ist also mal wieder Zeit zu sagen, was ist. Und dazu gehört klar auszusprechen, warum wir die Ukraine unterstützen und warum nicht:

  • Deutschland unterstützt die Ukraine nicht aus moralischen Gründen (“historische Schuld”, “Solidarität”), sondern aus ordnungspolitischen Überlegungen: Russland hat die europäische Friedensordnung zerstört und muss dafür einen astronomisch hohen Preis bezahlen.
  • Die Osteuropäer denken geopolitisch: sie wollen die russische Offensivkraft ausbluten lassen, um den Druck vom Baltikum, Polen und Moldawien zu nehmen. Ihr Interesse ist, den Krieg weiter zu eskalieren, solange sie die Unterstützung der USA hinter sich wissen.
  • Die USA sehen die Chance, einen Juniorpartner Chinas auf Jahrzehnte hinaus zu schwächen und damit aus dem Großen Spiel um die globale Hegemonie zu nehmen. Das bedeutet einen begrenzten Stellvertreterkrieg zu führen, ohne selbst hineingezogen zu werden, weil der eigentliche Fokus auf China und dem Indopazifik liegt.
  • Russland bzw. Putin glauben, den Krieg nicht verlieren zu dürfen, koste es, was es wolle. Das spricht für eine weitere Eskalation von der Generalmobilmachung bis zum möglichen Einsatz taktischer Atomwaffen.

Heisst unterm Strich, dass die Eskalationsspirale sich weiter dreht und ein Flächenbrand in Europa wahrscheinlicher wird.

Für eine regelbasierte und multilaterale Weltordnung

Deutschland muss daher seine Interessen klar definieren, statt zum Spielball innerer und äußerer Interessengruppen zu werden.

Das deutsche Interesse ist kurzfristig, die Ukraine militärisch und finanziell zu unterstützen, und maximalen Druck auf Russland auszuüben, ohne dadurch selbst Kriegspartei zu werden.
Mittelfristig geht es darum, den Krieg so schnell wie möglich politisch zu beenden, um einen (atomaren) Flächenbrand zu verhindern.
Langfristig geht es um die Verteidigung der Grundlagen des Friedens, der Einheit Europas und des wirtschaftlichen Wohlstandes. Für eine auf Recht und Aushandlung beruhende Entität wie die Europäische Union, und eine auf Export und Verflechtung beruhende Wirtschaft wie Deutschland kann das nur im Rahmen einer regelbasierten und multilateralen Weltordnung gelingen. Diese zu verteidigen, muss das höchste deutsche Interesse sein.

Weder das pazifistische “Waffen nieder” noch das bellizistische “Atomkrieg, na und?” sind dabei hilfreich. Es braucht dagegen einen Mix aus militärischer Unterstützung und politischen Initiativen, die auf eine rasche Beendigung der Kampfhandlungen zielen.

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Marc Saxer
Marc Saxer ist ein politischer Analyst und Autor. Er ist Mitglied der SPD Grundwertekommission. 2021 erschien sein Buch "Transformativer Realismus. Zur Überwindung der Systemkrise".

5 Kommentare

  1. Wenn ich auch gleich zwei kritische Anmerkungen/Fragen anbringe – zunächst einaml finde ich den Versuch dieses Beitrags, ohne Scheuklappen an die Dinge heranzugehen, wohltuend. Und ich hoffe, dass deshalb auch meine Fragen nicht als rhetorische, sondern als ernsthafte aufgenommen und entsprechend beantwortet werden:

    M. Saxer schreibt, bezogen auf “manche dogmatische Pazifisten”:
    “Der Aufruf an den Angegriffenen, um der Rettung von Leben willen besser gleich die Waffen niederzulegen wirkt zynisch.”
    Ich habe recht viele Stellungnahmen aus der Friedensbewgung gelesen. Eine solche wie hier angedeutet, ist mir aber tatsächlich bisher nicht untergekommen. Ich will gar nicht ausschließen, dass es solche Positionen gibt. Nach meiner Wahrnehmung existieren sie allerdings vorrangig in der Zuschreibung und jedenfalls nicht in einem solchen Umfang, dass sie damit “mitverantwortlich für die Empörungsspirale” gemacht werden könnten.
    (Da ich selbst – vor 55 Jahren und nach Ableistung eines Jahres Grundwehrdienst – den Kriegsdienst verweigert habe und dabei FÜR MICH erklärt habe, dass ich mich an einem Krieg nicht beteiligen will, selbst nicht auf die Gefahr einer dann erfolgenden Unterwerfung unter eine fremde Macht hin, liegt mir sehr an der Differenzierung zwischen dieser – aus meiner Sicht legitimen – Entscheidung für mich und einer – aus meiner Sicht illegitimen – entsprechenden Aufforderung an Andere. Aber wie gesagt: Ich habe eine solche Aufforderung bisher auch nicht wahrgenommen, erst recht nicht als relevante Position in der Friedensbewegung.)
    M.S. schreibt:
    “Russland hat die europäische Friedensordnung zerstört …”.
    Aus dem Satzzusammenhang wird (mir) nicht vollständig klar, ob dies nur eine Beschreibung der Position Deutschlands oder die Position des Autors ist.
    Nun bin ich ja bei weitem nicht der Einzige, der an dieser Stelle auf die Jugoslawienkriege hinweist. Und ich bitte (s.o.), ernsthaft auf die FRAGE einzugehen, wieso dies bei der Erklärung einer “Zeitenwende” etc. übergangen wird.
    Vielleicht ist ja angesichts des Tenors des Beitrags hier eine konstruktive Klärung möglich – ?

    1. Der offene Brief von Schwarzer u.a. läuft genau auf die Aufforderung an die Ukrainer hinaus, die Waffen niederzulegen und zu kapitulieren – um den Preis, dass die Ukrainer in den von der russischen Armee besetzten Gebieten wie in Butscha, Mariuopol und anderen Städten und Orten massakriert, deportiert und unterjocht werden. Und die gesamte freie, demokratische Ukraine vernichtet wird. Diese Position teilen, wie man bei den Ostermärschen und aus viele Äußerungen entnehmen kann, viele aus der sog. Friedensbewegung.
      Die Kriege Serbiens im zerfallenen Jugoslawien richteten – mit russischer Untersützung – ebf. gegen das Selbstbestimmungsrecht von Nationen, der Kroaten und Bosnier. Begleitet von Völkermorden, ethnischen Vertreibungen, Massenvergewaltigungen und einer jahrelangen Belagerung von Sarajevo. Gegen diese verbrecherischen Angriffskriege ist die Nato eingeschritten. Hätte die Weltgemeinschaft das insgesamt früher getan, hätte der genzozidale Massenmord in Srebrenica verhindert werden können. Russland und China haben das mit ihrem Veto im Sicherheitsrat verhindert. Ein Vergleich mit dem Vernichtungskrieg Putin-Russlands gegen die Ukraine verbietet sich daher.

  2. Ich hatte mich durch das
    „gut so, wäre der Stil der Debatte ein anderer“
    zu der Annahme verführen lassen, hier ginge es um eine ernsthafte Diskussion.
    In diesem Sinne hatte ich zwei Fragen gestellt, auf die nun „Antworten“ vorliegen.
    So hatte ich angesichts des Satzes
    „Russland hat die europäische Friedensordnung zerstört …“,
    gefragt, wieso die Jugoslawienkriege bei der Erklärung einer “Zeitenwende” etc. und eben auch in diesem Beitrag übergangen werden.
    Ludwig Greven erklärt, dass sich „ein Vergleich mit dem Vernichtungskrieg Putin-Russlands gegen die Ukraine verbietet“ – wobei hier nicht ganz klar wird, wer hier eigentlich was verbietet und der Eindruck entsteht, er habe nur nicht den Mumm, auszusprechen, dass ER es ist, der hier etwas verbieten und damit eine Frage tabuisieren will.
    M. Saxer erkennt immerhin an, dass es sich bei diesen Kriegen „natürlich um einen grauenvollen Bruch des Friedens (handelt)“. Ich will mal dahin gestellt sein lassen, ob/wie weit dabei „die Prinzipien der Pariser Charta grundsätzlich infrage“ gestellt waren, da das gar nicht Teil seiner ursprünglichen Argumentation und also auch nicht meiner Frage war.
    Wenn das also der bessere „Stil der Debatte“ ist – was ist dann der schlechtere?

  3. Vielleicht “läuft” ja für manche die Weiterverbreitung des u.a. Links “genau auf die Aufforderung an die Ukrainer hinaus, die Waffen niederzulegen und zu kapitulieren…”.
    Sei’s drum – dann bin ich eben einer von den “dogmatische Pazifisten”, die “mitverantwortlich (sind) für die Empörungsspirale, weil sie an Glaubenssätzen festhalten, die angesichts eines Angriffskrieges mitten in Europa aus der Zeit gefallen wirken”.
    https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/014216.html
    “Krieg ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit” – Die Stimme der ukrainischen Pazifist*innen

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