
„Unwohl“ fühlen sich an der Erasmus Universität in Rotterdam Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, weil die weltbekannte Soziologin Eva Illouz, Jüdin mit französischem und israelischem Pass, am 21. November einen Vortrag über „Romantische Liebe und Kapitalismus“ halten sollte: Sie luden sie „nach einer demokratischen Abstimmung“ im „Love Lab“, das der Universität angegliedert ist, mit einer formlosen E-Mail wieder aus.
„Nein“, sagten Mitte Oktober im Rahmen eines Seminars rund 200 Studentinnen und Studenten der Pariser Universität VIII auf die Frage: „Verurteilen Sie den 7. Oktober 2023?“ (Robert Hirsch in Le Monde vom 4. November). An diesem Tag mordete die islamistische Terrororganisation Hamas in Israel 1200 Jüdinnen und Juden, weil sie Jüdinnen und Juden waren.
In der schwedischen Universität Uppsala entstand im Sommer eine Erklärung, in der israelischen Universitäten und Instituten „Komplizenschaft mit illegaler Besatzung, Apartheid, Genozid und anderen Verletzungen des internationalen Völkerrechts“ vorgeworfen und künftig jegliche Zusammenarbeit, jeglicher Studentenaustausch abgelehnt wird. Der 7. Oktober wird nicht erwähnt. Die Unterschriftenliste im Netz füllt inzwischen 171 Seiten.
Eine ähnliche deutsche Version mit dem Titel „Verweigerung aus Gewissensgründen. Für Menschenrechte und Einhaltung des internationalen Rechts“ kursiert seit drei Monaten im Internet. Der Ton, der angeschlagen wird, ist hoch, überheblich hoch: „Wir bekräftigen unser moralisches Recht, aus Gewissensgründen die Teilnahme an Handlungen zu verweigern, die unseren Grundsätzen akademischer Integrität, einschließlich unseres Glaubens an die Gleichberechtigung und Würde alles Menschen, grundsätzlich widersprechen“. Die Beziehungen zu „komplizenhaften“ israelischen Universitäten und Institutionen würden „ausgesetzt“, „explizit“ aber nicht zu einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Die deutsche Erklärung weist inzwischen rund 500 Unterschriften aus, irritierend viele aus der älteren Generation., emeritierte oder pensionierte Politikwissenschaftler oder Theologen.
Wie nennt man das, wenn gefordert wird, Israel abzuschaffen
Bei der Ausladung von Eva Illouz, die in Paris lehrt, bis vor drei Jahren auch in Jerusalem, hat bisher kein Unterzeichner oder keine Unterzeichnerin „Grundsätze akademischer Integrität“ verletzt gesehen. Daran erinnert hat jetzt nur der französische Historiker Marc Knobel in einem Brief an den niederländischen Botschafter in Frankreich, Jan Théophile Versteeg (laregledujeu.org vom 1. November).

(Foto, 2025: Jutta Roitsch)
Ist das, was sich von Paris über Rotterdam bis Uppsala, an deutschen Hochschulen und weit darüber hinaus zeigt, akademischer Antisemitismus? Ist es linker akademischer Antisemitismus, wenn der 7. Oktober unerwähnt, die Geschichte des Judentums und die Traumata, die das Massaker in Israel und in der jüdischen Diaspora ausgelöst hat, ausgeblendet bleiben? Ist es linker akademischer Antizionismus, wenn über die Terrorgeschichte der Hamas, die dem jüdischen Staat ein Existenzrecht abspricht und innerpalästinensische Gegner ermordet, kein Wort verloren wird; wenn vom Widerstand erzählt wird und der Befreiung des palästinensischen Volkes von der Kolonialmacht Israel, die nicht zuletzt mit dem Vergeltungskrieg in Gaza und der Besatzungspolitik im Westjordanland zum Inbegriff allen Bösen geworden ist?
Und wie nennt man das, wenn gefordert wird, die Kolonialmacht Israel abzuschaffen, um den 1948 vertriebenen Palästinensern zu ihrem von den Vereinten Nationen verbrieften Rückkehrrecht zu verhelfen, aber zu einer Frage geschwiegen wird: Wo liegt das „Mutterland“, in das die kolonialen Zionisten „zurückkehren“ sollen, in Deutschland, Polen, Russland? In den arabischen Ländern, die in den Kriegen nach 1948 eine knappe Million Jüdinnen und Juden ohne Rückkehrrecht vertrieben?

In ihrem Essay „Der 8. Oktober“ geht Eva Illouz diesen Fragen nach. Es sind knapp hundert Seiten zum Nach-Denken. Die Antworten sind unfertig. Eva Illouz schloss diesen Essay im August 2024 ab, zu früh, um die Entwicklungen seit der zweiten Amtszeit des US-Präsidenten Donald Trump noch mitzudenken. Das Unfertige macht sie angreifbar für besserwisserische Kritikerinnen und Kritiker, aber gerade ihr tastendes Begreifenwollen zeichnet sie aus. Es ist der Versuch, sich die Entwicklung vor allem in den amerikanischen Universitäten und der jüdischen Diaspora in diesem Land selbst zu erklären.
Die schmerzhafteste Reaktion von allen
Illouz betreibt im „Der 8. Oktober“ Selbstaufklärung: Wie konnte „Zionist“ zum Schimpfwort werden? Wie konnte es zu dem Bruch kommen, dass der gemeinsame Kampf der Juden und der Schwarzen um Gleichberechtigung und Menschenwürde nicht mehr zählt? Sie durchforstet die Literatur, sucht nach Spuren, wann die Konkurrenz zwischen den Minderheiten in den USA begonnen hat. Am 8. Oktober 2023 „bleiben viele Black Live Matter – Gruppen stumm oder solidarisierten sich mit der Hamas,“ schreibt sie (S. 49). „Das war zweifellos die schmerzhafteste Reaktion von allen. Wie konnten zwei Gruppen, die in so vielen Kämpfen Seite an Seite gestanden hatten, zu Feinden werden?“
Sie erkennt drei gesellschaftliche Prozesse: Die strikte Begrenzung jüdischer Studierenden an vielen US-Universitäten (eine kaum verhüllte antisemitische Diskriminierung in den 1950er Jahren) wurde Ende 1970er Jahre eingestellt: „Von diesem Zeitpunkt an nahm die soziale Mobilität der Juden rasch zu, und sie ließen diejenigen hinter sich, mit denen sie Stadtviertel, Schulen und Forderungen geteilt hatten.“ (S. 50)
Den zweiten Faktor für den Bruch erkennt Illouz in der Frage der „positiven Diskriminierung“ (die Trump jetzt mit einem Federstrich abgeschafft hat): Jüdische Anwälte vertraten in berühmten Gerichtsprozessen die Gegner und schlugen sich damit in den Augen der Schwarzen auf die Seite der Weißen. Die dritte Quelle der Spaltung sieht Illouz darin, dass die Vernichtung des europäischen Judentums durch die Nationalsozialisten, die Schoah, „im Westen eine beispiellose Aufmerksamkeit (fand), da sie das radikal Böse und die unsühnbare Schuld viel stärker verkörperte als die Sklaverei“. Ab den 1970er Jahren habe der Völkermord an den Juden „das Zentrum des Gedenkens“ besetzt, „während Amerika die Unmenschlichkeit der Sklaverei noch gar nicht wahrhaben wollte“ (S. 51). Im Verhältnis zur afroamerikanischen Minderheit hätten die Juden von dieser Aufmerksamkeit profitieren können: Als „Weiße“ stiegen sie zwei oder drei Generationen nach der Einwanderung in die Mittel- und Oberschicht auf, bildeten eine „dominante“ Minderheit, „die als Nutznießerin von Begünstigungen und Privilegien wahrgenommen wurde“.
Konkurrierende Minderheiten in Frankreich
Eine ähnliche Konkurrenz sieht Eva Illouz auch in der französischen Gesellschaft zwischen den jüdischen und den arabisch-muslimischen Minderheiten. Der offene Antisemitismus des Vichy-Regimes im zweiten Weltkrieg, jahrzehntelang zugedeckt und geleugnet, habe auch hier in der Nachkriegszeit die jüdische Gemeinde zu einer „geschützten“, „weißen“ Minderheit gemacht (S. 65), mit privilegierten Karrierechancen (Eva Illouz selbst lehrt an einer der Eliteschulen und politischen Kaderschmieden).

Die Soziologin erinnert an den französischen Kolonialismus in Algerien, der zu einer Diskriminierung der besonderen Art geführt habe: Juden und katholischen Arabern wurde die französische Staatsbürgerschaft gewährt, während Muslime sie nur erlangten, „wenn sie bestimmte Grundsätze des Islams aufgaben“ (S. 66), Polygamie oder das männliche Erbrecht zum Beispiel. Das bleibt im Gedächtnis von Minderheiten hängen. Ob diese kolonialen Erfahrungen in Frankreich, die Ghettoisierung der muslimischen Einwanderer in Ballungsräumen, „wo sie oftmals unter Bedingungen der Armut und des Elends lebten“, die Konkurrenz der „geschützten“ und der „nichtgeschützten“ Minderheiten zu dem offenen Antisemitismus und den propalästinensischen Solidarisierungen nach dem 7. Oktober vor allem unter der Linken und an den Universitäten geführt haben?
Sie fragt, sie sucht nach Erklärungen
Endgültige Antworten findet und gibt Eva Illouz nicht. Sie fragt weiter, wie es möglich war, „dass ein Teil der progressiven Linken mit Gleichgültigkeit oder Freude auf ein Massaker reagieren konnte“? Sie bleibt eine Suchende, fassungslos über das fehlende Mitleid und den Hass, der sich ausbreitet und sich niederschlägt in Ausladungen und hoch moralischen Erklärungen gegen Israel. Die Soziologin, eine der schärfsten Kritikerinnen der gegenwärtigen israelischen Regierung und engagierte Linke, nennt das eine „neue Form von sich tugendhaft gebendem Antisemitismus“ (S. 25). Gehe es letztlich überhaupt um die Palästinenser, Kolonialismus oder Postkolonialismus und nicht vielmehr um „die alten trügerischen antijüdischen Projektionen“?
Eva Illouz hat ihr Nach-Denken im „Der 8. Oktober“ vorgelegt. Sie fragt, sie sucht nach Erklärungen, in den USA und in ihrem Land Frankreich. Im Blick hatte sie nicht den Bruch zwischen Israel und der Linken in Deutschland, nicht den propalästinensischen Revolutionstourismus in Europa (1969/70), den linken Antizionismus und linken Antisemitismus in den 1970er Jahren in Westdeutschland. An ihm zerbrach ein Jean Améry (siehe „Antisemitismus in linkem Gewand„). Die antizionistischen, kommunistischen Gruppen lösten sich damals auf, aber unter der Oberfläche brodelten diese Ismen weiter. Nach einem halben Jahrhundert taucht linker Antizionismus wieder auf, an den Universitäten, bei der Jugendorganisation der Linkspartei. Wo sind die hochmoralischen Gewissensträger, die fragend und suchend genauer hinsehen? Wer über „Grundsätze akademischer Integrität“ schwatzt, darf zu diesen Entwicklungen nicht schweigen.