Auch wenn die Aktionen aufhören, die Proteststimmung bleibt

Ängste vor wirtschaftlichem Abstieg, Misstrauen gegenüber politischen und anderen Eliten sowie kulturelle Desorientierung bilden nach Auffassung des Bewegungsforschers Dieter Rucht die Tiefenströmungen der Querdenker-Proteste. Deshalb seien sie anschlussfähig für Rechtsextremismus. „In einer akuten Krise mit der Erfahrung eines drastischen Kontrollverlustes verstärken diese Strömungen die Neigung, eine generalisierte Unzufriedenheit auszuleben“ sagt Rucht im Bruchstücke-Interview. Für diese Unzufriedenheit sei Corona nur das Thema, das sich gerade anbiete. Prof. Dr. Dieter Rucht ist Mitglied des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung und Senior Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

Haben Sie, Herr Rucht, den Überblick, um verlässlich sagen zu können, wie stark die Anti-Corona- und Querdenker-Bewegung wirklich ist? Hintergrund meiner Frage: Die Medien schauen sehr auf die Teilnehmerzahlen bei den zentralen Demonstrationen. Ich kenne jedoch beispielsweise mehrere kleinere Städte in Baden-Württemberg, da halten jeden Montag 200 bis 400 TeilnehmerInnen eine Anti-Corona-Kundgebung ab; so große Kundgebungen hat es in diesen Städtchen noch nie gegeben.

Rucht: Die bislang größte Demonstration dieser Bewegung fand am 29. August 2020 in Berlin mit mehreren Zehntausend Teilnehmer*innen statt. Kundgebungen in Stuttgart und München erreichten eine Größenordnung von 5000 bis 10.000 Beteiligten. Das sind zwar beachtliche, aber gemessen an vielen anderen Kundgebungen keine sonderlich beeindruckenden Zahlen.  Allerdings breitet sich das mit Corona verbundene Demonstrationsgeschehen zunehmend in der Fläche aus und erzielt in manchen mittelgroßen Städten eine bis dahin kaum oder nie erreichte Beteiligung. Die Bewegung hat also in den letzten Wochen an Mobilisierungskraft gewonnen. Dieser überregional kaum beachtete Effekt wird derzeit verdeckt, weil große und überregionale Demonstrationen ausbleiben oder verboten werden.

Wird die Bewegung eher stärker oder schwächer?

Rucht: Entscheidend für das Wachstum oder Schrumpfen dieser Bewegung sind externe Faktoren, die mit dem vordergründigen Anlass der Proteste – Corona und damit verbundene amtliche Auflagen und Einschränkungen – zu tun haben. Wird die Pandemie allmählich eingedämmt und werden dann auch die Restriktionen gelockert, so schwächt dies die Bewegung. Eher sekundäre Einflussfaktoren sind dagegen Verbote oder Einschränkungen dieser Demonstrationen sowie generelle Kontrollmaßnahmen, wie etwa die in Baden-Württemberg vom Landesverfassungsschutz erklärte Beobachtung der Querdenker. Diese Schritte bestärken einerseits den harten Kern, der sich dem Widerstand gegen die „Corona-Diktatur“ verschrieben hat. Moderate Sympathisanten werden eher abgehalten. Damit verstärkt sich der interne Richtungsstreit, was wiederum den Zulauf zur Bewegung weiter reduziert.

Die Behauptung ist, wir lebten bereits in einer Gesundheitsdiktatur. Redner auf Querdenker-Bühnen sehen sich im Widerstand und vergleichen sich mit Anne Frank und Sophie Scholl, Frauen, die von den Nazi-Deutschen verfolgt und getötet worden sind. Ist das ein Zeichen von mangelnder Bildung oder von gezielter Radikalisierung?

Rucht: Nein, das sind nicht, wie üblich vermutet, Zeichen mangelnder Bildung, sondern eher taktisch eingesetzte Mittel der Provokation. Es werden Deutungsrahmen etabliert und bekannte Symbole genutzt, um die eigene Person oder das eigene Lager mit überraschenden assoziativen Verbindungen aufzuwerten. Die Namen und Symbole werden „modularisiert“, also aus ihrem Entstehungskontext gelöst, und mit dem eigenen Tun verknüpft. Der Stoff dazu ist vielfältig und kann sogar aus dem gegnerischen Lager entnommen werden. Beispiel: ein Che Guevara-Portrait auf dem T-Shirt eines Rechtsradikalen. Erfolgsmaßstab dieser vermeintlichen Gedanken- und Geschichtslosigkeit ist der Grad an Erregung, der damit im gegnerischen Lager und auf den Zuschauerbänken erzielt werden kann. Darin drückt sich Selbstbewusstsein aus. Das kann aber auch ein Indiz für eine Radikalisierung sein. 

Was verleiht dieser Bewegung Kraft? Was ist ihre entscheidende Triebfeder?

Rucht: Corona bietet den äußeren Anlass. Die Triebfedern liegen in längerfristigen Tiefenströmungen, die vor allem rechtspopulistische Haltungen speisen. Dazu gehören — in Stichworten — Ängste vor wirtschaftlichem Abstieg, Misstrauen gegenüber politischen und sonstigen Eliten sowie kulturelle Desorientierung. In einer akuten Krise mit der Erfahrung eines drastischen Kontrollverlustes verstärken diese Strömungen die Neigung, eine  generalisierte Unzufriedenheit auszuleben. Damit bieten sich Anknüpfungspunkte für eine Vielzahl von Themen, die mit Corona nichts zu tun haben.

Gibt es etwas, was diese sehr heterogene Bewegung inhaltlich eint?

Rucht: Der größte gemeinsame Nenner ist die populistische Unzufriedenheit mit „denen da oben“. Ansonsten stehen viele Einzelthemen völlig unverbunden nebeneinander. Die Kundgebungen, die eine enorme Medienresonanz finden, sind so gesehen ein offener Messepark, in dem ein höchst diverses „Warensortiment“ ohne Qualitätsgarantie ausgestellt wird. Marktschreier prägen das Geschehen. Rechtspopulisten und Rechtsradikale streichen die Gewinne ein.

Und was eint sie kulturell oder sozial? Also kommen die Teilnehmerinnen beispielsweise aus denselben Schichten, haben sie einen ähnlichen Bildungsgrad?

Rucht: Es gibt derzeit noch keine soliden Analysen. Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich nicht um die „Abgehängten“, sondern um Leute, die verunsichert sind und befürchten, etwas zu verlieren. Die pauschale Etikettierung als „Covidioten“ ist unangemessen. Sie drängt alle Demonstrierenden in eine Ecke, verstärkt die Lagerbildung und erspart die inhaltliche Auseinandersetzung.

Die AfD ist der parlamentarische Arm der Anti-Corona-Bewegung. Ist diese Einschätzung korrekt oder falsch? Nützt das beiden oder schadet es?

Rucht: Die Effekte für die AfD sind ambivalent. Einerseits forderte die AfD anfangs eine härtere Gangart bei den Maßnahmen gegen Corona. Nun tut sie das Gegenteil, was ihrer Glaubwürdigkeit schadet. Andererseits bietet das rechtspopulistische Unterfutter der Bewegung der AfD neue Anknüpfungspunkte. Derzeit dürfte allerdings der interne Richtungsstreit in der AfD eine Bremswirkung entfalten. Vor diesem Hintergrund kann auch die Bewegung von der AfD nicht viel erwarten. Deren Beifall ist irrelevant, vielleicht sogar schädlich, zumal die AfD ohnehin schon auf dem Merkzettel des Verfassungsschutzes steht. 

Michael Ballweg, Erfinder und Organisator der Querdenker-Initiative, kandidierte im ersten Wahlgang zum Oberbürgermeister der Stadt Stuttgart und erreichte gerade mal 2,6 Prozent der Stimmen. Dabei gilt Stuttgart als ein Hotspot der Querdenker-Bewegung. Was bedeutet das?

Rucht: Das zeigt zum Ersten, dass die Querdenken-Gruppierung und die darüber hinausreichende Bewegung von medialer Seite überschätzt wurde und wird. Es zeigt zudem, dass das Wahlverhalten nicht von einem einzelnen Thema geprägt wird. Und es zeigt drittens, dass es für Außenseiter in aller Regel schwierig ist, in das politische Geschäft einzusteigen – zumal dann, wenn sie fehlendes Programm und mangelnde Erfahrung mit Worthülsen zu kompensieren suchen. 

In vielen Reden von Politikern und Medienberichten wird nahegelegt, die Anti-Corona-Bewegung sei von Rechtsextremen unterwandert oder sie sei inzwischen sogar rechts oder gar rechtsextrem ausgerichtet. Wie ist Ihre Analyse?

Rucht: Die Präsenz von Rechten und Rechtsradikalen ist evident. Über den Rest, vermutlich die Mehrheit der Demonstrierenden, wissen wir sehr wenig, abgesehen von der additiven Endlosschleife: Impfgegner, Esoteriker, Verschwörungserzähler, Bienenschützer, Schweden-Fans, Ossi-Patrioten, selbst ernannte Widerstandskämpfer …  .

Ein interdisziplinäres Forscherteam der Universität Konstanz um den Historiker Sven Reichardt hat die Querdenker-Bewegung untersucht. Erste Befunde: Es handle sich um eine sehr heterogene „Misstrauensgemeinschaft“, die eine „alternative Wissensgemeinschaft“ aufgebaut habe. Die Anhänger vertrauten dem Staat ebenso wenig wie den Eliten und den Medien. Und: Die Rechtsextremen seien in dieser Bewegung lediglich ein Randphänomen. Teilen Sie diese Befunde? Wo widersprechen Sie?

Rucht: „Misstrauensgemeinschaft“ scheint zu passen. Der Wissensstand der „alternativen Wissensgemeinschaft“ wäre noch zu prüfen. Quantitativ mögen – in Konstanz Anfang Oktober 2020 – die Rechtsextremen ein Randphänomen gewesen sein, wobei man auch in Rechnung stellen sollte, dass sich nicht alle so Denkenden in einer Umfrage outen. Wir brauchen weitere und tiefer gehende Untersuchungen.

Gehen Politik, Medien und Gesellschaft bisher klug mit diesen Kritikern um? Oder sollten sie noch radikaler ausgegrenzt werden? Oder im Gegenteil: mehr angehört und eingebunden werden?

Rucht: Ein Pauschalurteil fällt mir schwer. Auffällig ist, dass etliche Medienleute, nun direkt attackiert, ihre Rolle als Berichterstatter vergessen und den Gegenangriff starten. Im medialen und vor allem politischen Umgang plädiere ich allerdings für Professionalität und Differenzierung. Um es mit Michelle Obama zu sagen: “When they go low, we go high.“ Das schließt allerdings den Gebrauch von harten Bandagen im Umgang mit einem Teil der Bewegung nicht aus.

Es gibt Repräsentanten der Bewegung wie Michael Ballweg, es gibt Kritiker der herrschenden Pandemie-Politik wie den Arzt Sucharit Bhakdis, der in Querdenker-Kreisen als Guru gilt. Er war Facharzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie und einst Professor an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und von 1991 bis 2012 Leiter des dortigen Instituts für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene. Ich zitiere das, weil das belegt, es kann sich hier fachlich doch um keinen Geisterfahrer handeln. Nun die Idee: Wenn solche Leute ganz selbstverständlich in die großen Talkrunden bei Illner, Maischberger, Will oder wo auch immer eingeladen werden, wo man sich mit ihnen direkt auseinandersetzt — ist das für eine Demokratie mitten in einer Pandemie ein kommunikativer Gau oder ein Gewinn?

Rucht: Weder noch. Diese Leute sind Teil einer Realität des Irrsinns, der nicht verdrängt werden soll. Aber die große Bühne sollte doch die Ausnahme bleiben. Zweifellos steigt mit solch illustren Gästen der Unterhaltungs- und Empörungswert – und damit auch die Quote der Talkrunde. Also werden solche Einladungen auch künftig ausgesprochen.

Seit Sonntag (27. 12.)  wird geimpft, die Mitteilungen der forschenden Unternehmen sind erst einmal vielversprechend. Löst sich mit den Impfungen die Querdenker-Bewegung wie ein Gespenst in Luft auf?

Rucht: Die Bewegung könnte sich auflösen, aber die Beteiligten tun es nicht. Sie werden sich neue Anlässe suchen und neue Formationen ins Leben rufen.

Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

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