Poker zwischen Parlament und Elysee

Foto, 2018: Celette auf wikimedia commons

Das Bild, das die politisch Verantwortlichen im Palais Bourbon, dem Sitz der französischen Nationalversammlung, in diesen Sommertagen am Beginn der Olympischen Spiele abgeben, ist ein Trauerspiel. Von dem Schwung des „désistement“ (des Verzichts, der einen Sieg des Rassemblement National verhinderte), von dem sehr kurz ausgebrochenen Verständnis für ein demokratisches Miteinander, das die Wählerinnen und Wähler als Signal von unten nach oben gegeben haben, ist nichts mehr zu spüren. Dennoch häufen sich aus Gewerkschaften, Kunst, Wissenschaft und Politik die beschwörenden Appelle, aus der Kultur des désistement mehr zu machen. Nach dem eigentlichen Supersieger im zweiten Wahlgang, dem Monsieur D (ésistement) wird nun Monsieur C gesucht, der Monsieur Compromis, der Herr des Kompromisses. Wird es ein Warten auf den berühmten Herrn Godot, der niemals kam?

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Ewige Sehnsucht nach Eindeutigkeiten

„Folgt den Wissenschaften!“ lautet der Ruf, mit dem Greta Thunberg und die von ihr mitinitiierte Bewegung „Fridays for Future“ vor einigen Jahren die Öffentlichkeit aufgerüttelt haben. Die Fakten zur Klimaveränderung lägen auf dem Tisch. An ihnen ließe sich nicht rütteln. Es sei an der Politik, schlicht die Konsequenzen aus den Fakten zu ziehen, sie nicht zu zerreden und auf Zeit zu spielen, weil angesichts der Klimakrise möglicherweise harte und unangenehme Entscheidungen zu treffen sind. Schließlich: Anders als mit politischen Gegnern, Geschäftspartnern oder Gewerkschaften, wo man Konflikte mit Kompromissen aus dem Weg räumen kann, könne man mit der Physik nicht verhandeln. Dazu komme, so die Klima-Aktivisten, der Zeitfaktor. Für langwierige Verhandlungen fehle angesichts der fortgeschrittenen Erderwärmung schlicht die Zeit. Es müsse etwas geschehen, wenn man die Menschheitskatastrophe noch abwenden wolle, orientiert an den Fakten der Klimaforschung, radikal und jetzt.

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›Ich will, ich darf und mir kann keiner‹

Bild: geralt auf Pixabay

#1 Seit über einem Jahr stellt jeder Monat einen weltweiten Temperaturrekord auf; so war es auch im Juni. Ein Experte vom Copernicus-Klimawandeldienst wird hier mit den Worten zitiert, »das ist mehr als nur eine Seltsamkeit der Statistik«. Und es hat Folgen, eine eher drollige ist, dass die Tage länger werden. Das lässt sich aushalten, was man von Hitzewellen immer weniger sagen kann. Joachim Müller-Jung hat hier neue Studien dazu vorgestellt, was die Erhitzung für die Ernährungsbasis bedeutet – sie wird verheizt. Bei dem derzeit als realistisch geltenden »mittleren« Klimaszenario würde die globale Produktion der dreißig wichtigsten Agrarprodukte – gemessen am Jahr 2020 – bis 2050 um sechs Prozent weltweit sinken. Das hieße für rund 500 Millionen Menschen zusätzlich: bisher nicht gekannte Unsicherheiten in der Nahrungsversorgung.

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Ohne große Botschaften keine kleinen Schritte?

Es geht in dem neuen Buch Armin Nassehis nicht um Kleinigkeiten: Der Autor möchte klären, warum moderne Gesellschaften sich so schwertun, auf kollektive Herausforderungen – von Migrationsbewegungen und der COVID-Krise bis hin zum Klimawandel – zeit- und sachgerecht zu reagieren. Damit greift er ein in aktuellen politischen Debatten weit verbreitetes Unbehagen auf, versucht, es auf den Punkt zu bringen und seine strukturellen Ursachen zu erhellen. Es ist nicht das erste Mal, dass Nassehi sich mit diesem Thema beschäftigt; es stand bereits im Mittelpunkt seiner 2021 erschienenen Monografie „Unbehagen“.[1] Leser/innen, die sich tiefer in die Argumentation Nassehis einarbeiten möchten, sei zumindest ein Blick auch in dieses Buch empfohlen. Das neue Buch, “Kritik der großen Geste“, das auf einen wissenschaftlichen Apparat verzichtet, lässt sich wohl als Versuch verstehen, die Botschaft des Autors noch weiter auszuarbeiten und einem breiteren Publikum zu vermitteln.

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Gegen den blinden Glauben an Wirtschaftswachstum

Olivier De Schutter (Foto: Heinrich Böll Stiftung auf wikimedia commons)

Wirtschaftswachstum ist nicht die Lösung zur Beseitigung der weltweiten Armut, warnt Olivier De Schutter, der UN-Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte. De Schutter zufolge hat die traditionelle Strategie der Förderung des Wirtschaftswachstums zur Bekämpfung der Armut einen Planeten am Rande des Klimakollapses geschaffen, auf dem eine Elite Reichtum hortet, während Millionen in extremer Armut leben. In seinem Bericht an den UN-Menschenrechtsrat beschrieb De Schutter die Umweltzerstörung und die Ungleichheit, die durch die derzeitige Wirtschaftspolitik verursacht werden. Er forderte Regierungen und internationale Organisationen auf, das Bruttoinlandsprodukt nicht länger als Maßstab für den Fortschritt zu verwenden, sondern sich auf die Menschenrechte und das soziale Wohlergehen zu konzentrieren.

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Umwelt- und Sozialpolitik brauchen sich

Die Frage, wie Klimawandelfolgen und soziale Ungleichheiten zusammenhängen, wird inzwischen lauter gestellt. “So wurde beispielsweise am Ahrtal-Hochwasser deutlich, dass – wie in vielen anderen Fällen auch – die Folgen der Katastrophe nicht alle sozialen Gruppen in gleichem Maße trafen: 106 von 135 Todesopfern waren über 60 Jahre alt, und zwölf der Todesopfer waren in Pflegeheimen untergebracht. Allgemeiner gesprochen: Unterschiedliche Bevölkerungsgruppen leben unter unterschiedlichen Bedingungen, aufgrund derer sie durch Klimawandelfolgen verwundbar sind, und sie verfügen über unterschiedliche Voraussetzungen, um menschliches Leid sowie finanzielle Verluste zu vermeiden oder zumindest abzumildern. Beides wird im Begriff „soziale Vulnerabilität“ zusammengefasst”, schreiben Julia Teebken und Michael Schipperges in ihrer soeben erschienenen, 50-seitigen Studie “Soziale Frage Klimawandel“. Sie kann auf der Website der Friedrich Ebert Stiftung heruntergeladen werden.

Das “liberale Gewissen der Union” meldet sich zu Wort

Wir leben im permanenten Krisenmodus. Alte Gewissheiten verlieren ihre Gültigkeit, etwa die vom steten Wachstum, Frieden und Wohlstand. Krisen sind in der modernen Gesellschaft kein Ausnahmefall, sondern der Normalzustand. Die einzige verlässliche Erwartung an die Zukunft besteht darin, dass noch weitere Krisen auf uns zukommen: Krieg, Flucht, Klima. Kurzum: Wir leben in einer fragilen Wirklichkeit. Politiker und Parteien verlieren an Vertrauen, auch die tragenden politischen und parlamentarischen Institutionen. Wo Vertrauen aber fehlt, entsteht Enttäuschung, Rückzug, Ignoranz und Teilnahmslosigkeit. Kein guter Zustand, denn unsere Demokratie lebt auch von der Hoffnung, dass Dinge besser werden. Der Verlust von Zukunftsglauben ist ein Problem für die Demokratie. Höchste Zeit, sie zu verteidigen, meint Ruprecht Polenz. Sein Buch will ein Mutmacher sein.

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Söders Erziehungsdefizit oder Nachtreten verboten

Was muss ein Staatenlenker sein? Was muss er können? Was darf er nicht sein? Müssen Staatenlenker so weitsichtig sein wie die drei Bundesverkehrsminister Ramsauer, Dobrindt und Scheuer? So vergesslich wie der bayrische Ministerpräsident Söder, der die DDR- Erziehungsministerin Honecker mit der grünen Umweltministerin Lemke verwechselte, sie als „grüne Margot Honecker“ bezeichnete; muss er muskulös wie der Kanzler sein, struppig wie Boris Johnson, muss er nach kleinen Jungs gucken, wie nach unsicherer Erzählung ein Premier von der Insel, eher nach ganz, ganz jungen Frauen Ausschau halten wie ein ital… ach das lass ich jetzt.

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Wie kommst du mit diesen Absurditäten klar?

„Ich arbeite mit der Methode des radikalen Ernstnehmens.“ Sobald Jugendliche, und nicht nur Jugendliche, merken würden, dass sie ernst genommen werden, wachse ihre Bereitschaft zu einer konstruktiven Haltung, sagt Marina Weisband, Diplom-Psychologin und Beteiligungspädagogin. Sie leitet das Aula Projekt [https://www.aula.de/] zur Stärkung von Schüler:innenteilhabe. Ihr neues Buch heißt „Die neue Schule der Demokratie. Wilder denken, wirksam handeln“. Von 2011 bis 2012 war sie politische Geschäftsführerin der Piratenpartei. Im Gespräch mit Bao-My Nguyen in deren Podcast-Serie „Klassenarbeit“ fallen Sätze wie „wir alle leben heute besser als Könige im 19. Jahrhundert noch“ oder „wir können morgen einfach hingehen und anders leben als wir heute gelebt haben“.

Hey Scholz, ich brauch‘ mehr Geld

Zurückhaltend geschätzt, laufen 90 Prozent der Meldungen einer Nachrichtensendung darauf hinaus, dass jemand mehr Geld braucht: die Hochwasser-Opfer und die Katastrophenhilfe, Landwirte und Bundesländer, die Bahn und die Bildung, die Forschung und der Artenschutz, Rentner:innen und das Militär, Startups und Sportclubs. Um überhaupt irgendetwas machen zu können, zu sanieren, zu verbessern, zu erfinden, zu helfen, zu schützen, muss man mehr kaufen können. Probleme, so scheint es, haben eine finanzielle Lösung oder keine. Pekuniäre Penetration beherrscht den Alltag tiefgreifend und allgegenwärtig.

Es ist ein faszinierender Teufelskreis, in dem sich die moderne Gesellschaft immer schneller dreht. Um zu mehr Geld zu kommen, das wusste Adam Riese (1492-1559) lange vor Karl Marx, kommt es darauf an, mehr einzunehmen als auszugeben. Wie kommt man zu Einnahmen? Indem man möglichst keinen Handgriff und sich keinen Gedanken macht, ohne sich dafür bezahlen zu lassen: „Leistung muss sich lohnen“. Wofür fallen Ausgaben besonders niedrig aus? Für Kostenloses oder wenigstens Billiges, also nichts tun für Bestandserhaltung (der Natur, der Infrastruktur, der Gesundheit). Die Zauberformel, geringstmögliche Ausgaben, höchstmögliches Einkommen, ist allen bekannt. Wird sie zur allgemeingültigen Verhaltensmaxime einer Gesellschaft, stellt sich zuverlässig die Alternative ein, entweder verrotten und verelenden oder verteuern bis zur Unbezahlbarkeit.
Wenn es so weit ist, wird nach der Politik gerufen. Ein demokratischer Staat hat drei Möglichkeiten. Das ist die schwächste: Er kann Personen und Organisationen ermuntern und ermahnen, vernünftig zu sein. Die stärkste ist, Recht zu setzen, Gesetze und Verordnungen zu erlassen, aber dabei muss er vorsichtig sein, weil die Regierenden wiedergewählt werden wollen. Die inzwischen geläufigste Möglichkeit ist es, Geld zu verteilen, das dank Steuern oder Krediten verfügbar ist. Steuern allerdings sind für Personen und Organisationen Ausgaben (die, siehe oben, besser vermieden werden). Kredite hingegen gehen, solange der Schuldendienst mit welchen Tricks auch immer finanzierbar ist, denn sie sind Einnahmen für die Gläubiger. Es kommt somit eine dritte Alternative hinzu, verrotten, verteuern – und verschulden.

Das Wundermonopol, ein lukratives Geschäftsmodell

Bild: TheDigitalArtist auf Pixabay

Seit Jahrhunderten verfügt die katholische Kirche über eine Fachabteilung für Wunder. Es ist die Selig- und Heiligsprechungs-Kongregation des Papstes. Hier prüfen Mediziner, Naturwissenschaftler und Theologen, welche Menschen in den Heiligenstand befördert werden sollen. Die »Hall of Fame« der Kirche. Einlass erhalten Männer und Frauen, die Wunder bewirkt haben. Das sogenannte »Martyrologium Romanum«, das »Who is who« katholischen Spitzenpersonals, umfasst derzeit 6650 Selige und Heilige und mehr als 7400 Märtyrer. Weitere Aspiranten warten auf Aufnahme. Erstmals seit 1978 hat der Vatikan seine Richtlinien zur Beurteilung von Wundern aktualisiert. Künftig wird angeblich Übernatürliches in sechs Kategorien eingeteilt.

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Ganz ohne ‘Bauernkrieg’

Bild: Christianpackenius auf Pixabay

Ab 2030 müssen dänische Bauern für klimaschädliche Emissionen bezahlen. Von einer Expertenkommission vorgeschlagen sind bisher 300 Dänische Kronen (39 Franken oder 40 Euro) pro Tonne CO2-Äquivalent ab 2030. Bis 2035 soll die CO2-Abgabe auf 750 Kronen (97 Franken oder 100 Euro) pro Tonne steigen. Dabei geht es hauptsächlich um Emissionen wie Methan aus der Tierhaltung, aber auch um Lachgas und CO2. Die formelle Zustimmung des dänischen Parlaments im August gilt als sehr wahrscheinlich. Das Vorhaben schaffte es als «Beef Tax» schon Ende Mai in die großen US-Medien. Dänemark wäre das erste Land, das eine solche Steuer einführt und setzt damit einmal mehr Maßstäbe im Klimaschutz. Und in Konfliktbewältigung.

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Aufrüstung macht Reiche reicher und Arme zahlreicher

Die Linke stellt ihren Kandidaten Christoph Butterwegge (Mitte) für die Bundespräsidentenwahl 2017 vor. (Foto: © Uwe Steinert auf wikimedia commons)

Christoph Butterwegge, Politikwissenschaftler und einst Präsidentschaftskandidat der Linkspartei, hat aktuell zwei Bücher publiziert unter den Titeln „Deutschland im Krisenmodus“ sowie „Umverteilung des Reichtums“. Thomas Gesterkamp sprach mit ihm über die „sozialpolitische Zeitenwende“, vor der Butterwegge warnt. Das Interview wurde vor der Einigung der Ampelkoalition auf Eckpunkte des Bundeshaushalts 2025 geführt.

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Jetzt macht voran in Berlin

In der Münchner Tageszeitung Merkur war zu lesen: „Reparationsforderungen für Kriegsschäden in Billionen-Höhe haben das deutsch-polnische Verhältnis zerrüttet.“ Wahrscheinlich lassen sich weitere Behauptungen dieser Art im Feld der veröffentlichten Meinungen finden. Das ändert nichts daran, dass solche Behauptungen falsch sind. Das polnisch-deutsche Verhältnis ist zerrüttet und kaum belastbar, weil Hitler-Deutschland ab 1939 in Polen einen Vernichtungskrieg gegen Polen, gegen dessen zivile Ordnung und die zivile Bevölkerung, dabei gegen die polnischen Juden, das Militär, seine Funktionseliten, gegen alles geführt hat, was Polen ausmachte. Der Vernichtungskrieg begann nicht erst 1941 mit dem Angriffskrieg gegen die UdSSR, sondern eben 1939 wie der Historiker Jochen Böhler 2006 überzeugend nachgewiesen hat. Bogdan Musial und Hans-Jürgen Bömelburg hatten bereits 2000 auf diese Tatsache aufmerksam gemacht.
Fast ein Vierteljahrhundert ist das her. Und nun ist zu lesen, dass in intensiven Gesprächen herausgefunden werden soll, wie und ob einige Zehntausend Überlebende dieses Vernichtungskrieges eine Rente bekommen sollen und ob das dann Rente genannt werden darf. Über die Frage, ob es ein Mahnmal geben soll, das an diesen Vernichtungskrieg und die polnisch-deutsche Geschichte erinnert, wird seit fast zehn Jahren geredet und gestritten. In dieser Zeit wurde das Berliner Stadtschloss hochgezogen, in Potsdam die Garnisonskirche größtenteils fertig gewerkelt.  Und manches andere mehr. In der Zwischenzeit warnte man vor der  „Renationalisierung der Geschichtsbilder“ (Andreas Wirsching), aber auch davor, Opfern vorzugeben, wie Geschichte gewesen ist und wie die Opfer die zu sehen hätten (Dieter Bingen).

Das alles ist mehr als peinlich. Jetzt macht voran in Berlin! Mehr gibts nicht mehr dazu zu sagen.

Souveräne Gelassenheit? Führungsversagen!

Foto: Raimond Spekking auf wikimedia commons

Der Beitrag „Selbstüberschätzte Kritik, unterschätzte Kritiker“ von Thomas Weber regt zum Nachdenken, aber auch zum Widerspruch an. Man muss nicht den Alterspessimismus von Jürgen Habermas teilen (“vom Idealisten zum Fatalismus“), um die Lage und die Aussichten Deutschlands so einzuschätzen, dass es eines intensiven Ringens angesichts gefährlicher Entwicklungen bedarf. Für diese Debatte ist es nicht hilfreich, wenn Kritikern von Olaf Scholz Befindlichkeiten und Gefühlslagen, dem Kritisierten aber nur politische Vernunft und Rationalität seiner Entscheidungen unterstellt wird. Olaf Scholz wäre nachgerade ein Unmensch, wenn sich sein Handeln nicht auch durch Gefühle und Befindlichkeiten leiten oder beeinflussen ließe. Rationalität und Emotionalität liegen sicher auf beiden Seiten vor. Im Folgenden neun kritische Hinweise.

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