Die Parteienlandschaft von morgen – unbekanntes Land

Bild (bearbeitet): Angel Miklashevsky auf wikimedia commons

Veränderte gesellschaftliche Konfliktlinien schütteln das deutsche Parteiensystem durch: „Es befindet sich wie in anderen europäischen Ländern mitten in einer offenen Neuordnung. Also insofern alles ganz normal“, urteilt der Sozialwissenschaftler Horst Kahrs im Interview mit Wolfgang Storz. „Wir stehen vor einer Parteienlandschaft ohne klassische Mehrheiten für ein linkes oder ein rechtes Lager.“ Es werde wohl neue Lagerformierungen geben müssen. Die große Frage sei, „was ist ein Projekt der Zuversicht? Was also liegt hinter dem Horizont des ‚Weiter so!‘ und der gescheiterten ‚Fortschrittskoalition‘? Denn hinter dem Horizont, das wusste schon Udo Lindenberg, muss es ja irgendwie weitergehen, möglichst besser.“

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Warum tut Gabriel so etwas?

2016 in Teheran (Foto: Mohammad Hassanzadeh auf wikimedia ommons)

Sigmar Hartmut Gabriel, 1959 geboren, Kommunal- und Landespolitiker, Bundespolitiker, Vizekanzler, Parteivorsitzender, Außenpolitiker und Aufsichtsratsmitglied, Vorstandsvorsitzender könnte Vorzeige-Beispiel für sozialen und gesellschaftlichen Aufstieg in der sogenannten Boomer-Generation sein. Er könnte beispielhaft die Überzeugung belegen, dass die Verhältnisse der alten Bundesrepublik unglaubliche Chancen boten, aufzusteigen; also auf solchen Wegen, etwas altmodisch beschrieben virtus et honor, Ansehen, Beachtung, Autorität zu erwerben. Hat er aber nicht. Jedenfalls nicht in dem Maße, wie das zu erwarten gewesen wäre. Wie kommt das?

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Drastische Folgen für Medien und Kunst, Wissenschaft und Bildung, Polizei und Justiz

Foto:Die Linke auf wikimedia commons

Maximilian Steinbeis warnt in seinem Buch „Die verwundbare Demokratie“ vor einem Missbrauch der freiheitlichen Rechtsordnung durch populistische Parteien. Auch wenn sie sich in Opposition befinden, können Feinde der Demokratie die freiheitliche Rechtsordnung für ihre Zwecke missbrauchen, lautet die Kernthese des Autors. Der Jurist und Publizist betreibt schon seit 2009 den „Verfassungsblog”, auf dem wissenschaftliche Fragen im Grenzbereich von Politik und Recht diskutiert werden. 

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Streit, Sauerstoff der politischen Kultur

Zum Wesen der Demokratie gehört die politische Auseinandersetzung. Und zwar über jedes Thema. Leider erwecken viele den Eindruck, dass lebhafter, leidenschaftlicher politischer Streit vor allem eines ist: lästiger Lärm. Beispielsweise wenn es um »den Ampel-Streit« geht. Dann wird in der medialen Berichterstattung so getan, als ginge geradezu Ungeheuerliches vor sich. Dass die Parteien hier etwas aushandeln, dass verschiedene Interessen und Standpunkte gegeneinander abgewogen und »erstritten« werden, dass unterschiedliche Bedürfnisse berücksichtigt werden, dass positive und negative Effekte politischer Entscheidungen antizipiert werden, das ist eine Binse. Auch, dass politische Streiterei mitunter eigensinnig, kurzsichtig und eitel ist. Partei-Lautsprecher (freilich auch -Innen…) tun nun einmal alles, dass der mediale Dauerlärm nie verstummt und jeder Sturm im politischen Wasserglas zum bedrohlichen Tsunami hochgejazzt wird. Das gehört zum Grund-Sound der Polit-Arena, wie die Dauerbeschallung im Supermarkt.

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Kein ökologisches Desaster wäre ein Wunder

Fritz B. Simon hat in rund 300 Fachartikeln und über 30 Büchern viele gute Texte geschrieben, gut im Sinne von analytisch stark, vergleichsweise verständlich, mit souveräner Distanz bei empathischer Nähe zum Thema. Jetzt liegt mit „Die kommenden Diktaturen“ ein Meisterstück an Klugheit und Klarheit vor; ein kleines ist man versucht zu sagen, denn es sind nur 82 Seiten, doch Qualität ist keine Frage der Seitenzahl. Hier antwortet ein gebildeter Mensch mit praktischen Erfahrungen, politischem Verstand und einem weiten wissenschaftlichen Horizont auf die klassischen Fragen, was ist der Fall, was steckt dahinter und wie könnte es weiter gehen.

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Die letzten Mohikaner des Realen geben auf

Foto: Elke Wetzig auf wikimedia commons

Kant weist der Publizistik die Aufgabe zu, zwischen Politik und Moral zu vermitteln. Im laufenden Kant-Jahr scheint es einmal angebracht, darüber nachzudenken, wie gut die publizierte Öffentlichkeit dieser Aufgabe nachkommt. Natürlich gibt es die publizierte Öffentlichkeit nicht, denn wir genießen doch eine Vielfalt politischer Meinungen. Genießen wir? In der Debatte um Migration erlebt der Medienkonsument ein Meinungsmonopol, an dem sich vor allem Die Grünen bislang die Zähne ausbissen. Wer sich asylrechtlichen wie moralischen Standards verpflichtet fühlt, erfährt kaum publizistische Unterstützung. Der grüne Bundesvorstand scheint nun daraus zu folgern, es sei klug, sich diese Unterstützung zu erschleichen, indem man, wie die anderen Parteien auch, auf solche Standards pfeift.  

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Für eine glaubhafte, wirksame Alternative

Es ist ein Gemeinplatz, dass eine Multikrise herrscht, die sich durch unberechenbare Folgen des Klimawandels, notwendige sozial-ökologisch-ökonomische Transformation und das parallel gestiegene politische Aggressionspotential unter dem Druck von rechtspopulistischen Parteien in westlich-kapitalistischen Gesellschaften noch verschärfte. Vor Jahren, genauer: 2009, starteten die IG-Metall und ver.di die Buchreihe „Jahrbuch Gute Arbeit“, die mittlerweile eingestellt wurde. Jetzt erschien der Band „Gute Arbeit gegen Rechts“. Er beruht auf der Kooperation eines Teams um Hans-Jürgen Urban vom IG-Metall-Vorstand (mit Dirk Neumann, Klaus Pickshaus und Jürgen Reusch). Dieses Team bemüht sich um die Formulierung einer “Arbeitspolitik“, die gewerkschaftliche mit wissenschaftlicher Politik und betrieblicher Praxis zur „Stärkung der Demokratie“ verbindet, wie Christiane Benner, die Vorsitzende der IG-Metall, in ihrem Geleitwort schreibt.

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„Es ist zu spät für ein Verbot der AfD“

Brandmauer? „Schon das Sprachbild ist misslungen.“
(Foto: Ronny Ueckermann auf wikimedia commons)

Viel zu lange wurde die AfD nicht ernst genommen als eine politische Kraft, die systematisch und durchdacht eine Strategie betreibt, die Grundlagen der parlamentarischen Demokratie zu zerstören, sagt der Sozialforscher Horst Kahrs im Interview mit Wolfgang Storz. Das gewachsene faschistische Milieu lasse sich nicht einfach wieder klein kriegen, schon gar nicht mit einem Parteiverbot, argumentiert Kahrs, aber man könne es politisch kleiner machen. Dafür müssten die demokratischen Parteien aufhören, der AfD und deren Themen hinterherzulaufen, und stattdessen die sozialen und ökologischen Probleme entschieden, für jedermann erkennbar anpacken.

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„Simples Aufholen“ immer unwahrscheinlicher

Wächst wirklich zusammen, was zusammengehört, wie einst Altkanzler Willy Brandt nach dem Mauerfall hoffte? Der Soziologe Steffen Mau widerspricht, Ostdeutschland bleibe auf Dauer anders. Nach der Europawahl im Juni zeigte die Landkarte ein eindeutiges Bild: Nahezu vollständig blau eingefärbt war das Gebiet der ehemaligen DDR, Gewinner der Wahlkreise fast immer die AfD. CDU-dominiert mit vereinzelten grünen und roten Punkten in Groß- und Universitätsstädten präsentierte sich dagegen die alte Bundesrepublik. „Ungleich vereint“ lautet die Diagnose des an der Berliner Humboldt-Universität lehrenden Autors.

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„Finanzielle Verflechtungen zwischen Staat und Kirchen kappen“

Karikatur aus Bayern: Mönche und Nonnen treten im Zuge der deutschen Säkularisierung von 1802/03 ihr Eigentum an den bayerischen Kurfürsten ab (Bild, 1803: Unbekannt auf wikimedia commons)

Für Jahrhunderte zurückliegende Enteignungen erhalten die Kirchen noch immer Entschädigungen vom Staat in Millionenhöhe. Die Ampel-Regierung will das beenden – gegen den Widerstand der Länder und der CDU. Wenn man Menschen – ganz gleich, ob gläubig oder ungläubig – versucht, die sogenannten „Staatsleistungen“ an die Kirchen zu erklären, trifft man auf Kopfschütteln. Kaum jemand weiß davon. Es geht dabei nicht um staatliche Zahlungen, etwa für den Betrieb von Kindergärten, Krankenhäusern, Pflege- und Seniorenheimen, die ohnehin fast vollständig von öffentlichen Haushalten (also von allen Steuerzahlen) an Caritas oder Diakonie geleistet werden. Nein, die Kirchen bekommen das Geld als – salopp formuliert – „Ausgleichzahlungen“ aufgrund der Säkularisation Anfang des 19. Jahrhunderts.

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Rente: Eine gewisse Ratlosigkeit ist verständlich

Bild: wir_sind_klein auf Pixabay

In der Ampel wird über ein Programm zur Sicherung der Renten gestritten. Der Streit hat eine Wucht, dass er der Ampel eine Trennungssituation bescheren kann. Kann – nicht muss. Es geht um Leistungen für aktuell rund 21 Millionen (bis Mitte der dreißiger Jahre werden fünf Millionen hinzukommen) Rentnerinnen und Rentner. Wendet sich nur ein Teil dieser riesigen Zahl von CDU/CSU einerseits und von den Sozialdemokraten andererseits ab, brauchen die, salopp geschrieben, zur Bundestagswahl im September 2025 nicht mehr anzutreten. Was läuft also da gegenwärtig und woher kommt das?

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Pragmatische Kommunen, panische Debatten

Boris Kühn ist wissenschaftlicher Leiter des Projekts GENIUS in der Forschungsgruppe Migrationspolitik an der Universität Hildesheim. Gemeinsam mit dem Mediendienst Integration hat er knapp 800 Kommunen zum Stand der Flüchtlingsaufnahme befragt. Zu den Befunden gehört, dass der Anteil an Kommunen, die sich bei der Unterbringung von Migrant:innen überfordert sehen, „im Osten deutlich geringer ist als im Westen. Wir gehen davon aus, dass das im Wesentlichen auf einen entspannteren Wohnungsmarkt zurückzuführen ist.“ Im Interview mit Wolfgang Storz erläutert Kühn seine Forschungsergebnisse. Er sieht viel kommunalpolitische Pragmatik, wenig von der massenmedialen Panik.

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Klimapolitische Leitgedanken

Im November 2022 veröffentlichten das Bundeskanzleramt und das Bundesministerium der JustizEmpfehlungen zur Stärkung der Verbindlichkeit der Nachhaltigkeitsziele bei der Erstellung von Gesetzen und Verordnungen“. Darin werden alle Ressorts aufgefordert, „die globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) und Ziele sowie Prinzipien der Deutschen Nachhaltigkeitsstra-
tegie (DNS) von Beginn an bei allen Prozessschritten der Konzeption und Ausarbeitung von Gesetzen und Verordnungen einzubeziehen“. Vor diesem Hintergrund und zugleich darüber hinaus weisend sind die folgenden „Sechs klimapolitischen Leitgedanken“ zu sehen und zu verstehen.

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Ein unbeliebter Staatspräsident und eine Regierung auf tönernen Füßen

Michel Barnier (Foto: J.M Executive auf wikimedia)

Seit zwei Monaten geistert in unserem Nachbarland Frankreich ein Wort durch die Politik, die Medien, die gesamte Gesellschaft: „inédit/inédite“ heißt es und meint „etwas ganz und gar Neues“. Noch nie hat es in der V. Republik seit 1958 einen derartigen Stillstand in der Politik gegeben: Wochenlang blieb die Regierung des Gabriel Attal nur „geschäftsführend“ im Amt. Der Haushalt für das kommende Jahr wird der neu gewählten Nationalversammlung im Palais Bourbon nicht zum 1. Oktober vorgelegt werden, wie es die Verfassung vorschreibt, sondern eine Woche später. Einen Premierminister ernannte Staatspräsident Emmanuel Macron nach wochenlangem Zögern und einem demütigenden Schaulaufen mehrerer Kandidatinnen und Kandidaten schließlich am 5. September: Seine Wahl fiel auf den 73jährigen Michel Barnier, der noch vor drei Jahren mit markigen rechten Sprüchen selbst Staatspräsident werden wollte.

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Entscheidbare Fragen sind trivial, unentscheidbare machen frei

Intellegere – entscheidende Intelligenz
links: Fons, zeichnet einen Kreis mit geschlossenen Augen |
rechts: KI, zeichnet einen Kreis mit geschlossenen Augen (Bild: © Fons Hickmann)

Es fällt auf, dass es zum Substantiv Intelligenz in unserem Sprachgebrauch kein Verb gibt. Zweifellos ist damit eine Fähigkeit gemeint, die zunächst keine Hinweise auf die Intelligenz erzeugenden Handlungen gibt. Bei der Suche nach einem geeigneten Tätigkeitswort, das intelligentes Handeln kennzeichnen könnte, stoße ich auf eine ursprüngliche Bedeutung in der Philosophie der römischen Klassik: „Das Verb »intellegere« (inter-legere) bezeichnete die konkrete Handlung des Aussortierens.“ (Pastore 2010: 1120) Um etwas auszusortieren, braucht es zunächst Unterscheidungsvermögen, um die Zahl der Optionen zu vergrößern. Viele Auswahloptionen lassen auf einen kreativen Prozess der Kriterienfindung schließen und umgekehrt. Im anschließenden Entscheidungsprozess entscheiden wir uns dann zwar »für« eine Option, „aber sowohl im englischen »decision«, ebenso im Spanischen, Italienischen und Französischen, als auch im deutschen Wort Entscheidung liegt der Akzent hingegen auf Scheidung und Trennung“ (Arlt, Schulz 2019: VIII) und damit auf dem Aussortieren.

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bruchstücke