Dieses Land ist nicht in Ordnung. Jetzt brach vor geschlagenen zwölf Monaten die Pandemie aus und mein 93jähriger Vater (Risikogruppe hoch zehn) ist immer noch nicht geimpft. Was soll das denn? Welcher Konsument wird da nicht ungeduldig. Zurecht.
Die Konsumenten, sie steigen massenweise in Skilifte, fliegen in Risikogebiete, böllern zum Jahreswechsel, überprüfen jede Schutzvorschrift, wie sie sich am besten umgehen lässt – und sind politikverdrossen. Neurologin Frauke Zipp, Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, sagt in der „Welt“, was ist, und spricht über das „grobe Versagen der Verantwortlichen“. Warum nicht schon im Sommer mehr Impfstoff auf Risiko bestellt worden sei.
Ja, gut. Allerdings wusste damals nicht einmal Frau Zipp, ob es Ende des Jahres überhaupt einen wirksamen Impfstoff geben würde, und wenn ja, von welcher Firma. Dass die Hersteller — Sanofi und AstraZeneca —, auf welche die EU umsichtig auch gesetzt hatte, später liefern, als versprochen, und dann auch später als Biontech, das wusste bis vor ein, zwei Monaten niemand; es hätte auch alles anders kommen können.
Das Magazin Spiegel wirft den Biotech-Chef Uğur Şahin als Kritiker ins Rennen — die Politik habe bei Biontech zu wenig bestellt und zu sehr auf andere Unternehmen gesetzt —, als sei Şahin unabhängiger Sachverständiger und nicht interessengebundener Unternehmer, dem es um Marktanteile und Kohle geht; in 2019 startete seine Aktie bei gerade einmal 25 Euro, ging auf 109, liegt jetzt bei gut 70 Euro, einschließlich verschiedenster lukrativer Übernahmespekulationen. Und um hohe Marktanteile zu erreichen und viel Kohle zu machen, haben alle forschenden Unternehmen seit diesem Sommer ihren Mund ziemlich voll genommen.
Volker Wissing, FDP-Generalsekretär, schlägt mit dem Beispiel Israel zu! Israel, die impfen ihre knapp neun Millionen Einwohner ohne schuldhafte Verzögerung. Wie das Land minütlich zum Corona-Impf-Weltmeister werde, titelt t-online. Während wir hierzulande uns mühsam in Richtung verschlossenes Impfzelt schleppen. An Israel solle sich Deutschland messen, stichelt Wissing. Für die sparerprobten Marktradikalen unter uns bleibt nur der kleine Trost: Pro Dosis zahlt Israel laut FAZ 23 Euro, die EU die Hälfte.
Kordula Schulz-Asche macht für ihre Bundestagsfraktion noch den tollen grünen Vorschlag: Es gebe doch über 100 Entwickler. Warum die Politik nicht bei allen diesen Unternehmen auf Risiko bestellt habe. Richtig, gute Idee, vermutlich am besten bei jedem Unternehmen 160 Millionen Dosen für uns 80 Millionen; muss doch zwei Mal geimpft werden. Und wenn es 100 Unternehmen gibt, dann sind das…
Schon vergessen: Wir hatten doch verabredet, es werde EU-weit bestellt, um jeglichen Impf-Nationalismus zu vermeiden. Da geht manches eben etwas länger als im kleinen kriegs- und krisenerprobten Israel mit einem Ministerpräsidenten, der sich vor laufender Kamera als Erster impfen ließ.
Aber, wir sollten nicht darum herumreden: Nimmt die Politik in dieser Konsumgesellschaft (mehr, besser, billiger, sofort) mal was in die Hand, klappt nichts. Bestelle ich bei Amazon „qualifizierte Artikel“, wann wird geliefert? Natürlich Same-Day — morgens bestellt, abends geliefert. Hat Jens Spahn keine Kontakte Jeff Bezos?
„Wissen macht Ah!“
Dirk Kurbjuweit, Starschreiber und Staranalytiker des Spiegel, hält sich bei Spahn nicht auf, ihn interessiert die „Tragik der Kanzlerin“. Seine These: Die Kanzlerin kriege es nicht mehr auf die Reihe, tanzten ihr doch die Ministerpräsidenten auf der Nase herum. Von seinem naiv-illusionären Kindergarten-Standpunkt hat Kurbjuweit natürlich recht: „Merkel ist das Zentrum der Politik“ und wenn nicht alle nach ihrer Pfeife tanzen, hat sie versagt. Föderalismus, Gewaltenteilung, alles Schnickschnack.
Trotzdem, hat Kurbjuweit nicht doch recht? Er hat unter „Wissen macht Ah“ recherchiert und in seinen doppelseitigen Leitartikel mit roten Großbuchstaben die eigentliche Tragik der Kanzlerin prominent in den Text eingeklinkt: „Sie wirkte nervös, atmete schwer, hatte einen Frosch im Hals oder sprach mit flatternder Stimme.“ Können wir für unser Steuergeld mitten in einer Pandemie nicht wenigstens verlangen: bitte einmal Impfstoff mit Impftermin sofort und einmal Merkel ohne Frosch.
Wolfgang Storz muss kurz davor gewesen sein, vor Zorn zu explodieren. Er scheint sich sehr darüber geärgert zu haben, dass Teile der Gesellschaft ihre Verantwortung und ihre Grenzen nicht kennen. Umgangssprachlich: sie haben sich auf unterschiedliche Weise ausgetobt.
Nun hat der Ausdruck „Sich austoben“ eine Reihe von Bedeutungen. Nach „Woxikon“, einem Lexikon für Synonyme (www.synonyme.woxikon.de), zählen dazu die Bedeutungen: „sich amüsieren“, „fröhlich sein“, „Dampf ablassen“, und eben „sich austoben“.
Einige der von Storz genannten Personen haben ebendies getan: sich in ihren Verantwortungsbezirken ausgetobt (=„Grenzen überschreiten“).
Eine Oppositionspolitikerin mit dem Verantwortungsbezirk „Öffentlichkeit“ tut dies, indem sie auf das (scheinbar) kurze Gedächtnis der Wähler*innen und ihre (vermeintlichen) Reflexe setzt („sich ausleben“). Eine seriöse Kritik hingegen muss die Tatsache respektieren, dass jede Regierung auf der Grundlage von unvollständigen Informationen Entscheidungen treffen musste.
Der meisterliche Spiegel-Redakteur missbraucht seine Deutungsmacht. Er macht aus dem Ernst der Lage Politik ( „sich nichts versagen“). Die dem Föderalismus eigenen Koordinierungsschwierigkeiten werden wagnerianisierend umgedeutet („Götterdämmerung“).
Auch Teile der Bevölkerung tobten sich aus: am Wochenende in winterlichen Mittelgebirgen. Sie ignorierten die Bitten von Gemeinden und Polizei („Grenzen überschreiten“), „waren fröhlich“ (aber nicht so sehr auf den Bundesstraßen) und ließen Dampf ab (beim Streit um einen Parkplatz).
Bei der Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Gesundheitsämtern in der Corona-Pandemie kann von Übereifer allerdings nicht die Rede sein. So war in einer großen Tageszeitung am Wochenende zu lesen, dass der Staat mit seinem Vorhaben gescheitert ist, die rund 400 Gesundheitsämter in Deutschland ausreichend für den Kampf gegen die Corona-Pandemie auszurüsten. Bis zum 31. Dezember sollten 90 Prozent der Gesundheitsämter miteinander vernetzt sein, um die Kontakte von Corona-Infizierten leichter nachverfolgen zu können und die Entstehung von Hotspots zu verhindern.