Covid19 / 2020: Willkommen im täglichen Verfremdungseffekt!
Zwischen Grenzwerten und Grenzverschiebungen, spannungslosen Überreizungen und pandemisch verwaschenen Stunden, Spaziergangsmonotonie und sprunghaft numerischen Tagen, zwischen Warnschwellen und Warnwellen, Bildschirmen und Spiegelbildern!
Stell dir vor, du steckst mitten in deinem (Kunst)Studium. Das Studium gefällt dir, es macht durchaus Spaß. Dann kommt es zu einer globalen Epidemie und – zack! – ist es vorbei. Natürlich nicht komplett, aber irgendwie schon.
Stell dir vor, du studierst also und begibst dich für ein Jahr ins Digitale. Deine Kurse? Digital. Dein Job? Digital. Deine Kontakte? Digital.
Du verbringst plötzlich unfreiwillig und überproportional viel Zeit zuhause, meistens allein. Der alltägliche Spaziergang – 10.000 Schritte! – wird zum Highlight des Tages. Du bist privilegiert, jung und tendenziell ungefährdet. Systemrelevant? Mitnichten. In der Zukunft, vielleicht, irgendwann mal ja. Jetzt jedenfalls nicht.
Stell dir vor, du haderst mit dir und deinen Überforderungsgefühlen. Fragst dich, ob diese Gedanken überhaupt gerechtfertigt sind? Immerhin hast du keine Kinder zuhause, kein Homeschooling. Bist nicht Risikopatient:in, hast nicht soeben deine Existenzgrundlage verloren. Und lebst wahrscheinlich auch nicht mit deiner Familie auf möglicherweise engem Raum. Also eigentlich alles ziemlich stabil für eine Pandemie. Wäre da nicht diese bleierne, einsame Monotonie, die sich löschschaumartig über deine positive Gemütspalette gelegt hat.
Was macht dieses eine Jahr mit dir? Wie wirkt es sich auf deinen Alltag aus? Wie gehst du damit um, es eigentlich gut zu haben, wenn es dir tatsächlich schlecht geht?
GEM/EINSAM, das ist ein filmischer Versuch, sich dieser Thematik zu widmen. Und ein Versuch, den verschobenen Pandemie-Alltag einzufangen.
Das studentische Filmprojekt zeigt eine subjektive Momentaufnahme der vergangenen zwölf Monate. Subjektiv, weil der Film aus ebendieser studentischen Perspektive erzählt. Aber auch, weil er auf autobiografische Art Alltagsschnipsel – mal mehr, mal weniger verfremdet – zeigt.
GEM/EINSAM handelt von der beunruhigenden Stille, die aus den isolierten Wänden kriecht. Von der beklemmenden Monotonie, die uns seit Pandemie-Beginn begleitet.
Der Film thematisiert die Einsamkeit, die sich neben dem häuslich-digitalisierten Alltag in uns ausgebreitet hat. Spricht von der Essenz unserer Wochentage. Der Essenz, die uns geblieben ist, nachdem Veranstaltungen, Kultur und Gastronomie wegkondensiert wurden. Er behandelt die mulmige Melancholie, die sich festsetzt, nachdem feste Wege, Routinen und Kolleg:innen plötzlich aus dem Alltag gestrichen wurden. Nachdem sich plötzlich deutlich manifestiert hat, wie wichtig unsere Mitmenschen eigentlich sind. Und wie schlecht sich ihr Wesen im digitalen Raum wiedergeben lässt.
GEM/EINSAM fragt, was bleibt, wenn sich Tage nur noch an Inzidenzwerten messen. Wenn der R-Wert zu einem Richtwert, wenn banale Alltagshandlungen zu gewagten virulenten Abenteuern werden. Wenn das Krisennarrativ sich in den Köpfen festsetzt. Wenn kaum mehr Raum für befreite Sorglosigkeit bleibt.
Und schließlich wirft der Film die Frage auf, wie viel Krise wir überhaupt aufnehmen können. Wie viel Krisennarrativ ein Mensch tagtäglich ertragen kann. Und wie viele Krisenmeldungen sich verarbeiten lassen. Unsere Antwort als Filmemacherinnen ist dabei sehr klar: Viel Krise führt irgendwann zu viel ermatteter Gleichgültigkeit. Und das führt uns wieder, bei schlechtem Krisenmanagement, in die nächste Krise.
Nicht wenige, die sich den Film anschauen, kritisieren zwei Punkte:
1. „Das hat viel Schönes. Leider aber auch sehr viel Toilettepapier.“
2. „Alles handwerklich einerseits nicht schlecht –
andererseits … man kann auf der Tonspur nicht pausenlos permanent Druck machen.“
Auf mich wirkt es anders, ich sehe in beiden Hinsichten gerade Stärken des Kurzfilms, weil er hier die Medienrealität der Pandemie so vor Augen führt, dass es einen Nerv trifft, mithin nervt.
Ad 1. Die Überlast an Klopapier greift die Absurdität auf, dass die öffentliche Kommunikation (nicht nur in ihren boulevardesken Varianten) in der Frühphase der Coronakrise leere Toilettenpapier-Regale zum zentralen Problem einer globalen Pandemie gemacht hat – weil sich dafür kostengünstig, ohne nennenswerte Recherche (ein ausgeräumtes Supermarkt-Regal lässt sich überall abfilmen) Quoten und Klicks generieren ließen.
Es bedarf nur eines Blicks auf die Informations-Plattformen im Netz, um die Logik und die Praktiken solcher Art von Aufmerksamkeitsökonomie wahrzunehmen. Am liebsten präsentiert sie ihre Realitäten unter Dachzeilen wie „Die ganze Wahrheit über“ und „Wie es wirklich war“.
Wer es seriöser haben möchte, mag sich an den massenmedialen Umgang mit Umfragewerten in der politischen Kommunikation erinnern: Wie Augenblicks-Aufnahmen hochgeschrieben und hochgesendet werden, um sich später, wenn sie sich als das erweisen, was sie immer schon waren, darüber aufzuregen, dass auf Umfragen auch keine Verlass mehr sei.
[Natürlich tut man dem Journalismus unrecht, wenn er auf seine Massenware reduziert wird. Wer sie sucht und sich nicht von der jeweils aktuellen Sau ablenken lässt, die durch die Schlagzeilen getrieben wird, findet kluge, nachdenkliche, analysestarke Beiträge.]
Ad 2. Der stündliche Zahlensalat der Pandemiestatistiken verdankt sich der Aufmerksamkeitsgarantie, die Zahlen prinzipiell zukommt – wie man es zum Beispiel an der laufenden Sportberichterstattung erleben kann. Niklas Luhmann hat den Corona-Journalismus nicht mehr erlebt, aber er beschreibt ihn in dieser Hinsicht präzise: „Ein besonders wirksamer Aufmerksamkeitsfänger sind Quantitäten. Quantitäten sind immer informativ, weil eine bestimmte Zahl keine andere ist als die genannte – weder eine größere noch eine kleinere. Und das gilt unabhängig davon, ob man den Sachkontext versteht (also weiß oder nicht weiß, was ein Bruttosozialprodukt oder ein Tabellenzweiter ist.) Der Informationswert kann im Medium der Quantität gesteigert werden, wenn man die Vergleichszahlen hinzufügt – seien es zeitliche (Inflationsrate des vorigen Jahres), seien es sachliche, zum Beispiel territoriale. Über Quantifikationen können also substanzlose Aha-Effekte und zugleich mehr Informationen für die erzeugt werden, die sich auskennen.“ (Die Realität der Massenmedien, S. 59f)
Genau diese substanzlosen Aha-Effekte werden auf der Tonspur des Films (deren Klangqualität tatsächlich besser könnte) wunderbar herausgestellt.