Während ich diesen Text zu schreiben beginne, bezahlt an einer Supermarktkasse irgendwo in Berlin eine alleinstehende Rentnerin ihre Einkäufe. Auf ihrem Nachhauseweg wird sie gelegentlich kleine Pausen einlegen. Asthma macht ihr zu schaffen. Es ist nicht die einzige Krankheit, an der die Achtzigjährige leidet. Diabetes hatte zur Verkalkung ihrer Herzgefäße geführt, weswegen eine zweite Herz-OP vor einigen Monaten unausweichlich geworden war. Den Eingriff hatte sie besser überstanden, als die Ärzte es vorhergesagt hatten. Sie fragen sich, was all das mit dem Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei, das sein 60-jähriges Bestehen feiert, zu tun hat? Sehr viel.
Denn in diesen wenigen Zeilen finden sich Hinweise auf die Geschichte der Einwanderung, in deren Erzählung in Deutschland die Perspektive der Einwanderinnen und Einwanderer noch immer nicht ausreichend berücksichtigt wird, nicht ihre Alltagsstrategien, nicht ihre kulturellen Praxen, nicht ihre Kämpfe. Wenn das Anwerbeabkommen gefeiert wird, dann als eine Party des gesellschaftlichen und politischen Establishments, zu der inzwischen konformistische Institutionen der Migrantencommunities und Erfolgsmigranten aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gehören. Vielleicht klingt das zu abstrakt und zu wenig greifbar, weswegen ich ein konkretes Beispiel bemühen möchte. Ich schreibe über dieses Jubiläum in diesem Dossier, meine Mutter aber, die 1968 nach Deutschland kam, hat diese Möglichkeit nicht. Ich bin im Oktober zu zahlreichen Veranstaltungen anlässlich der Feierlichkeiten des Anwerbeabkommens eingeladen, meine Mutter ist es nicht. Mir ist bewusst, dass ich, indem ich solchen Einladungen Folge leiste, mich innerhalb des Kosmos von konventioneller Erzählung und Perspektiven auf Einwanderung bewege.
Nun werden Sie einwenden, dass man beim Jubiläum des Anwerbeabkommens selbstverständlich Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern1 eine Bühne bereiten werde und sie dort zu Wort kommen. Das wird zweifelsfrei so sein. Allerdings bezweifle ich, ob dies über das Symbolische hinausgehen wird. Wir werden sehen, ob ihnen auf diesen Bühnen des Mainstreams mehr als die Rolle des biografischen Stichwortgebens zugewiesen sein wird2. Hier werden ihre Perspektiven und Erzählungen eingebettet in ein bekanntes Narrativ, dass bis heute noch immer vom Dispositiv nationalstaatlicher bzw. europäischer Regulation von Einwanderung handelt. Es ist erstaunlich, wie schwer sich Deutschland noch immer damit tut, dass Digitalisierung und Globalisierung Einwanderung und Migration, wenn nicht vom Kopf auf die Füße stellen, dann doch fundamental verändern.
Steck die D-Mark ein und kehr zurück
Im Narrativ der Regulation von Einwanderung spielen die Anwerbeabkommen aus den 1960er Jahren eine zentrale Rolle. Sie gelten gemeinhin als ein Paradebeispiel für die staatliche Steuerung von Einwanderung. Davon finden sich viele in der jüngeren deutschen Geschichte. Anfang der 1980er Jahre trat das „Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern“ in Kraft. Was gefördert werden sollte? Der „Wegzug von arbeitslosen Ausländern“, eine Last, die die damalige Bundesregierung mit der Zahlung einer so genannten Rückkehrhilfe loswerden wollte. Steck die D-Mark ein und kehr zurück, so lässt sich dieses Vorhaben am Ende in einem einzigen Satz zusammenfassen. In zwanzig Jahren waren aus Gastarbeitern Ausländer geworden, die später zu ausländischen Mitbürgern aufstiegen, dann Immigranten, Migranten, Menschen mit Migrationshintergrund bzw. Einwanderungsgeschichte oder neue Deutsche wurden. Wie auch immer die Bezeichnung dieser Gruppe lautet, wie ein roter Faden zieht sich die Vorstellung von staatlich gesteuerter Einwanderungspolitik durch, die je nach Bedarf Menschen ins Land lockt und zurückweist, mal mit Rückkehrprämien, mal mit Abschiebungen und Ausweisungen.
Menschen setzen sich in Bewegung, verlassen ihr Zuhause, bauen in einem anderen Land eine Existenz auf, lieben und kämpfen, erfinden sich und ihr Umfeld neu, schaffen sich Zugänge zu ökonomischen und gesellschaftlichen Ressourcen, verändern Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Das war nie anders, auch nicht bei Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern, die nach dem Zweiten Weltkrieg die erste Generation der Einwanderinnen und Einwanderer bilden. Dass Max Frisch in seiner sehr berühmten Aussage „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen an“ naiv und apolitisch all das übersieht, ist das eine. Wie dieses Zitat immer und immer wieder, oftmals unreflektiert und kritiklos, bemüht wird, ist das andere. Frisch ruft ein „Wir“ an, dass in Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern ein „sie“ imaginiert. Der Schriftsteller macht sich mit staatlicher Politik („Wir riefen Arbeitskräfte“) gemein und bemüht die Klaviatur des humanistisches ABC („und es kamen Menschen an“). Mal ganz abgesehen davon, dass die Gegenüberstellung von „Arbeitskräfte“ und „Menschen“ eine merkwürdige ist, frage ich mich, wie sich bis heute die Vorstellung hält, dass die damaligen Bundesregierungen generalstabsmäßig den Bedarf nach Arbeitskräften orchestriert hätten. Die Geschichte der Einwanderung und die Geschichte der Anwerbeabkommen aus den 1960er Jahren ist komplexer als man vermutet. So ging die Initiative für das erste bilaterale Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und Italien von Rom aus3.
Rassismus und Hass in Almanya
Erst der selbstkritischere und differenziertere Blick, die Hinterfragung offizieller Geschichtsschreibungen, worin die Anwerbeabkommen mit Italien (1955), Spanien (1960), Griechenland (1960), Türkei (1961), Marokko (1963), Südkorea (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) sowie Jugoslawien (1968) als zentrale Kapitel positioniert sind, der Wechsel der Perspektive, der darin besteht, die sozialen und politischen Kämpfe sowie die Alltagsstrategien der Migrantinnen und Migranten zum Ausgangspunkt zu machen und sie als zentrale Akteure in der Migrationsgesellschaft zu verstehen, setzt neue Dynamiken für die Einwanderungsgesellschaft frei. Die Autonomie der Migration4 wird auch in Zukunft die Konzepte gesteuerter Einwanderung und die Sicherung von Grenzen weiterhin vor große Herausforderungen stellen. Wenn künftig Menschen in Afrika oder auf einem anderen Kontinent den Folgen der Klimaerwärmung entkommen wollen, werden sie vorher nicht Programme deutscher Parteien zum Klimaschutz studieren. Sie werden sich auf den Weg machen. Im Übrigen werden es auch dann nur die wenigsten nach Deutschland schaffen.
Es bedarf keiner hellseherischen Gabe, vorauszusehen, dass 60 Jahre Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland zum Anlass für eine Erfolgsbilanz wird. Für mich zeigt sich der Grad, wie sehr Deutschland ein Einwanderungsland ist, darin, wie differenziert und selbstkritisch eben dieses Land mit der Geschichte der Einwanderung umgeht. Dazu gehört für mich, auch in einem solchen Jubiläumskontext über Gastarbeiterkrankheiten zu sprechen, die überproportional häufig bei unseren Eltern diagnostiziert werden.
Schon in den 1970er Jahren sprachen Medizinerinnen und Mediziner beispielsweise von „Gastarbeiterulkus“, weil aufgrund chronisch psychischer Belastung bei Einwanderinnen und Einwandern aus den Anwerbestaaten unverhältnismäßig häufig Geschwüre in Magen und Zwölffingerfarm auftraten.5 Im Bericht der Gesundheitsberichterstattung des Bundes finden sich viele Hinweise, dass die schweren Arbeits- und Lebensbedingungen der ersten Generation auch heute negative Auswirkungen auf deren Gesundheit haben. „So kann von hohen (psychischen) Belastungen durch migrationsbedingte sozioökonomische Unsicherheiten, wie unsicherer Aufenthaltsstatus, ungünstige Arbeitsbedingungen oder Arbeitslosigkeit, geringere finanzielle Ressourcen und Trennung von Familienangehörigen ausgegangen werden. Dadurch ist bei Menschen mit Migrationshintergrund mit einem erhöhten Krankheitsrisiko im Alter zu rechnen.“6
Unerlässlich ist zudem die Erinnerung an rassistische Übergriffe und Morde wach zu halten, nicht nur an jene aus dem letzten Jahrhundert, sondern auch an den NSU Komplex, Halle und Hanau. Aber das Erinnern reicht nicht. Der Kampf gegen Rassismus und Hass muss in Almanya als gesamtgesellschaftliche Aufgabe leidenschaftlicher und energischer geführt werden.
Bereicherung, Viktimisierung, Bedrohung – nein
60 Jahre Anwerbeabkommen – das ist vor allem eine Gelegenheit für die Sichtbarmachung der Lebensleistungen von Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Hier gilt es, einem gesellschaftlichen Versäumnis nachzukommen und der ersten Generation von Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern mehr Respekt zu zollen. Egal, ob in der Politik, Wirtschaft oder Kultur, alles, was heute als Erfolg von Migrantinnen und Migranten der zweiten oder dritten Generation gefeiert wird, hat seinen Ursprung in dieser Generation. Ohne sie wären wir nicht die, die wir heute sind.
Auch wenn es nicht so kommen wird, das Jubiläum des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei wäre ein guter Anlass, einen öffentlichen Diskurs darüber zu führen, wie der Blick auf Menschen mit Einwanderungsgeschichte vom toxischen Dreieck der Bereicherung, Viktimisierung und Bedrohung befreit werden kann.
Es ist nicht die Aufgabe von Menschen mit Einwanderungsgeschichte Almanya zu bereichern, weder ökonomisch noch kulturell. Es ist nicht hinnehmbar, sie zum Opfer zu machen oder als solche zu stigmatisieren, wie es noch immer viel zu häufig geschieht. Es ist populistisch und rassistisch, Einwanderung als eine Gefahr für die Homogenität und die Wahrung „unserer Werte“ zu instrumentalisieren und bei Straftaten von Geflüchteten oder Migranten statt rechtstaatlicher Verfahren reflexartig Abschiebungen zu fordern. Jenseits dieses Dreiecks erwartet uns eine soziale Realität, in der Einwanderung nicht als temporärer Zustand und Minderheitenthema, sondern gesellschaftliche Normalität gilt – mit all ihren Herausforderungen und Chancen. Dies ist insofern essenziell, als Deutschland immer stärker von Einwanderungen und deren Folgen konturiert sein wird.
Während ich diesen Text beende, ist die alleinstehende Rentnerin wieder Zuhause. Sie steht am Fenster und blickt auf das Treiben der Straße. Sie ist einsam und vermisst ihren Mann. Er war einige Wochen nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus nach ihrer Herz-OP gestorben. Durch einen Schlaganfall war er zu einem Pflegefall geworden und über zehn Jahre ans Bett gefesselt. Ihr Ehemann wurde in Berlin beerdigt. Immer häufiger finden Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter der ersten Generation ihre letzte Ruhe in Almanya. Selbst wenn sie in der Türkei sterben, werden ihre Leichname zuweilen nach Deutschland gebracht. Daran, dass wir unsere Eltern und Großeltern in diesem Land beerdigen, können wir ablesen, welche Dimension Einwanderung in Deutschland angenommen hat. Ihre soziale Realität wird unsere Gesellschaft künftig noch stärker prägen, als sie es heute schon tut. Auch deswegen sollte ich die Geschichte der Rentnerin aufschreiben, die in den 1960er Jahren in dieses Land kam und noch immer am Fenster steht. Es gibt unzählige Geschichten wie die ihre. Und diese Geschichten verdienen es erzählt, geschrieben und gehört zu werden.
Der Beitrag erschien erstmals in dem Dossier „60 Jahre zuhause in Almanya – Künstlerische Perspektiven auf 60 Jahre Anwerbeabkommen Deutschland-Türkei“ auf dem migrationspolitischen Portal Heimatkunde der Heinrich-Böll-Stiftung.
1 Mir sind die diskriminierenden und problematischen Dimensionen dieses Begriffs bekannt. Ich benutze Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter aber dennoch, um diesen anders zu framen. Vgl. Songs of Gastarbeiter, Vol 1, Trikont
2 Zahlreiche Migrantenorganisationen werden selbst diesen Anlass aufgreifen. Hier gehe ich davon aus, dass die Rolle der ersten Generation überwiegend eine andere sein wird.
3Vgl. Bojadzijev, Manuela: Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration, Westfälisches Dampfboot, 2007, S. 100
4Vgl. Moulier Boutang, Yann (2002): Nicht länger Reservearmee. Thesen zur Autonomie der Migration und zum notwendigen Ende des Regimes der Arbeitsmigration, Subtropen / Jungle World 15, 1–3.
5 Vgl. Michael Knipper und Yasar Bilgin (2009): Migration und Gesundheit. Abgerufen am 10. September 2021 https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=4a662078-1cdb-347a-…
6 Vgl. Schwerpunktbericht der Gesundheitsberichterstattung des Bundes,
Migration und Gesundheit, S. 1oo, Abgerufen am 10. September 2021, https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichte…