Um eine fremde Sprache zu lernen, soll pornografische Literatur gut geeignet sein, um die internationalen Finanzmärkte zu verstehen, ist das Argot ökonomischer Literatur von Nutzen. Repos, Haircut, Übernachtkredit, Schattenbanken, Lender of the Last Resort – mit diesen Signalwörtern erschließt sich die Welt der Finanzmärkte. Warum soll man diese Welt studieren, wenn man kein berufliches Interesse an ihr nimmt? Weil diese Märkte Schicksal spielen. Sie greifen in das Leben des einzelnen und seiner Gesellschaft mächtig ein. Mit Repos, mit Rückkaufvereinbarungen, hält die Europäische Zentralbank die Ökonomien des Euro-Raums gegenwärtig über Wasser. Nicht auszudenken, ginge sie diese Vereinbarungen nicht ein. Die europäischen Völker, die den Volkswirtschaften den Namen geben, kämen in größte Not.
Die EZB akzeptiert Staatsanleihen ihrer Mitgliedsländer, und diese täglich abgeschlossenen Rückkaufvereinbarungen stabilisieren das Finanzsystem. Die entscheidenden Finanzakteure sind längst nicht mehr nur die Großbanken, sondern die Investmentfonds, die Hedgefonds und die Versicherungen. Deren auf Staatsanleihe lautende Wertpapiere sichert die Zentralbank ab. Wertpapiere, englisch Securities, bekommen gewährt, was sie ihrem Namen nach sind. Kann die EZB das nicht lassen, muss sie das spekulative Geschäft stabilisieren? Gehört zur Freiheit, sein Kapital anzulegen, nicht die Chance des Scheiterns, der Insolvenz, untrennbar dazu? Fragt sich jeder politisch vernünftig sozialisierte Mensch. Was ihm sein sozialistisches Bauchgefühl nahelegt, dementiert aber sein die Sache durchdenkender Verstand. So er sich die Argumentation des Joscha Wullweber zu eigen macht.
Die Wirtschaftspresse schlägt die alten Schlachten
Mit dem Streit um den Leitzins hat diese Debatte die Öffentlichkeit nur leicht gestreift. Der Streit hat anachronistische Züge; denn nicht der Leitzins, sondern der für die Repos zu zahlende Preis, der Haircut, – fällig, wenn die Finanzakteure ihre Staatsanleihen gegen Zentralbankgeld tauschen – ist viel entscheidender. Der Haircut ist der vom Markt verlangte Abschlag; für die 100 Euro des Wertpapiers gibt es vielleicht nur 98 Euro im Tausch. Da aber die EZB massenhaft kauft, ist sie der Market Maker, der den Preis setzt. Es spricht nicht für die Qualität der deutschen Wirtschaftspresse, dass sie die alten Schlachten schlägt. Die Redakteure sollten Wullweber lesen. Sein Buch bringt uns auf die Höhe der Zeit, und seine Argumentation ist stringent.
Was kennzeichnet diese Zeit? Der Zentralbank-Kapitalismus, so der Autor. Er schreibt über einen Epochenumbruch, der jedoch die allgemeine Kategorie unberührt lässt. Wieso Kapitalismus, wenn der Gegenstand doch ein neuer ist? Das erinnert an Hegels Logik, die zwischen Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem unterscheidet. Der Autor unterscheidet auch. Der endlose Prozess, aus Geld mehr Geld zu generieren, verbindet die Gegenwart mit dem Manchesterkapitalismus der Vergangenheit; die Kategorie des Allgemeinen bleibt weiterhin sinnvoll. Die Rolle des Geldkapitals ist aber viel dominanter als zu der Zeit, als Marx Das Kapital schrieb und die bürgerliche Gesellschaft anklagte, ihrer eigenen Ideologie nicht zu genügen.
Die Kategorie der Besonderheit klärt über die Differenz innerhalb einer ökonomischen Epoche auf, macht es doch einen Unterschied, ob das Finanzkapital oder das in Fabriken und Arbeitskräften vergegenständlichte den Kreislauf dominiert. Es macht auch einen Unterschied, ob als Sinnbild des Kapitalisten der Mann mit Frack, dicker Zigarre und dickem Bauch erscheint oder ein CEO, der die Krawatte neuerdings weglässt und die Physiognomie eines Marathonläufers hat. Auch die Kategorie der Einzelheit hat ihren Sinn.
Die EZB agiert gnädig
Dass der EZB, der US-amerikanischen Fed und der People‘s Bank of China die Rolle des Lender of the Last Resort zukommt, macht die Besonderheit des gegenwärtigen Kapitalismus aus. Die Zentralbanken fluten die Märkte mit Geld, und die von Wullweber so genannten Schattenbanken, die Fonds & Co danken es ihnen. In der nach den Lehman-Brothers benannten Krise ist der Geldmechanismus erfunden worden, der die Krisenwirkung entschärft. Auch in der gegenwärtigen, von Covid verursachten Kalamität hat der Mechanismus der Geldpolitik bislang gegriffen.
Mit einem Overnight-Repo verschaffen sich die Fonds kurzfristig Liquidität mit ganz kurzer Laufzeit. Für ihre gewährte Geldspritze will die Zentralbank natürlich Sicherheiten sehen. Aber die Zentralbanken akzeptieren in der nun schon über zwei Jahre dauernden Wirtschaftskrise auch Staatsanleihen mit geringerer Bonität, was den europäischen Südländern sehr hilft und die Kritiker in den Nordländern auf den Plan ruft. Je geringer die Bonität, desto größer eigentlich der Haircut, den der Kreditnehmer in Form des Risikoaufschlags zu zahlen hat. Aber die EZB agiert gnädig, zu gnädig, wie die konservativen deutschen Politiker finden.
Die EU-Kommission unternimmt gegenwärtig den Versuch, eine weitere Rückversicherung zu installieren, die die Einlagen der klassischen Nationalbanken absichert, und auch dieses Sicherungssystem entbehrt wohl nicht der Logik, wenn man verhindern will, dass die Finanzökonomie die Realökonomie in den Abgrund zieht. Die italienischen Banken würden aktuell wohl davon profitieren, aber ist dies ein Argument dagegen? Herr Weidmann, der bisherige deutsche Vertreter im Rat der EZB, hat gerne die nationale, man könnte auch sagen die nationalistische Karte gezogen, um gegen die „Vergemeinschaftung der Schulden“ zu polemisieren. Dem scheidenden Ratsmitglied ruft die irische EU-Kommissarin McGuiness noch nach, dass „davon auch deutsche Banken, die sich im Bedarfsfall auch einmal kurzfristig von Instituten aus anderen EU-Staaten absichern können, profitieren.“ (FAZ, 26.1.22)
In 14 Sekunden 27.000 Mal den Besitzer gewechselt
Die Falken der Geldpolitik, die Vertreter der reinen neoklassischen Lehre, tun sich schwer mit der unkonventionellen Methodik, die gegenwärtig gefragt ist. Noch so ein Wort, das den Finanzmarkt-Kapitalismus in turbulenten Zeiten charakterisiert: Der Hot-Potato-Effekt. Diesem Effekt müssen die Zentralbanken vorbeugen, bei Strafe des Abgrunds, in den das globale Wirtschaftssystem sonst taumelt. In den Abgrund konnte man in 2008 schauen, als die Lehman Brothers Pleite gingen und sämtliche Investoren versuchten, ihre verbrieften Anlagen wie heiße Kartoffeln schnell los zu werden. Joscha Wullweber erwähnt eine Zahl: In 14 Sekunden wechselten die an der Chicagoer Börse gehandelten Wertpapiere 27.000 Mal den Besitzer.
Die EZB und in stärkerem Maß noch die Federal Reserve und die Bank of England übernehmen Risiken des Privatsektors, was eine Reaktion auf ihre eigene Politik ist, schreibt der Autor. Denn die den Märkten durch die Zentralbanken als Vakzin verabreichte Geldspritze ist Medizin, aber mit Nebenwirkung: Immer mehr Akteure außerhalb des klassischen Bankensektors bekommen immer mehr Kredite, was den Schattenbankensektor mächtig aufbläht und auch die Gefahr von Krisen mächtig steigert. Was hat als Vermeidung von Risiken zu gelten, und was als ihre Verschärfung? Die Großen unter den Markteilnehmern wissen, dass sie der Nationalstaat raushauen wird; das erhöht ihre Risikobereitschaft. Wer systemrelevant, wer too big to fail ist, hat’s gut. Die unkonventionelle Geldpolitik hält die Wirtschaft am Laufen, erzeugt aber zunehmend Blasen bei den Geldvermögen. Die EZB wirft den Finanzmarktakteure einen Rettungsring zu, damit sie im von der EZB geflutete Geldmarkt nicht untergehen.
Gigantische Kreditblase
Ein Finanzhandel, der im Mikrosekundentakt und von Algorithmen gesteuert läuft, lässt den alten, den rheinischen Kapitalismus mit seiner für ihn typischen Verschachtelung zwischen einem Großkonzern und seiner Hausbank im Nachhinein recht gemütlich erscheinen. Es war die Welt der Krupp und Mannesmann, von Commerzbank und Deutscher Bank, die einen verschwunden, die anderen zu Zwergen geschrumpft im Vergleich mit einem Finanzakteur wie Blackrock (dem der Herr Friedrich Merz bis vor kurzem die deutschen Geschäfte führte).
Wullweber verteidigt die Geldpolitik der EZB, die mit niedrigem Zinssatz die europäischen Ökonomien weiter ankurbeln will. Eine schräge Kritik lautet, die Zentralbank mit ihrer Niedrigzinspolitik agiere als Lobby der Lohnabhängigen, während die anderen, die bloß über Geldeinkommen verfügten, also die Aktionäre benachteiligt würden. Denn wer Lohnarbeit leiste, könne sich bei steigender Inflation und brummender Konjunktur per Tariferhöhung einen Inflationsausgleich holen, während die bloßen Geldbesitzern angesichts negativer Zinsen darben müssten. Die einen bekämen Lohnzuwachs, die anderen einen Blick in die Röhre. Die Fetischisten, die Geld als natürliche Quelle von mehr Geld ansehen, beklagen, sie würden leer ausgehen. Sie sind, wie es im Marxschen Kapital heißt, „periodisch von einem Schwindel ergriffen, worin sie ohne Vermittlung des Produktionsprozesses das Geldmachen vollziehen wollen.“
Anlagetipps statt Aufklärung
Wullweber verteidigt die EZB-Politik, aber er verschließt nicht die Augen vor der gigantischen Kreditblase, die diese Politik mit sich führt. Allein die Menge an Geld, die in Exchange Trade Funds investiert ist, macht ihm Sorge. Die Wirtschaftspresse wirbt ja wie verrückt für diese ETF’s, die Aktienindizes wie den Dax abbilden. Dass staatliche Rentenanteile auf private Pensionsfonds umgestellt werden, wie im Koalitionsvertrag angekündigt, macht die Sache noch komplizierter, denn damit kommt noch mehr Geld auf den Markt und spekuliert auf hohe Rendite. Die Lohnarbeit leistenden Angestellten, mit Renditeversprechen geködert, werden in den Finanzmarkt integriert. Das unterscheidet den alten Kapitalismus von der heutigen Klassengesellschaft. Die Dienstmädchen-Hausse, wie sie verächtlich hieß, hat sich zur Youtuber-Hausse gemausert. Der Wirtschaftsjournalismus hält Anlagetipps für seinen Job und nicht Aufklärung. Die bis zum Zerplatzen angeschwollenen ETF’s sind für starke Preisschwankungen extrem anfällig, schreibt der Autor; denn sobald eine große Zahl von Fondsbesitzern die gleichen Wertpapiere im gleichen Moment abstoßen will, kommt es zu einem massiven Preisverfall und es wird sehr ungemütlich.
Die Zentralbankpolitik der Vergangenheit war Leitzinspolitik, nicht viel mehr, erfährt der Leser. Dem Monetarismus stand nur die Kontrolle des Geldvolumens zur Verfügung. Stabile Preise waren wichtiger als niedrige Arbeitslosenzahlen. Nun bekommen die Marktakteure von den Zentralbanken jede Menge Liquidität, die sie aber ins Finanzsystem stecken und nicht in die Realwirtschaft. Das Finanzsystem bleibt im hohen Grad dereguliert. Keine Einhegung, nirgendwo. Wer das Ende des Neoliberalismus am Horizont auftauchen sieht, sollte genauer hinschauen.
Wullweber belässt es nicht bei dieser Aufforderung. Er macht Vorschläge, wie es besser gehen kann. Das laisser faire der Märkte, das keines ist, weil die Märkte staatlich geboostert sind, zeugt von einer erstaunlich elastischen Beziehung zwischen Markt und Staat. Da entsteht Spielraum für eine reformistische Geldpolitik. Das Dogma, dass Zentralbanken von demokratisch gewählten Regierungen unabhängige Institutionen sind, bleibt dann nicht unhinterfragt.
Deutsche Regierung drückt sich vor Verantwortung
Die EZB ist ja in einer Zwickmühle, weil eine europäische Fiskalpolitik fehlt, argumentiert Wullweber. Mit europäischen Steuermitteln und klugen staatlichen Investitionen den Produktionsprozess der Industriegesellschaften carbonfrei machen, das wäre die Alternative. So lange die aussteht, springt die halb vernünftige Geldpolitik ein, die mit dem gelockerten Hahn die Märkte flutet, in der Erwartung, dies fördere Beschäftigung und Innovation.
Die EU-Kommission hat nicht den Mumm, den Finanzsektor stärker zu regulieren, weil ihr das Mandat dazu fehlt und wohl auch das Personal. Die Finanztransaktions-Steuer ist seit Jahr und Tag versprochen, und kommt einfach nicht. (Auch im Koalitionsvertrag der Ampelregierung taucht sie nicht auf). Den auf Algorithmen basierenden Hochfrequenzhandel zu entschleunigen, ist dringend geboten, so Wollweber. Aktienkurse, die in vier Millisekunden reagieren, also beinahe mit Lichtgeschwindigkeit, können einen Sturm an den Terminbörsen entfalten, gegen den ein Tsunami der ersten Natur ein laues Lüftchen ist. Und wie sehr ließen sich die staatlichen Kassen füllen, wenn auf jede dieser Transaktionen die geforderte Steuer fällig würde?
Die unangenehmen Fragen, die ein Wissenschaftler stellt, sind ja meist ein Klischee, hinter dem sich marktgängige Weisheiten verbergen. Bei Wullweber ist das nicht der Fall. Er schiebt der Politik der EZB keine Schuld in die Schuhe, für die sie nichts kann. Die Politik der Politik fehlt. Vor allem die deutsche Regierung hat sich bisher vor ihrer Verantwortung gedrückt. Eine von den EU-Institutionen moderierte Industriepolitik gibt es nur rudimentär. Der Green New Deal ist ein Werbeslogan, zu dem die entsprechende Ware fehlt. Das an eine Zwangsneurose gemahnende Festhalten an der schwarzen Null, zu Zeiten, da ein Staatswesen angesichts von Negativzinsen, schon mit der Aufnahme eines Kredits ein Geschäft macht, ist völlig irrational. Das Merkelsche Ideal der schwäbischen Hausfrau hat nicht funktioniert. Man kann nicht marktradikale Steuerpolitik, also die schwarze Null propagieren und mit seiner Finanzpolitik gleichzeitig die Märkte mit Geld fluten, also die Steuerschulden erhöhen. Das ist inkonsistent, schreibt der an der Universität Herdecke lehrende Ökonom.
Die neue Koalition will die Vorgabe der schwarzen Null ja trickreich unterlaufen. Ob Herr Lindner dafür der richtige Mann ist? Geldpolitik gilt als ein mathematischer Vorgang. Die EZB ist keiner parlamentarischen Kontrolle unterworfen. Im EZB-Rat ist nichts demokratisch auszuhandeln: So lauten die Dogmen der Markttheologie. Aber am Handeln der Zentralbank hängt das Wohl und Wehe demokratisch verfasster Gesellschaften.
Geldpolitik ist nicht die unpolitische Angelegenheit, zu der es die Ideologie der Liberalen erklärt. Sie wäre zu demokratisieren; das ist das Petitum des Autors.
So endet das Buch, und wenn man es weglegt und die Tageszeitung liest, denkt man das Gelesene weiter. Der Autor fordert ja keine grundstürzend neue ökonomische Rationalität. Er zeigt Grundzüge eines reformistischen Programms auf, das sich eine sozialdemokratische, auf ihren Reformismus stolze Partei, zu eigen machen sollte. Denn sonst könnte ihr letzter Wahlerfolg ein Zufallstreffer gewesen sein.
Unter dem Titel „Haircut für alte Zöpfe“ erschien der Beitrag zuerst auf Glanz&Elend