In der Nacht vom 3. auf den 4. März ist es tatsächlich passiert. Erstmals ereignete sich eine militärische Auseinandersetzung auf dem Gelände einer Atomanlage. Schauplatz des Geschehens war das Atomkraftwerk Saporischschja, am Standort Enerhodar im Südosten der Ukraine gelegen. Mit sechs Reaktoren alter sowjetischer Bauart ist es nominell das größte AKW in Europa. Außerdem wird der im Werk angefallene hochradioaktive Atommüll an Ort und Stelle gelagert. Entsprechend massiv ist das strahlende Inventar, das sich dort befindet. Schon zwei bis drei Tage zuvor hatte die russische Armee die Einnahme von Enerhodar gemeldet. Ihre Truppen hatten in der Region aus militärischer Sicht die Kontrolle übernommen und alle wichtigen Knotenpunkte besetzt. Doch zunächst verzichteten sie darauf, das Rathaus des Atomdorfs zu stürmen oder das AKW zu besetzen.
So ging die Arbeit im Kraftwerk scheinbar normal weiter. In täglichen Kommuniqués versicherte die ukrainische Atomaufsicht, sie stehe in regulärem Kontakt mit der Kraftwerksleitung und die Anlage arbeite weiterhin „sicher und zuverlässig“. Die Information, dass zur gleichen Zeit ein Reaktor nach dem anderen heruntergefahren wurde, wie es die Notfallplanungen vorsehen, wurde eher intern gehandelt.
In diesem kurzen Zeitintervall behaupteten beide Seiten, im Besitz des Kraftwerks zu sein. Dann entlud sich die angespannte Situation in einem heftigen nächtlichen Feuergefecht am Eingang des AKWs. Ein Gebäude wurde in Brand gesetzt, es gab Tote und Verletzte. Gegen 6 Uhr konnte der Brand von der Feuerwehr gelöscht werden. Rasch kam eine Entwarnung der Wiener IAEA (Internationale Atomenergie Agentur): Die Funktionalität der Anlage sei nicht beeinträchtigt, und es sei auch keine erhöhte Radioaktivität in der Umgebung gemessen worden. Das Kraftwerk sei nun in russischer Hand, aber die ukrainische Belegschaft verrichte weiterhin ihren Dienst.
Ein Akt des „Nuklearterrorismus“
Berichte über den Vorfall gingen sofort über den Äther und lösten weltweites Entsetzen aus. Schlagartig aktivierten sich Erinnerungen an die Atomkatastrophen von Harrisburg (1979), Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011). Im Internet kursierten Bilder von den Überwachungskameras des AKWs, auf denen der gegenseitige Beschuss zu erkennen ist. Aus dem Videoclip geht jedoch nicht hervor, an welcher Stelle des Kraftwerks der Kampf stattfand und was genau beschossen wurde. Ein Sprecher der Kraftwerksleitung schilderte das Geschehen in dramatischen Worten. Ein Reaktor sei beschädigt. „Wir können nicht vorhersagen, welche Folgen es geben wird.“ Das ukrainische Elektrizitätsunternehmen Energoatom behauptete, Block 1 sei von einer Granate getroffen worden. Der Angriff sei ein Akt des Nuklearterrorismus und erfordere „ein sofortiges Eingreifen mit härtesten Maßnahmen, insbesondere durch die NATO und die Atommächte“ (Presseerklärung vom 4.3.2022). Der ukrainische Energieminister wurde ebenfalls mit dem Ruf nach der NATO zitiert.
In den frühen Morgenstunden des 4. März schaltete sich Wolodymyr Selenskyj mit einer Videoansprache ein. „Wir haben eine Nacht überlebt“, sagte der Präsident, „die das Ende der Ukraine und Europas hätte sein können.“ Die russischen Panzer hätten gewusst, wohin sie feuerten, weil sie mit Wärmebildkameras ausgestattet seien: „Das war direkter Beschuss der Atomreaktoren.“ Russland wolle eine globale Katastrophe. Europa müsse jetzt aufwachen, sonst drohe „das Ende für alle“.
Das Moskauer Verteidigungsministerium gab eine andere Darstellung des Geschehens. Eine russische Patrouille sei von einem Verwaltungsgebäude aus beschossen worden. Man habe das Feuer erwidert und die Angreifer vertrieben. Diese hätten vor ihrer Flucht in dem Gebäude Feuer gelegt, um den Anschein zu erwecken, dass Russland „einen Herd radioaktiver Verseuchung schaffen“ wollte.
Logik des Kriegshandwerks
Wie im Krieg üblich (und zunehmend auch in normalen Zeiten der Fakenews), lässt sich nicht eindeutig ermitteln, wie der tatsächliche Ablauf gewesen ist. Wir müssen uns also auf das beschränken, was sich mit einiger Sicherheit feststellen lässt. Klar ist, dass diese äußerst kritische Situation nicht eingetreten wäre, hätte Russland die Ukraine nicht überfallen. Die russischen Truppen hatten und haben dort nichts verloren. Insbesondere gibt es in Enerhodar auch keinen Bedarf an „Entnazifizierung und Entmilitarisierung“, wie die Angreifer ihren Krieg rechtfertigen. Schließlich sind sie bei ihrem Vormarsch in die Region weder auf die Asow-Brigade (rechtsextreme ukrainische Miliz) noch auf Militärstützpunkte gestoßen.
Das russische Militär hätte auf eine Übernahme oder Eroberung des Atomkraftwerks eigentlich verzichten können – es wäre ihnen über kurz oder lang ohnehin in die Hände gefallen. Doch das entspricht leider nicht dem Kriegshandwerk, wie es in den Armeen aller Länder geschult und im Ernstfall auch praktiziert wird. Große Industrieanlagen gehören zur lebenswichtigen Infrastruktur des Gegners: sie müssen also erobert oder zerstört werden. Kraftwerke gleich welcher Art gelten der Kriegsführung als strategische Ziele; sie werden also angegriffen und umgekehrt auch verteidigt. So versicherte Energoatom, im AKW Saporischschja habe es eine „verzweifelte Gegenwehr der Nationalgarde, der Gebietsverteidigung und der Einwohner von Enerhodar“ gegeben.
Das bedeutet, dass es einen ukrainischen Befehl gab, die Anlage auf keinen Fall kampflos zu räumen, ebenso wie es auf der russischen Seite einen Befehl gab, der mindestens zum Inhalt hatte, dass ein Konvoi bis zum Eingang der Anlage vordringt und den dort angesiedelten Kontrollposten passiert. Dann gab irgendein Kämpfer den ersten Schuss ab. Es lohnt sich kaum, nach dem Namen und der Nationalität des Idioten zu forschen.
Nicht sekundär ist hingegen, dass die Gefechtsparteien sich in einer Weise gegenüberstanden, die bewirkte, dass die Reaktoren und Atommülllager nicht in der Verlängerung ihrer jeweiligen Schusslinie lagen. Die Zufahrtsstraße von Enerhodar führt nicht direkt auf die Reaktoren zu, sondern endet seitlich von ihnen, links aus der Sicht der Ankommenden. Dort hatten sich die Verteidiger der Anlage in einem Trainingszentrum postiert. Trotzdem muss man extrem starke Nerven haben, um sich, bildlich gesprochen, ein Gefecht zwischen gigantischen Mengen von Sprengstoff und Gift zu liefern.
Richtig ist aber auch, dass die Russen keine globale Katastrophe herbeiführen wollten, jedenfalls nicht in jener Nacht. Denn sie hätten die Reaktoren von Enerhodar ohne weiteres treffen können, wenn das in ihrer Absicht gelegen hätte. Selenskyj muss sich vorwerfen lassen, in einer Alarmsituation Falschnachrichten verbreitet zu haben.
Vormarsch zum nächsten Atomkraftwerk
Noch am gleichen Tag veranstaltete IAEA-Direktor Rafael Grossi eine Pressekonferenz in Wien, um über die Situation zu informieren. Mit Vehemenz widersprach er der Behauptung einer Reaktorbeschädigung, obwohl die höchste Autorität der Ukraine eben das vorgebracht hatte. Vielmehr würden alle technischen Systeme einwandfrei arbeiten, und die Strahlenmesswerte lägen im Normalbereich. Auf einem Lageplan zeigte Grossi den Ort des Gefechts und die Perspektive der Überwachungskamera, die es aufgezeichnet hatte. Er wiederholte seine eindringlichen Warnungen vor den Risiken solcher Auseinandersetzungen. Im Umkreis von Nuklearanlagen habe jede Form von Gewaltanwendung zu unterbleiben. Grossi kündigte an, persönlich in die Ukraine zu reisen, um Hilfeleistungen der IAEA anzubieten. Politische Lösungen für den Konflikt werde er nicht diskutieren; das sei nicht sein Job.
In den folgenden Tagen wurde klar, was die Regierung der Ukraine unter einem Eingreifen der NATO versteht. Das Bündnis solle ein Flugverbot im ukrainischen Luftraum durchsetzen. NATO-Generalsekretär Stoltenberg wies die Forderung zurück, weil sie – offenkundig – einen Krieg mit Russland zur Folge hätte. Seitdem attackiert Selenskyj die NATO bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Durch ihre Weigerung, den Luftraum über der Ukraine zu sperren, sei sie mitverantwortlich für den weiteren Verlauf des Krieges. „All die Menschen, die von heute an sterben, werden auch Ihretwegen sterben. Wegen Ihrer Schwäche, wegen Ihrer Abkopplung.“ Er wisse nicht, wen die Nato überhaupt noch schützen könne und ob sie in der Lage sei, die eigenen Länder zu verteidigen. Parallel dazu verbreiten ukrainische Netzwerker die Parole, der dritte Weltkrieg sei keine drohende Perspektive: Er sei bereits im Gange.
Inzwischen befinden sich russische Truppen auf einem Vormarsch nördlich von Odessa, der dem nächsten Atomkraftwerk zu gelten scheint, dem AKW Südukraine am Standort Juschnoukrajinsk in der Oblast Mykolajiw. Das Szenario von Angriff und Verteidigung wird sich dort wahrscheinlich wiederholen, allerdings mit einer noch gefährlicheren Topologie. Denn hier führt die Zufahrtsstraße direkt auf die dort betriebenen drei Reaktoren zu. Sie lägen im Schusskanal, wenn es auf dieser Straße zum bewaffneten Konflikt käme. Die russische Seite wird den Befehlen aus dem Kreml gehorchen, wonach der Krieg „nach Plan“ zu verlaufen habe. Die ukrainische Seite könnte ein bisschen Rücksicht auf das eigene Land, die eigene Bevölkerung und auch auf Europa nehmen, indem sie sich den lautstark geforderten EU-Beitritt dadurch verdient, dass sie auf eine militärische Verteidigung des Kraftwerks verzichtet. Atomkraftwerke sind nämlich nicht zu verteidigen.
P.S.: Im heute journal vom 28. Februar knöpfte sich ZDF-Moderatorin Marietta Slomka Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) vor. Erschütternd sei die energiewirtschaftliche Abhängigkeit von Russland, meinte Slomka, müsse die Umweltministerin nicht Kompromisse eingehen? Ein Vorschlag sei, dass man die verbliebenen deutschen Atomkraftwerke „einfach noch ein paar Jahre länger laufen lässt“, warf sie mit einem Blick ein, der signalisierte: Jetzt treibe ich sie in die Ecke. – Nein, einfach sei das nicht, bemüht sich Lemke zu argumentieren, die AKWs seien schon auf dem Weg zur Abschaltung, sie hätten nach dem 31.12.2022 gar keine Brennelemente mehr zur Verfügung. – Aber es sei doch eine Ausnahmesituation, findet Slomka, da müssten eben außergewöhnliche Maßnahmen ergriffen werden. – Lemke antwortet: „Gerade jetzt sehen wir in der Ukraine bedauerlicherweise, dass die AKWs ein Unsicherheitsfaktor sind. Wir sollten in Zeiten, wo wir von Risiken bedroht sind, nicht weitere Risiken hinzufügen. Das wäre aber die Verlängerung der Laufzeiten.“ – Slomka bedankt sich für das Gespräch, jetzt mit gequältem Blick und hörbar aufstöhnend. Grüne Ideologie, signalisiert die Starmoderatorin des ZDF, vorgestrig, nicht ernst zu nehmen. – Und jetzt? Wir warten darauf, dass uns Frau Slomka erklärt, wie man Atomkraftwerke in Zeiten des Krieges sicher und zuverlässig betreibt.
Aufgrund der eher lapidaren (und einseitig an die Ukraine gerichteten) Anmerkung des Autors ganz am Schluss fällt mir erst das Naheliegende auf, das aber offensichtlich auch in Russland und vor allem bei den vielen westlichen Regierungen nicht vorne auf der Tagesordnung steht: auf eine besondere Vereinbarung dringen, dass die Atomkraftwerke nicht Ziel von militärischen Kampfhandlungen sein dürfen; zumindest habe ich davon im Rahmen meines Medienkonsums noch nichts vernommen.
Und noch ein Kommentar von Jurij Witrenko, Leiter des ukrainischen staatlichen Gaskonzern Naftogaz, aus einem Interview mit der FAZ vom 7.3.: „Diese barbarischen Angreifer sind keine Spezialisten, die sich mit Atomkraftwerken auskennen. Wir wissen nicht, was sie dort machen. Das ist gefährlich und einfach nur verrückt.“ Und: Es gehe bei dem Angriff „nicht nur um Reaktoren. In der Nähe lagern auch radioaktive Abfälle“.