Noch vor wenigen Jahren war es ein altes Eisenbahndepot an der Westseite New Yorks. Heute ragen dort Wolkenkratzer empor, die wie gigantische spiegelnde Glasscherben aus Manhattans Skyline ragen. Hudson Yards gilt mit einem Areal von elf Hektar und einem Investment von 25 Milliarden Dollar als das größte private Immobilienprojekt Nordamerikas. In der Shopping Mall finden sich Marken wie Rolex, Cartier, Dior, Fendi, nebenan sind die Büros von WarnerMedia, Boston Consulting, L’Oréal und des deutschen Softwarekonzerns SAP. Wer eines der Penthouse-Apartments mieten will, zahlt bis zu 70.000 Dollar monatlich. Für Stephen Ross, dem Immobilienmogul hinter dem Projekt, sind die Hudson Yards das neue Herz von New York, wie es auf der Webseite seines Unternehmens heißt. Für Kritiker:innen ist es ein monumentales Symbol des Spätkapitalismus und steht für alles, was falsch läuft in unserem System. In der Mitte hat Ross The Vessel – das Gefäß – bauen lassen, eine 16 Stockwerke hohe begehbare Skulptur, die Spötter wegen ihrer Form den Papierkorb getauft haben. Mit seinen 154 Treppen, die nirgendwo hinführten, sei das Vessel eine Metapher für Arbeit ohne Sinn, schrieb die Architekturkritikerin Kate Wagner (2019). Unter dem Vorwand, in den öffentlichen Raum zu investieren, verberge das leere ‘Gefäß’, so Wagner in ihrem Verriss, nur sehr fadenscheinig die Intention, “Luxusvermögenswerte für die kriminell Wohlhabenden” zu schaffen.
Was die Hudson Yards so anschaulich vor Augen führen, ist die obszöne Umverteilung von unten nach oben, die in den vergangenen Jahrzehnten stattgefunden hat. Ausgerechnet die von Covid-19 ausgelöste Krise hat diesen Prozess noch einmal beschleunigt. In den ersten zwei Jahren der Pandemie verdoppelten die zehn reichsten Männer der Welt – angeführt von Teslas CEO Elon Musk, Amazons Jeff Bezos und den Google-Gründern Larry Page und Sergey Brin – laut der internationalen Anti-Armutsgruppe Oxfam (2022) ihr Vermögen von 700 Milliarden Dollar auf 1,5 Billionen Dollar. Allein Bezos‘ Vermögen belief sich im April 2022 auf 191 Milliarden Dollar, eine Summe, die dem Bruttoinlandsprodukt von Bolivien, Bulgarien und Ghana zusammen entspricht. (Forbes Magazine 2022). Gleichzeitig starben Millionen Menschen, die keinen Zugang zu Impfungen und zu medizinischer Versorgung hatten, manche buchstäblich, weil sie sich den Sauerstoff zum Atmen nicht leisten konnten.
Doch Covid-19 verstärkte nur Entwicklungen, die schon vor Jahrzehnten begonnen haben. Und es ist nicht nur die ungleiche Verteilung des Wohlstands. Es ist auch die ungerechte Zuteilung der Fortschrittsgewinne. Arbeitnehmer:innen profitieren immer weniger von den technologischen Errungenschaften und der Gründung neuer Unternehmen. Stattdessen sind sie allzu oft die Verlierer, wenn Innovationen die Automatisierung und den Verlust von Arbeitsplätzen vorantreiben. Inzwischen hat die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit Ausmaße angenommen, die nicht nur unseren westlichen Lebensstandard, sondern auch unsere Demokratie, ja schlussendlich unsere Existenz auf diesem Planeten gefährden. Auf weltweiter Ebene sprechen manche Aktivist:innen angesichts des brutalen Gefälles bereits von einer Klima-Apartheid. Während Hunderte Millionen im globalen Süden nach wie vor keinen Strom haben, produzieren die G20 Länder rund 80 Prozent aller Treibhausgase (UN Environment Programme 2019).
Und während der Norden, etwa Kanada und Skandinavien, laut den Studien einiger Expert:innen von der Erwärmung teilweise sogar profitieren könnte, wird das Bruttosozialprodukt in Indien – sollte sich nichts ändern – bis 2050 um fast drei Prozent schrumpfen und der Lebensstandard von rund 600 Millionen Menschen, der Hälfte der Bevölkerung des Landes, deutlich sinken (Weltbank 2018). Bei einer Erwärmung um 2 Grad Celsius würden Dürreperioden in Nordafrika im Schnitt 20 Monate anhalten, Hitzewellen sich verzehnfachen. Ein weiterer Bericht der Weltbank (2021) warnt, dass 86 Millionen Menschen in Subsahara-Afrika heimatlos werden könnten. Und dieser Dürresommer hat mit erschreckender Deutlichkeit gezeigt, dass auch wir in Europa uns den Folgen des Klimawandels nicht entziehen können. Die Bilder eines stellenweise zum Bach vertrockneten Rheins werden wir nicht so schnell vergessen.
Anlässlich ihres 50jährigen Jubiläums, das sie am 26. November in Frankfurt a, M. feiern wird, gibt die Otto Brenner Stiftung drei Essaybände heraus:
Welche Öffentlichkeit brauchen wir? Zur Zukunft des Journalismus und demokratischer Medien
Welche Politik wollen wir? Zu Zukunft des Staates, der Zivilgesellschaft und der Demokratie
Welche Arbeit machen wir? Zur Zukunft von Wirtschaft, Natur und Kultur
Der Essay von Heike Buchter aus dem „Arbeits-Band“ erscheint auf Bruchstücke als Vorabveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Otto Brenner Stiftung.
Die unterschätzte Rolle der Finanzbranche
Wie sind wir in diese Falle geraten? Und wie können wir uns aus ihr befreien? Mit diesen großen Fragen beschäftigen sich Volkswirte, Soziologen, Philosophinnen. Sie sind vorwiegend Forschende an Hochschulen und in Denkfabriken. Sie vermitteln die – wichtige – Vogelperspektive. Als Journalistin mit dem Fokus Finanzen habe ich einen ganz anderen Zugang zu diesen Problemen. Meine Schlussfolgerungen erheben nicht den Anspruch wissenschaftlich zu sein. Sie sind stattdessen das Ergebnis von Erfahrungen und Recherchen mit der Wall Street im Zentrum. Eine Erkenntnis nach 20 Jahren dort: Wir erleben Peak Financial Capitalism, den Höhepunkt des Finanzkapitalismus. Oder wie es einige inzwischen auch nennen: Asset Management Capitalism – Kapitalismus der Vermögensverwalter (Braun 2020). Um zu verstehen, was das heißt und warum die Branche der Geldverwalter einen entscheidenden Einfluss auf unser Geschick hat, muss man nicht nur die Mechanismen, sondern auch die Akteure, ihre Motivation und ihre Geschichte kennen. Auch wenn viele Entwicklungen in Deutschland noch nicht so ausgeprägt sind, zeigt ein Blick auf die USA, wohin die Reise geht. Zumal nordamerikanische Investoren mit 40 Prozent die größten Anteilseigner der deutschen Dax-Unternehmen darstellen. (DIRK 2022). Es ist schwierig, den Anteil des Finanzsektors an unserer Wirtschaft zu bemessen. Schätzungen gehen davon aus, dass Banken, Versicherer, Fondsgesellschaften und Fintech Startups inzwischen bis zu einem Viertel der Wirtschaftsleistung der Welt darstellen. Niemand dürfte die Bedeutung des Finanzsektors für ein reibungsloses Funktionieren der Wirtschaft bestreiten: Kredite ermöglichen die Expansion von Unternehmen, den Ausbau von öffentlicher Infrastruktur. Finanzinstrumente, darunter auch die oft verpönten Derivate, helfen, das Risiko von Investitionen auf Akteure zu verteilen, die willens und in der Lage sind, es zu übernehmen.
Doch mindestens seit den 1980er Jahren entfernt sich die Branche immer weiter von ihrer eigentlichen, dienenden Rolle. Financialization nennen Briten und Amerikaner das Übel, dass Banken, Handel und Investoren Unternehmen und Innovationen letztlich nur noch als Beteiligungen, Wertpapiere oder Kredite behandeln und nicht als Institutionen, die auch einen sozialen Zweck erfüllen. Welche Folgen diese Verkehrung haben kann, zeigt etwa General Electric. Einst eine amerikanische Ikone, 1892 mit gegründet von Erfinder Thomas Edison. Mit einer Produktpalette von der Glühbirne über elektrische Zahnbürsten bis zum Atomkraftwerk prägte das Unternehmen den modernen Alltag wie kaum ein anderes. So wurde GE weltweit zum Vorbild – nicht zuletzt musste sich die deutsche Siemens die Erfolge vorhalten lassen.
Heute ist der Konzern ein Schatten seiner selbst. Schuld ist nicht zuletzt Jack Welch, der einst als Superstar unter den Managern gefeiert wurde. Mehr als 100.000 Arbeitsplätze strich Welch bei GE in den 1980er Jahren. Anteilseigner verwöhnte Welch hingegen mit stetigem Gewinnwachstum, die Aktie stieg in seiner Amtszeit um sagenhafte 4.000 Prozent. Welch erreichte das aber weniger mit Industrieprodukten wie Turbinen oder Waschmaschinen, sondern vor allem mit einer internen Bank. Zunächst war sie eine sinnvolle Ergänzung – die Kunden konnten ihre Windkraftanlagen oder Lokomotiven über das konzerneigene Finanzinstitut finanzieren.
Bald bot die GE-Finanzsparte weit mehr: Autokredite, Kreditkarten und Hypotheken. GE Capital wurde zu einem der größten US-Finanzkonzerne. Vor allem aber versetzte die Finanzsparte GEs Manager in die Lage, die Gewinnentwicklung zu kontrollieren. Blieb das Ergebnis der Industriesparten unter den Erwartungen der Aktionär:innen, konnte das Unternehmen kurzfristig Finanzinstrumente veräußern. So ließen sich zuverlässig Gewinne erzielen und großzügige Vorstandsvergütungen rechtfertigen. Allein von 2012 bis 2018 erhielten die ranghöchsten Führungskräfte Vergütungen in Höhe von über 600 Millionen Dollar. In der Finanzkrise 2008 war damit Schluss, das Unternehmen war übergangsweise auf über 16 Milliarden Dollar Staatszuwendung angewiesen. Zusätzlich mussten die Notenbank und der Einlagensicherungsfonds FDIC mit weiteren 30 Milliarden Dollar an Garantien einspringen. (Buchter 2018). GE ist nur ein Fall von Financialization, nur ein Beispiel dafür, wie aus der sozialen Einheit des Unternehmens ein Bündel von Verträgen, Wertpapieren und Obligationen wird, manipuliert von Manager:innen und Investor:innen, um Gewinne für Anteilseigner:innen herauszuholen.
Milton Friedman und das fatale Prinzip der Gewinnmaximierung
Zurückführen lässt sich diese Dynamik vor allem auf die Ideen eines Mannes: Vor rund 50 Jahren veröffentlichte der Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman (1970) einen Artikel in der New York Times. Der Titel lautete übersetzt “Die soziale Verantwortung von Unternehmen ist es, den Gewinn zu steigern.” Gemeint war, dass die Manager:innen eines Konzerns nur einem Ziel verpflichtet waren: Den Gewinn zu steigern. Daraus wurde die Shareholder Value Doktrin, nach der der Zweck eines Unternehmens sich darauf reduziert, den Wert für die Anteilseigner zu maximieren. Friedman, der für seine geldpolitischen Erkenntnisse 1976 den Nobelpreis erhielt, schränkte sein Gebot zwar ein, indem er erklärte, bei ihrer Gewinnmaximierung sollten sich Manager immerhin an geltende Gesetze und Ethik halten. Eine Einschränkung, die seine Verteidiger:innen heute gerne ins Feld führen.
Friedman reagierte mit seinem Beitrag auf eine Bewegung, die etwa vom Detroiter Autohersteller General Motors den Bau sicherer Autos verlangte und vom Mischkonzern General Electric mehr Umweltschutz. Solche Ansinnen führten, so schrieb Friedman in der New York Times, zu „lupenreinem Sozialismus“. Der Ökonom traf damals einen Nerv bei Investor:innen. Zu der Zeit steckte Corporate America in einer Krise. Durch den Aufstieg Japans sahen sich amerikanische Produzenten erstmals auf dem Heimatmarkt starken Wettbewerbern gegenüber. Der Ölschock und die folgende Inflation hatten die Kosten explodieren lassen, die damals noch starken Gewerkschaften verlangten zum Ausgleich höhere Löhne. Die Unternehmen reagierten mit einer Fusions- und Aufkaufwelle. So entstanden aufgeblähte Konglomerate, deren versprochene Gewinne größtenteils ausblieben. Die Aktionäre waren unzufrieden. Die Multis von damals sind heute fast alle so gut wie zerschlagen, doch die angebliche Lösung ist zum Standard geworden. Inzwischen ist die Fixierung von Manager:innen und Eigentümer:innen auf Gewinnmaximierung und endlose Kostenreduzierung derart verbreitet und verinnerlicht, dass es scheint, als habe es im Kapitalismus nie etwas anderes gegeben.
Die “Shareholder-Value-Doktrin“ wurde auch deshalb bereitwillig akzeptiert, weil sie für eine wohlhabende und einflussreiche Schicht so vorteilhaft ist. Sie stellt schließlich die Mehrheit der Aktionär:innen. Zwar sind die Manager:innen des Unternehmens rein organisatorisch und rechtlich nur bessere Angestellte der Eigentümer:innen. Doch um die Interessen beider Parteien auf die gleiche Linie zu bringen, erhalten viele Manager:innen einen großen Teil ihrer Vergütung in Aktien. Ihr Erfolg wird am steigenden Wert der Unternehmensanteile gemessen, von dem sie direkt profitieren. Das Resultat sind exorbitante Managementgehälter. Das Economic Policy Institute (EPI), ein gewerkschaftsnaher Think Tank in Washington, kalkulierte, dass 1965 für jeden Dollar, den Arbeitnehmer:innen bei den 350 größten US-Unternehmen als Lohn erhielten, der CEO des Unternehmens 21 Dollar erhielt. 1989 betrug das Verhältnis bereits einen Dollar für die Arbeitnehmerin zu 61 Dollar für den Top-Manager. 2020 lag es nach Berechnungen von EPI bei 351 Dollar Chef:innen-Vergütung für jeden Dollar an Lohn (Mishel und Kandra 2021). Dank eines wachsenden Anteils von Aktien und Optionen bei der Managerentlohnung klafft auch in Deutschland die Schere zwischen Chefetage und Fabrikhalle weit auseinander. Etwa 48-mal so viel wie ihre Angestellten verdienten die Dax-Chef:innen im Schnitt, so eine Studie der Deutschen Schutzgemeinschaft für Wertpapierbesitz (DSW) aus 2021, der Abstand hat sich im Vergleich zu den Vorjahren vor allem deshalb nicht vergrößert, weil die Boni durch die Corona-Krise zurück gingen (Friedl 2021).
Es gibt Alternativen zu Friedmans Doktrin
Das falsche Dogma vom Primat der Eigentümer treibe Manager an, unablässig und rücksichtslos nach Wegen zu suchen, den Wert für die Anteilseigner zu steigern, urteilte die 2018 verstorbene Unternehmensrechtlerin Lynn Stout. Dafür verkauften sie Unternehmensteile, feuerten langjährige Arbeitnehmer:innen, reduzierten den Kundendienst und opferten Investitionen in Forschung und Entwicklung. Stout war eine frühe Kritikerin von Friedmans Dogma. In ihrer Studie “Die Entlarvung des Shareholder Value Mythos” enttarnt sie Miltons scheinbar rationale Begründungen für das Primat der Anteilseigner:innen als nicht stichhaltig (Stout 2013). Stattdessen plädierte sie dafür, dass Unternehmen durchaus mehrere Ziele gleichzeitig haben können und auch die Belange von Kund:innen und Mitarbeiter:innen dazu gehören sollten. Im Gegensatz zu Friedman, den sein Nobelpreis weltbekannt machte, blieb Stout, die 2018 verstarb, jedoch nur einem Zirkel von Corporate Governance Expert:innen ein Begriff.
Eines der folgenreichsten Beispiele, wie das Shareholder Value Primat die Kultur eines Unternehmens unterminieren kann, ist Boeing. Wie GE gehörte auch der Flugzeugbauer zu den renommiertesten Unternehmen, nicht nur in den USA, sondern weltweit. Das Unternehmen, gegründet 1916 von William Boeing, dem Sohn eines deutschen Auswanderers, war bekannt für seine Ingenieure, seine Konstrukteure – und für seine Integrität. Millionen Passagiere verließen sich auf Boeings Zuverlässigkeit und Sicherheit. Dann kam der 29. Oktober 2018, als eine Lion Air Maschine zwölf Minuten nach dem Start im indonesischen Jakarta abstürzte und alle 180 Menschen an Bord ums Leben kamen. Nur fünf Monate später, am 10. März 2019, zerschellte ein Ethiopian Airlines Jet ebenfalls nur Minuten nach dem Abheben in Addis Abeba. 157 Passagiere und Crewmitglieder starben. In beiden Fällen handelte es sich um brandneue Maschinen des Typs 737 Max. Nach den Abstürzen verhängten die Behörden ein Flugverbot für das Modell. In den Monaten danach kamen immer neue Erkenntnisse ans Licht, die zeigten, wie die Konzernleitung immer wieder kurzfristige Gewinne über Sicherheit stellte (US Kongress 2020).
Das Debakel begann damit, dass der Max kein neues Modell, sondern eine weitere Modernisierung der jahrzehntealten Boeing 737 war. Eine komplette Neuentwicklung wäre für Boeing ein nicht unerhebliches finanzielles Risiko gewesen. Nicht nur hätte die Entwicklung selbst Milliarden Dollar verschlungen, auch hätten genügend Kund:innen von dem neuen Flugzeug überzeugt werden müssen. Solche Wagnisse war Boeing immer wieder eingegangen. Nun jedoch wurde der Konzern von einer neuen Art Manager:inne gesteuert, die unter anderem den Firmensitz nach Chicago verlegten. Damit war das Management 3.000 Kilometer von den Ingenieur:innen und den Montagearbeiter:innen entfernt – aber näher am Kapitalmarkt. Chicago ist nach New York der wichtigste Finanzplatz der USA (Buchter 2019). Und sie führten in großem Stil Aktienrückkäufe durch, das wohl zweifelhafteste Mittel den “Shareholder Value” zu fördern. Unternehmen kaufen dabei in großem Stil ihre eigenen Aktien an der Börse zurück. Mit der Reduzierung der ausstehenden Anteilsscheine treiben die Rückkäufe den Aktienkurs in die Höhe und bescheren ihren Aktionär:innen auf diese Weise einen Kursgewinn. “Räuberischer Wertentzug” nennt der Ökonom William Lazonick die Praxis (Lazonick 2014).
Lazonick kommt in einer Studie zu dem Schluss, dass die Entwicklung eines neuen Flugzeugtyps Boeing rund sieben Milliarden Dollar mehr gekostet hätte als die Modernisierung der 737. Das entspreche der Summe, die Boeing von 2013 bis 2019 im Schnitt jedes Jahr für Aktienrückkaufprogramme bereitgestellt habe – insgesamt 43 Milliarden Dollar. Darüber hinaus schüttete das Unternehmen in dem Zeitraum 17 Milliarden Dollar an Dividenden aus (Lazonick und Sakinc 2019).
Auch bei deutschen Unternehmen nehmen die Rückkäufe zu. Nach einer kurzen Pause während der ersten Zeit der Pandemie markierte das Jahr 2021 einen neuen Rekord: Dax-Unternehmen von Allianz bis SAP gaben insgesamt 18 Milliarden Dollar für eigene Anteile aus (Sommer 2022). Adidas etwa verwöhnte 2021 seine Aktionär:innen mit Aktienrückkäufen und Dividendenausschüttungen im Wert von 1,6 Milliarden Euro. Diese Großzügigkeit gegenüber den Eigentümer:innen kommt, kurz nachdem der Sportartikelhersteller sich mit Kurzarbeitergeld und Darlehen der Kreditanstalt für Wiederaufbau, also mit öffentlichen Mitteln, durch die Covid-Krise helfen ließ (Adidas 2021). Das ist legal, sozial ist es nicht.
Das Verwöhnprogramm für die Anteilseigner:innen bleibt nicht ohne Folgen. Rückkäufe und Dividenden entziehen dem Unternehmen Kapital. Die Folgen sind spürbar. So ist der Anteil der Arbeitnehmer:innen am Volkseinkommen in den meisten Industrieländern seit zwei Jahrzehnten gesunken. In Deutschland ist die Lohnquote zwar zuletzt wieder gestiegen, aber das hat mehr mit der Corona-Krise zu tun. Die Pandemie hat zu einem tiefen wirtschaftlichen Einbruch und zu einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts geführt. Das trifft zunächst Gewinn- und Vermögenseinkünfte härter, während Löhne und Gehälter zumindest in Deutschland nicht so schnell nach unten “angepasst” werden können (Institut Arbeit und Qualifikation 2021).
Innovationen für die Wohlhabenden
Auch Investitionen, die für bessere Produkte und notwendige Innovationen sorgen, sind zurück gegangen. Eine Erhebung der Weltbank zeigt einen starken Abfall besonders nach 2008. Anders als von vielen erwartet oder gar erhofft, brachten die Finanzkrise und die anschließende Rezession eher eine Beschleunigung der Financialization, statt deren Ende einzuläuten. Interessant ist in dem Zusammenhang Deutschland. Dort zeigt die Statistik einen abrupten Einbruch Ende der 1990er, der das Platzen der Dotcom-Blase markiert. Davon erholte sich die Investitionstätigkeit zwar wieder, erreichte aber bis 2016 nicht mehr das vorherige Niveau (Weltbank 2022).
Das scheint auf den ersten Blick gar nicht zu den Schlagzeilen über die immer wertvolleren Startups zu passen. Es ist noch nicht lange her, da hießen Neugründungen mit einer Bewertung von mehr als einer Milliarde Dollar “Einhörner”, weil sie so selten waren. Inzwischen gibt es ganze Herden davon. Mussten noch vor einigen Jahren Gründer:innen in den USA um das Kapital von Risikokapitalgeber:innen werben, bitten jetzt die Venture Capital Fonds (VC) um die Gelegenheit, sie zu finanzieren (in Deutschland ist es allerdings noch nicht ganz so weit).
Doch die Fonds sind in der Regel nicht an der Finanzierung von Innovationen interessiert, die einen fundamentalen technologischen Durchbruch bringen könnten. Man denke an grüne Energien oder nachhaltige Agrarpraktiken. Stattdessen geht es in der Mehrheit um Neuheiten, die das Leben von Bürger:innen in der relativen Sicherheit und dem relativen Wohlstand der Industrienationen angenehmer machen. Sie lösen mit immer höherem Einsatz an Ressourcen letztlich “First World Problems”. Für die Investor:innen in die VC Fonds und die Startups zahlt sich das allemal aus. Dass Gründer:innen über Nacht zu Milliardär:innen werden, ist schon keine Schlagzeile mehr wert. Noch schlimmer: Der Überfluss an Mitteln, der ins Silicon Valley fließt, hilft Startups ihr Geschäftsmodell am Markt gegen etablierte Unternehmen durchzudrücken, was in Börsenprospekten gerne als “Disruption” bezeichnet wird. Regulierungen, die dem entgegenstehen, werden durch Lobbyarbeit auf politischer Ebene beseitigt. Ein prominentes Beispiel ist die Taxi-App Uber. Auf dem Taximarkt sahen sich kleinere Anbieter, die Schwierigkeiten haben, an Kapital zu kommen und kostendeckend zu operieren, plötzlich einem Riesen gegenüber, der von Silicon-Valley-Großinvestoren finanziert wurde, die bereit waren, jahrelang Milliardenverluste zu ertragen – um dann beim Börsengang abzukassieren. In New York brachte Uber mit seinen subventionierten Preisen und Konditionen die Fahrer:innen der berühmten gelben Taxis derart in Bedrängnis, dass mindestens sechs Cabbies Selbstmord begingen und andere in einen Hungerstreik traten.
Der Aufstieg der Kapital-Sammler:innen
Friedmans Doktrin hat noch einen weiteren entscheidenden Vorteil. Sie macht es einfach, den angeblichen Erfolg eines Unternehmens zu messen. Das ist entscheidend für Vermögensverwalter wie BlackRock, Vanguard oder – in bescheidenerem Umfang – die deutsche DWS Group, die über ihre Fonds an so gut wie allen wichtigen börsennotierten Aktiengesellschaften weltweit beteiligt sind. Mit der Optimierung des Shareholder Value läßt sich das Abschneiden von unterschiedlichsten Unternehmen über einen Kamm scheren. Der Jurist John Coates beschrieb den Aufstieg der Fonds-Aggregatoren in einer viel diskutierten Studie 2018 als “Das Problem der Zwölf” (Coates 2018). Gemeint ist damit, dass demnächst eine Handvoll Vermögensverwalter die Geschicke der Mehrheit der US-Unternehmen in ihren Händen haben wird. Die Möglichkeit, dass nur zwölf Personen – die CEOs dieser Finanzkonzerne – potenziell den Großteil der Wirtschaft kontrollieren, werfe dringende Fragen nach Legitimation und Verantwortung auf, schrieb Coates in dem Papier. Diese Konzentration des Kapitals findet auch im Rest der Welt zunehmend statt, wobei die Akteure meist die gleichen sind.
Zu den “Zwölf” dürfte Steve Schwarzman zählen, CEO und Gründer von Blackstone, dessen Finanzkonzern an mehr als 200 Unternehmen mit rund 500.000 Mitarbeitern beteiligt ist. Blackstone und die anderen Private Equity Firmen haben die Shareholder Value Maximierung zum Geschäftsmodell erhoben. Es besteht darin, Unternehmen und Immobilien aufzukaufen und dann so zu optimieren, dass Anteilseigner:innen so viele Mittel wie möglich aus den Übernahmeobjekten herausziehen können. Das bedeutet häufig Einsparungen, Stellenabbau oder Zerschlagung. Vor allem aber bedeutet es meist die Aufnahme hoher Schulden. Die geliehenen Mittel fließen jedoch selten in das Unternehmen zurück, etwa um neue Fabriken zu bauen oder Produkte zu entwickeln, sondern werden als “Dividenden” an die Aufkäufer ausgeschüttet. Die Schuldenlast bleibt beim Unternehmen, das dadurch anfälliger in Krisen wird. In den vergangenen Jahren haben Private Equity Firmen zunehmend Europa und besonders Deutschland ins Visier genommen (Scheuplein 2021).
Ein führender Kandidat für die “Zwölf” ist auch Larry Fink, Gründer und CEO von BlackRock. Ende 2021 verwaltete Finks Gesellschaft zehn Billionen Dollar, mehr als doppelt so viel wie das deutsche Bruttoinlandsprodukt. Rund zwei Drittel dieser enormen Summe steckt in Indexprodukten. Das sind Fonds, die das Geld ihrer Anleger:innen in ein Portfolio stecken, mit dem sie die Anleihen oder Aktien eines Indizes abbilden. Ein Dax Indexfonds etwa ist in die 40 Unternehmen investiert, die zum Deutschen Aktienindex gehören. Der Aufstieg der Indexfonds hat auch dazu geführt, dass es an der Börse nicht mehr darauf ankommt, ob einzelne Unternehmen nachhaltig geführt werden. Bis auf Ausnahmen – Schwergewichte wie Apple, Amazon oder Tesla etwa – fallen oder steigen ihre Aktien mit dem Index, egal, wie gut oder schlecht ihr Abschneiden ist. Vermögensverwalter wie BlackRock, immerhin der größte Einzelaktionär im DAX, haben weder die Ressourcen noch die finanziellen Anreize, die Manager:innen der zehntausenden Unternehmen in ihren Portfolios zu überwachen. Einige Protagonisten der Financialization scheinen sich durchaus der Folgen bewusst zu sein. So appelliert etwa der BlackRock-Chef Fink in offenen Briefen immer wieder an die CEOs seiner Portfoliounternehmen, diese sozial verantwortungsvoll zu führen. Doch Finks Bekenntnisse, etwa zu einer grüneren Wirtschaftsweise, mögen die Nachfrage nach sogenannten ESG-Fonds fördern, die ethische und klimaverträgliche Anlagen versprechen, sie ändern jedoch nichts Grundlegendes an BlackRocks Geschäftsmodell – noch an den Mechanismen der Gewinnmaximierung.
Der Ausweg: Bei den Unternehmen ansetzen
Wie aber lässt sich dies ändern? Indem wir die Unternehmen mit einem neuen, sozialeren Zweck versehen. Die Idee des Purpose findet immer mehr Aufmerksamkeit – bei Akademikerinnen, bei Unternehmern, bei Investorinnen und einigen Politikern wie etwa der Senatorin und ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Elizabeth Warren in den USA. Der Brite Colin Mayer gehört zu den Forschenden, die neue Ansätze suchen. Für den Professor (Said Business School Oxford University) ist der Zweck eines Unternehmens, eine profitable Lösung für die Probleme der Menschen und des Planeten zu finden. Gewinne sind dabei das Nebenprodukt eines erfolgreichen Unternehmens. Das Kapital eines Unternehmens dürfe nicht nur im monetären Sinne definiert werden, sondern sollte auch Kategorien umfassen wie menschliches Kapital, soziales Kapital und natürliches Kapital. Der Gewinn eines Unternehmens sollte auch daran gemessen werden, welche Kosten dabei für diese Kapital-Kategorien entstehen. Zu Recht weisen Kritiker:innen darauf hin, dass es im Gegensatz zu den klar geregelten Rechten der Anteilseigner – wie etwa die Stimmrechte der Aktionär:innen – keinen etablierten Mechanismus gibt, die Wahrung der Interessen anderer Stakeholder durchzusetzen. Anders als Finanzinvestoren sind die anderen Interessengruppen, die sich für Umweltschutz oder Menschenrechte einsetzen, deshalb kaum in der Lage, die Unternehmenslenker:innen wirksam zu kontrollieren.
Eine Voraussetzung wären Daten, die die Folgen unternehmerischen Tuns besser bemessen. George Serafeim, Professor an der Harvard Business School, entwickelt mit seinem Team Methoden, mit denen sich der Erfolg eines Unternehmens jenseits von Gewinn und Verlust nachvollziehen lässt. Intel etwa schrieben die Forscher:innen 6,9 Millarden Dollar für das Geschäftsjahr 2018 gut, weil der Halbleiterhersteller seine Mitarbeiter:innen gut bezahle und die Wirtschaftsaktivität an seinen Standorten antreibe. Auf der Minusseite zogen Serafeim und seine Kollegen dem Unternehmen dagegen 3,1 Milliarden Dollar ab. Intel beschäftige zu wenige Frauen, biete mangelnde Aufstiegschancen für Mitarbeiter:innen und zudem finde deren Gesundheit zu wenig Beachtung im Betrieb. Serafeim kommen bei seinen Kalkulationen einer ganzheitlichen Bilanz technologische Fortschritte bei der Datenanalyse zugute. Aber auch der Wille, Friedmans Doktrin etwas entgegenzusetzen, das sich genauso wie Gewinne in Dollar ausdrücken lässt (Kishan 2020).
Der Fokus auf eine Reform des Unternehmens mag vielen, die auf einen Systemwechsel hoffen, als zu klein gedacht vorkommen. Doch es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Unternehmen die wichtigsten Institutionen auf unserem Planeten sind. Wir begegnen ihnen täglich. Sie versorgen uns mit Lebensmitteln, Kleidung, einem Dach über dem Kopf. Sie gestalten unsere Umwelt und beeinflussen unsere Politiker:innen. So wie wir umgekehrt Einfluss auf sie haben: als Kunden, als Mitarbeiterinnen, als Aktionär, als Wählerinnen. Es wird Zeit, diesen Einfluss zu nutzen.
Literatur
Die Links wurden am 20. Juni 2022 letztmals überprüft.
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