Putins Querfront

Screenshot: Website Valdai-Club

Das eurasische Pendant zum Weltwirtschaftsforum in Davos ist das jährliche Treffen des Valdai-Clubs in Sotschi. Sieht man im Tessin den Auftritt vieler Staatschefs, ist an der Schwarzmeerküste die Bühne für eine One Man Show bereitet. Putins neulich gehaltene Rede verdient es, sehr beachtet zu werden. Es ist keine von besonderer Raffinesse zeugende Rede, im Gegenteil; sie folgt dem plumpen, von George Orwell beschriebenen, für totalitäre Systeme typischen Muster. Aus Krieg wird Friedenssicherung, aus militärischer Aggression wird Verteidigung, aus Fakten werden Lügen. So steige sein Land im Gegensatz zum Westen nicht in einen fremden Hof ein. Die Anstiftung zum Krieg in der Ukraine…die Destabilisierung der weltweiten Lebensmittel- und Energiemärkte seien vom sogenannten Westen zu verantwortende Eskalationsschritte. Es sind die immer wiederkehrenden Redefiguren, die Putins Demagogie bedeutsam machen, denn sie sollen ihn als einen antikolonialistischen Kämpfer erscheinen lassen.

Putin stilisiert sich als ein Führer der mit ihrem kolonialen Erbe geschlagenen Dritten Welt: Sie sehen in vielen afrikanischen Ländern…jetzt russische Flaggen. Das gleiche passiert in Lateinamerika, in Asien. Wir haben viele Freunde. Und wir müssen niemandem etwas aufzwingen. Es ist nur so, dass viele Menschen – sowohl Politiker als auch einfache Bürger – es satthaben, unter Bedingungen irgendeiner Art von externem Diktat zu leben…Und wenn sie ein Beispiel unseres Kampfes gegen dieses Diktat sehen, sind sie sowohl intern als auch extern auf unserer Seite. Die im Valdai-Club versammelten Claqueure bestätigen Putins Wahrnehmung: Lieber Wladimir Wladimirowitsch! Russland ist in der Tat der unbestrittene Anführer der neuen antikolonialen Bewegung, so ein kirgisischer Präsidentenberater.

Dieser Antikolonialismus ist nicht mehr als beschwörende Rhetorik, im Unterschied zur realen Befreiungsbewegung, die er einmal gewesen ist. Die von den weltweiten Befreiungsbewegungen durchgesetzte Nationenbildung ist im 20. Jahrhundert zum Abschluss gekommen; man denke an Indien, Indonesien, Vietnam, Angola, an all die britischen, holländischen, französischen und portugiesischen Kolonien. Weitere Nationalstaaten sind entstanden im Untergang der Sowjetunion und Jugoslawiens. Ihre nationale Souveränität ist anerkannt, ihre territoriale Integrität wenig umstritten, ein Nation Building hat das jeweilige Staatsvolk geeint. Aber die materielle Not der großen, der unteren Volksschicht ist trotz partiellen Fortschritts keineswegs beseitigt worden. Die Ausbeutung der Arbeitskräfte und der Rohstoffe ist nicht beendet. Sie geht auf kein Konto der von den Kolonialmächten lizensierten Kompagnien mehr, die – wie die britische Ostindienkompagnie – sogar über Privatarmeen verfügte. An deren Stelle sind die multinationalen Konzerne getreten. Die Waffe dieser Konzerne ist die Drohung mit Verlagerung und Deinvestition.

Heroische Vergangenheit, gegenwärtige Frustration

Es sind diese Staaten, die erst ihre Befreiung erlebten und danach die große Enttäuschung, die Putin umwirbt und die ihm Reputation verschaffen sollen. Ihr Dilemma kennt er gut: Sie müssen um die Gunst des Auslandskapitals buhlen; denn schlimmer als das anwesende Kapital ist das abwesende, das an Investition desinteressierte. Die in Sotschi versammelten Vertreter dieser Länder erinnert er an ihre heroische Vergangenheit und befeuert ihre gegenwärtige Frustration. Ihren meist in Form der Guerilla, des Kleinkriegs also, geführten alten Kampf um die nationale Souveränität gibt er als vergleichbar aus mit seinem mit militärischem Großaufgebot organisierten Überfall auf die souveräne Ukraine. Er hetzt gegen die Soße der sogenannten neuen globalen Interdependenz…, die bedingungslose Dominanz des Westens in der Weltwirtschaft und -politik und prangert die Aneignung aller natürlichen und finanziellen Ressourcen, intellektuellen, menschlichen und wirtschaftlichen Möglichkeiten des gesamten Planeten an.

Die Frustration des globalen Südens über das ausbleibende Aufschließen zu den Industrienationen des Nordens ist groß. Erst die Pandemie, dann die gestörten Lieferketten, nun die durch den Krieg verteuerten Lebensmittel: das sind die für die gegenwärtige Verzweiflung ursächlichen Faktoren. Der für den Krieg Verantwortliche sitzt vor den in Sotschi Versammelten. Aber statt ihn als Kriegsverbrecher namhaft zu machen, lassen sich die Valdai-Clubmitglieder von Putin die Welt erklären. Dies geschieht mit Hilfe antiwestlicher, mit Antikapitalismus angereicherter Klischees.

Oper Momo, Momo und die grauen Herren
(Foto: Mlpungjan auf wikimedia commons)

Man ist an Michael Endes Kinderbuch Momo erinnert und an die den Zeitdiebstahl organisierenden Grauen Herren. Putins Schurken stehlen die Souveränität von Ländern und Völkern, ihre Originalität und Einzigartigkeit…Niemand, außer denen, die diese Regeln formulieren, …hat das Recht auf originäre Entwicklung. Alle anderen müssen nach genau diesen Regeln ‚gekämmt‘ werden. Putins Antikapitalismus hat deutliche Nähe zur Rhetorik der Nazis in ihrer Anfangsphase. Ja, natürlich ziehen dieselben Staaten angesichts ihrer Wettbewerbsvorteile aus Sicht eines globalen Finanzmonopols alles aus der ganzen Welt heraus, einschließlich wissenschaftlichem und kreativem Personal, wie ein Staubsauger. Da ist es wieder, das raffende Kapital.

Wie bei den Nazis

Als besonders raffsüchtig stellt Putin seine ukrainischen Widersacher da: Sie werden von…dem Wunsch getrieben, Milliarden von Dollars in westlichen Banken zu halten, die sie vom ukrainischen Volk gestohlen haben. Sie haben es gestohlen, in westlichen Banken versteckt, und um die Sicherheit ihres Kapitals zu gewährleisten, tun sie alles, was ihnen der Westen befiehlt, wickeln es in eine nationalistische Hülle und präsentieren es ihrem eigenen Volk als Kampf für die Interessen des ukrainischen Volkes. Das ist, was in Wirklichkeit passiert – sie bereuen es nicht und kämpfen mit Russland bis zum letzten Ukrainer.

Und wie bei den Nazis stehen hinter all der finsteren Machenschaft die Vereinigten Staaten und ihre Wall Street. 5,9 Billionen Dollar wurden in den letzten zwei Jahren gedruckt…Wo ist dieses Geld geblieben? Sie gingen, um Waren auf den Weltmärkten zu kaufen, und die Vereinigten Staaten…begannen, Lebensmittel zu kaufen, weil sie eine Druckmaschine hatten. Dazu führt das Finanzmonopol – sofort gab es einen Mangel…. Geld wurde im Kampf gegen die Pandemie gedruckt, an ihre Bevölkerung weggeworfen – Lebensmittelkäufe begannen, die Preise stiegen. Und wer leidet? Allen voran die Länder Afrikas und teilweise Lateinamerikas und Asiens.

Putin hat ein mit Halbwahrheit arbeitendes Ökonomieseminar gehalten, das ihn als den Vorkämpfer einer gerechten Weltwirtschaftsordnung ausweisen soll. Profitieren soll die Mehrheit, nicht einzelne superreiche Konzerne. Wie steht es heute? Wenn der Westen Medikamente oder Saatgut für Nahrungspflanzen an andere Länder verkauft, dann ordnet er die Tötung nationaler Arzneimittel und deren Selektion an, in der Praxis läuft alles darauf hinaus. Tötung, Selektion, der Anklang an die Gaskammern – Putin hat diese Worte mit Bedacht gewählt. Seine in der Ukraine Massengräber produzierende Militärpolitik als Antifaschismus zu verkaufen, zeugt von seinem unbändigen Glauben an die Kraft der manipulativen Rede.

Effektivität des Repressionsapparates

Die Politik der Zentralbanken in ihrer Anstrengung, den Krisen des Finanzmarktkapitalismus vorzubeugen, zeitigt Widersprüche, die Putin für sich ausbeuten will. Die angeworfene Notenpresse sollte die Rezession verhindern und nun hat sie sich als ihr Beschleuniger herausgestellt. Solche Widersprüchlichkeit ist dem Kapitalismus als System geschuldet, und Putin schildert sie genüsslich. Das System selbst will er gar nicht ändern. Denn das privatisierte, ehemalige Staatseigentum ist den ihn stützenden Oligarchen als Beute zugefallen, und diese Beute darf nie in Frage gestellt werden; das ist der an Putin ergangene Auftrag. Abgeschnitten vom internationalen Zahlungsverkehr und wie Parias gemieden, fällt es der russischen Oligarchie schwer, Geschäfte zu machen und sich vom Geschäftemachen zu erholen. Ob man Putins Präsidentschaft weiterhin für funktional hält? Das ukrainische Abenteuer hat die Skepsis in der Oberschicht vermutlich wachsen lassen.

Putin umgarnt die russische ökonomische Gang nicht mit rhetorischem Antikapitalismus, sondern mit der Effektivität seines Repressionsapparats. Den gegeißelten westlichen Lebensstil genießt die russische Oberschicht und das gerne in Paris, Rom, London oder auf Malta. Dass dieser Lebensstil dekadent sei, ist die Botschaft an die große Masse der von ihm Ausgeschlossenen. In der Art aller Demagogen zeichnet er Schauer auslösende Zerrbilder der westlichen Gesellschaften mit seltsamen, neumodischen Trends wie Dutzende von Geschlechtern und Gay-Pride-Paraden. Was als Cancel Culture in den konservativen Feuilletons Furore macht, stellt Putin als westliche Staatsdoktrin vor. Sie mäht alles Lebendige und Kreative nieder, lässt in keinem der Bereiche freie Gedanken entstehen: Weder in der Wirtschaft, weder in der Politik noch in der Kultur. Putin, der Verteidiger der Gedankenfreiheit, da ist was dran. Die Gedanken in seinem Reich sind frei; nur wer sie äußert, bekommt es mit dem Gefängniswärter oder dem gedungenen Killer zu tun.

„Natürlich ganz von unten“

Screenshot: Website Valdai-Club

Und die Gilde der mit Mordauftrag regierenden Staatsmänner versteht sich untereinander. Auf Mohammed bin Salman (Kürzel MbS), den saudischen Kronprinzen, der den oppositionellen Jamal Khashoggi umbringen und seine Leiche mit der Motorsäge zerlegen ließ, kommt Putin in Sotschi zu sprechen und nennt MbS einen jungen Mann, entschlossen, mit Charakter …ich kenne den Kronprinzen schon gut persönlich, ich weiß, woran er sich orientiert,… natürlich an nationalen Interessen und den Interessen geregelter Energiemärkte…Er zielt darauf ab, die Interessen von Erzeugern und Verbrauchern auszugleichen,

Putin wiederrum gleicht seine Interessen mit denen der europäischen Rechten aus. Seine Querfront nimmt alle auf, die Pseudolinken und die es mit den traditionellen, hauptsächlich christlichen Werten, der Freiheit, des Patriotismus haltende Neue Rechte. Das alte, gediegene, christliche Europa gilt ihm als Gegenwelt des verteufelten Westens, den er aggressiv, kosmopolitisch, …Werkzeug der neoliberalen Eliten nennt. Die Phrase der Rechten hat er aufgeschnappt, wonach traditionelle Werte einzigartig seien. Sie sind einzigartig, sie sind etwas Besseres als die universellen Menschenrechte, heißt dieser Identität beschwörende Topos, der den Beifall aller autoritären Führer findet. Die traditionellen Werte, was immer das sei, spielt Putin gegen die auf die Französische Revolution zurückgehenden Bürgerrechte aus. Mit Schmeichelei will er seine Demagogie eingängig machen: Dieser Ansatz wird von der Mehrheit der Menschheit geteilt und akzeptiert. Das ist natürlich, denn es sind die traditionellen Gesellschaften des Ostens, Lateinamerikas, Afrikas, Eurasiens, die die Grundlage der Weltzivilisation bilden.

Zum Repertoire eines Agitators gehört der Hinweis auf seine einfache Herkunft. Ein Stichwortgeber und Speichellecker fragt Putin in Sotschi danach: Natürlich von ganz unten…Wie Sie wissen, ich habe oft darüber gesprochen: eine Arbeiterfamilie. Vater – Arbeiter, zuletzt Vorarbeiter, Fachoberschulabschluss; meine Mutter hatte keine Ausbildung, auch keine Schulbildung, sie war einfach Arbeiterin…Ich spüre ganz subtil den Puls dessen, womit ein gewöhnlicher Mensch lebt. Man sollte sich hüten, diese Arbeiterfolklore nur lächerlich zu finden. Aus Adornos Studien zum autoritären Charakter weiß man über die Bindemittel Bescheid, die ein Verführer handhabt und denen die Verführten erliegen.

Der Valdai-Club versammelt die intellektuellen Zuschläger der autoritären Internationale, die Putin anführen will. (Dabei ist er doch nur ein kleiner Führer im Vergleich mit Xi Jinping). Wie zu Zeiten der alten Sowjetunion kokettiert man mit proletarischer Herkunft, aber man kokettiert auch mit Bildung. Putin zitiert Poppers Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Es ist wie im Märchen. Der Wolf mehlt seine Pfoten weiß und will als ein Geißlein gelten.

Peter Kern
Peter Kern hat Philosophie, Politik und Theologie in Frankfurt am Main studiert, war kurzzeitig freier Journalist, dann langjähriger politischer Sekretär beim Vorstand der IG Metall und ist nun wieder freier Autor und Mitarbeiter der Schreibwerkstatt Kern (SWK).

1 Kommentar

  1. Eine Ergänzung und Anregung zu der politisch sehr aufmerksamen und akribischen Nachzeichnung von Peter Kern, wie und mit welcher Energie Wladimir Putin daran arbeitet, auch noch als Führer der Bewegung der Antikolonialisten zu scheinen. Peter Kern zieht aus seiner Beschreibung der Welt, die sich Putins Kopf konstruiert hat, keine Konsequenzen für die aktuelle Politik. Man könnte diese daraus ziehen: Ein Kriegsherr, der sich in diesem selbstgebauten Gedankengefängnis bewegt, der kann doch vom Westen gar nicht mehr provoziert werden. Konkret: All die Argumente vor allem von Kanzler Olaf Scholz, diese und jene Waffen dürften auf gar keinen Fall geliefert werden, sonst reagierte Putin verärgert, böse, gar noch aggressiver, all die verkümmern doch vor dieser Skizze von Kern zu realpolitisch zu vernachlässigenden Einlassungen.
    Wen übrigens interessiert zu erfahren, wie Putin und sein Umfeld bereits seit Anfang der 2000er Jahre systematisch Rolle und Mission von Russland ideologisch aufrüsten und aufwändig verfeinern, dem sei das Buch des französischen Philosophen Michel Eltchaninoff empfohlen: „In Putins Kopf. Logik und Willkür eines Autokraten.“ Das Buch wurde (in Frankreich 2015) in deutscher Sprache in 2016 publiziert; jüngst erschien eine aktualisierte Neuausgabe. Der Buchautor erkannte bereits 2015 diese zweiteilige Mission:
    Zum einen verfolge Putins Russland unter dem Namen „Russische Welt“ (Russki Mir) das Ziel, alle russischen Bürger, wo immer sie lebten, zu schützen und deren Interessen zu vertreten; nach und nach solle das für alle russischsprachigen Menschen gelten, also egal ob sie nun russische Staatsbürger seien oder nicht.
    Und zum anderen sehe sich Putins Russland als „Führung der konservativen Bewegung in Europa“ und darüber hinaus; eine Bewegung, die strikt gegen Homosexualität, Atheismus, Kosmopolitismus und jegliche Formen von emanzipativer oder unordentlicher Kunst kämpfe.
    So ist die von Kern zurecht konstatierte Querfront das Ergebnis einer beinahe zwei Jahrzehnte langer ideologischen Aufrüstung.
    Übrigens: Der hier genannte Autor und viele andere, ob Wissenschaftler, Publizisten oder (einflußlose) Politiker, belegen, dass den im Westen Verantwortlichen das Wissen darüber bereits seit langem vorlag. Die Regierenden haben sich vermutlich bewusst und wider besseren Wissens dazu entschieden, diese Analysen beiseite zu legen, um jene pragmatische und wirtschaftlich lohnende Politik zu betreiben, die nun — huch, so was, aber wer konnte das denn ahnen! — als großer Fehler erkannt wird.

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