„Der IGB-Vorstand (General Council) hat in einer außerordentlichen Sitzung am 21. Dezember beschlossen, Luca Visentini als IGB-Generalsekretär zu suspendieren, bis er am 11. März zusammentritt, um diese Angelegenheit weiter zu prüfen. Dies impliziert in keiner Weise eine Schuldvermutung“, steht auf der Website des Internationalen Gewerkschaftsbundes.
In einer Welt der rasanten Kommunikation und der öffentlichen Erwartungen, schnell auf alle etwaigen Anschuldigungen zu reagieren, lässt sich der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) Zeit. Offenbar braucht er bis zum 11. März, um zu entscheiden, ob es einen Grund gibt, an der Integrität seines neu gewählten Generalsekretärs zu zweifeln. Die Gerüchteküche läuft auf Hochtouren und die Gefahr eines massiven moralischen Schadens für die gesamte Gewerkschaftsbewegung wächst mit jedem Tag.
Was wir inzwischen wissen, ist, dass Luca Visentini ungefähr 50.000 Euro in bar von einer italienischen Stiftung angenommen hat, die offenbar Geld aus katarischen und marokkanischen Quellen erhalten hat. Hier sind die Informationen, die wir aus öffentlich zugänglichen Quellen haben:
1. Am 9. Dezember wurde Luca Visentini im Rahmen einer laufenden Korruptionsuntersuchung der belgischen Polizei verhaftet und nach 48 Stunden wieder freigelassen. [siehe auf bruchstuecke „Schlimme Fragen, hilflose Antworten: Der IGB, Katar und die Brüsseler Korruptionsermittlungen“]
2. In einem Interview mit La Republica vom 13. Dezember sagte Luca Visentini, er sei „nur deshalb in Qatargate verwickelt, weil ich an den kulturellen Aktivitäten einer vom EU-Parlament anerkannten NRO teilgenommen habe. Ich habe alle notwendigen Informationen [der belgischen Staatsanwaltschaft] zur Verfügung gestellt und ich habe auch klargestellt, dass meine Positionen gegenüber Katar niemals von irgendjemandem beeinflusst worden sind. Ich verurteile jede Form der Korruption“.
In einem weiteren Artikel, der am 15. Dezember veröffentlicht wurde, betonte er: „Ich bin unschuldig ….. Ich bin gegen jede Form von Korruption, ich bin selbst nicht korrupt, und mein größtes Anliegen ist der Ruf und das Interesse des IGB.“
3. Am 19. Dezember wurde berichtet, dass Antonio Panzeri, der Leiter der NRO ‚Fight Impunity,‘ Visentini am 10. Oktober Umschläge überreicht hatte, auf denen der Weihnachtsmann abgebildet war. Die Umschläge waren mit Bargeld gefüllt. Das Gespräch wurde von der Polizei aufgezeichnet, und Panzeri wird mit den Worten zitiert: „Wir sehen aus wie die Typen aus Ocean’s Eleven“1 .
4. Nach dieser Enthüllung gab Luca Visentini zu, dass er eine Summe von weniger als 50.000 Euro in bar von der NRO angenommen hatte.
„Ich habe diese Bargeldspende wegen der Qualität des Spenders und seines gemeinnützigen Charakters angenommen.“
„Ich wurde nicht gefragt, noch habe ich irgendetwas als Gegenleistung für das Geld verlangt und es wurden keinerlei Bedingungen für diese Spende gestellt.“
„Diese Spende stand in keinem Zusammenhang mit einem Korruptionsversuch oder mit der Beeinflussung meiner gewerkschaftlichen Position zu Katar oder zu anderen Themen.“
„Ich weise alle diesbezüglichen Anschuldigungen offen als völlig unwahr zurück.“
5. Luca Visentini behauptete, er habe das Geld verwendet, um „einen Teil der Kosten zu erstatten, die bei der Finanzierung meiner Kampagne für den IGB-Kongress entstanden sind“. Weiterhin habe er „einen Betrag an den Solidaritätsfonds des IGB übergeben, um die Reisekosten von Gewerkschaftern nach Melbourne zu bezahlen“. Offenbar hat Luca Visentini die Teilnahme einiger Delegierter am IGB-Kongress persönlich gesponsert, indem er einen Beitrag zum IGB-Solidaritätsfonds leistete.
Grundlegende Fragen stehen im Raum
Dies wirft einige grundlegende Fragen auf. Kann eine NRO, die als gemeinnützige Organisation registriert ist, einer Einzelperson ohne jegliche Bedingungen 50.000 Euro in bar geben? Ist es für den IGB akzeptabel, dass eine dritte Partei den Wahlkampf ihres Generalsekretärs unterstützt? Was genau waren die „kulturellen Aktivitäten“ der Stiftung, an denen Visentini beteiligt war, und inwieweit berühren sie die Politik oder die Aktivitäten des IGB? Wenn es sich bei den Stiftungsgeldern, die er erhalten hat, letztlich um katarische Gelder handelte, warum wurden sie gewährt? Sahen die katarischen Geldgeber eine Notwendigkeit, in die Kontinuität der IGB-Politik gegenüber Katar zu investieren?
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es unmöglich, Antworten aus öffentlich zugänglichen Quellen zu erhalten. Für die internationale Gewerkschaftsbewegung ist es jedoch von größter Bedeutung zu zeigen, dass niemand außer Luca Visentini in irgendeiner Weise mit der NRO ‚Fight Impunity‘ zu tun hat und dass weder der IGB noch einzelne Gewerkschafter:innen Unterstützung aus katarischen Quellen erhalten haben.
Die Probleme der internationalen Gewerkschaftsbewegung beschränken sich jedoch nicht auf mögliche individuelle Versäumnisse.
- Wie kann es sein, dass es innerhalb der internationalen Gewerkschaftsbewegung so wenig substanzielle politische Debatten gibt?
- Wie kann der IGB auf seinem Kongress in Melbourne alle möglichen Erfolge der Gewerkschaftsbewegung feiern, wenn Gewerkschaften in Wirklichkeit fast überall schwächer werden?
- Warum hat es in der Gewerkschaftsbewegung so wenig Debatte über den grundlegenden Wandel der IGB-Position gegenüber Katar gegeben, die von schärfster Kritik zu Lobeshymnen auf Katar überging?
- Wie kann es sein, dass grundlegend unterschiedliche Einschätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation und des IGB zur Lage in Qatar einerseits und die von arbeitnehmerfreundlichen Kampagnen- und Bürgerrechtsorganisationen oder nationalen Arbeitnehmerorganisationen wie dem britischen TUC andererseits keine Debatte innerhalb des IGB auslösen?
Die Bewältigung dieser Herausforderungen erfordert als aller erstes eine Führung, deren Integrität über jeden Zweifel erhaben ist. In diesem Sinne kann der Beschluss des IGB-Generalrats, die Wahl von Luca Visentini und etwaige Gelder Dritter im Zusammenhang mit seiner Wahl gründlich zu untersuchen, nur der Anfang sein, um die tieferen strukturellen und politischen Probleme anzugehen.
Noch keine öffentlichen Antworten
In dieser Angelegenheit wäre niemand besser geeignet, Zweifel an der Integrität des IGB zu zerstreuen als Sharan Burrow, die ehemalige Generalsekretärin des IGB. Angesichts der jüngsten Entwicklungen werden ihre Äußerungen zu Katar nun zu Recht oder zu Unrecht in einem anderen Licht gesehen, und die Gewerkschaftsbewegung muss wissen, ob ihr bewusst war, dass ihr Nachfolger, den sie nachdrücklich unterstützte, Geld von Dritten verwendete, um die Wahl zu gewinnen.
Daher habe ich Sharan Burrow, die ich seit über 20 Jahren kenne, gefragt, ob sie für ein Videointerview zur Verfügung stehen würde oder ob sie alternativ einige Fragen schriftlich beantworten könnte. Unter anderem habe ich sie gefragt:
- In einem offenen Brief an Dich wirft die Nichtregierungsorganisation Fair Square dem IGB vor, die Fortschritte Katars zu übertreiben, und fordert den IGB auf, „von öffentlichen Erklärungen Abstand zu nehmen, die die Situation in Katar falsch darstellen“. In den Anhängen des Schreibens wird ausführlich auf das Fortbestehen des Kafala-Systems, ungelöste Gesundheits- und Sicherheitsfragen, den Tod von Wanderarbeitnehmern, die Diskriminierung von Hausangestellten usw. hingewiesen. Darüber hinaus haben sich Human Rights Watch, Amnesty International, der britische Gewerkschaftsbund TUC und die BHI weitaus kritischer zu den Arbeitnehmerrechten in Katar geäußert als der IGB.
- Hat der IGB die positiven Entwicklungen in Katar übertrieben? Warum hat der IGB nicht auf der Vereinigungsfreiheit als einem nicht verhandelbaren Minimum für Wanderarbeitnehmer in Katar bestanden? Kann eine Regierung, die diese Grundrechte verweigert, ein „wertvoller Freund“ des IGB sein?
- Wusstest Du, dass Luca Visentini Geld von „Fight Impunity“ erhalten hatte, um seinen Wahlkampf zu finanzieren?
- Wusstest Du, dass Luca Visentini eine persönliche Barzahlung in den IGB-Solidaritätsfonds gemacht hat?
- Wusstest Du als Generalsekretär, an wen im IGB Luca Visentini persönlich die Barzahlung geleistet hat?
- Wer entschied über die Verwendung der Gelder und wurden die Mitglieder des IGB-Lenkungsausschusses (Executive Board) über die Zahlungen von Luca Visentini an den Solidaritätsfonds im Vorfeld seiner Wahl zum Generalsekretär informiert?
Sharan antwortete, dass sie es vorziehe, während des laufenden Verfahrens keine öffentlichen Kommentare abzugeben. Für die Gewerkschaftsbewegung braucht es allerdings dringend Antworten zu diesen Fragen.
1 Der Film gehört zum Genre der Heist-Movies. Solche Filme „zeigen Planung, Vorbereitung und Durchführung eines meist spektakulären Raubes aus dem Blickwinkel der Täter, die in der Regel auch Sympathieträger sind“.