Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht

Konflikte, zumal Großkonflikte, Kriege sowieso, haben eine innere Dynamik der Eskalation. Gegenstimmen werden als Handlangerdienste für den Gegner gebrandmarkt, unabhängiges Denken gerät zum Verrat an der eigenen Sache. Bruchstücke publizierte wiederholt divergierende Sichtweisen auf den russischen Krieg gegen die Ukraine. Mit zwei direkt aufeinander folgenden Beiträgen [„Völkisch -nationalistisches Denken hinter Kremlmauern“ schließt sich an] setzen wir diese Perspektivenpluralität fort, beginnend mit dem Interview, das Thomas Gesterkamp für der Freitag mit der Historikerin Sandra Kostner führte. Sie wendet sich gegen den Rückfall in das alte Muster der Blockkonfrontation, Gut gegen Böse. Wir danken der Freitag für die Erlaubnis, das Interview zu übernehmen.

der Freitag/ Thomas Gesterkamp: Frau Kostner, mit Ihrem Kollegen Stefan Luft haben Sie gerade einen Band zum Ukraine-Krieg herausgegeben. Der Untertitel lautet „Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht“. Warum ist aus Ihrer Sicht die Lage angespannt?
Sandra Kostner: Die NATO wie auch Russland haben sich in den letzten zwanzig Jahren in eine Konfrontationslogik hineinmanövriert. Um einen Ausweg zu finden, müsste eine Seite den ersten Schritt tun und sich offen für die Interessen der anderen zeigen.

Das klingt im Moment aber reichlich utopisch.
Sandra Kostner: Tatsächlich sind die Fronten inzwischen zu verhärtet. Leider fehlt auch auf westlicher Seite der Wille zu analysieren, wie die eigene Politik zum Konflikt beigetragen hat. Wenn man die russische Seite nur als Inkarnation des Bösen sieht, der mit aller Macht Einhalt zu gebieten ist, dann verschließt man die Tür für diplomatische Lösungen. Das ist nichts anderes als ein Rückfall in das gewohnte alte Muster der Blockkonfrontation: Gut gegen Böse.


Sandra Kostner, geb. 1974, Historikerin und Soziologin, leitet den Studiengang Interkulturalität und Integration an der PH Schwäbisch Gmünd. Mit Ste­fan Luft hat sie den Band „Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspoli­tik braucht „(Westend 2023, 352 S., 24 €) herausgegeben.

Sie schreiben über „verspielte historische Chancen“. Was wurde denn konkret verspielt?
Sandra Kostner: Es wurde die Chance verspielt, eine stabile Friedensordnung in Europa aufzubauen, die Russland einbezieht. In der unipolaren Phase ab Anfang der Neunzigerjahre, als die Vereinigten Staaten zur unangefochtenen Weltmacht wurden, haben wir besonders stark US-­Interessen zu unseren gemacht. Fatalerweise wurden diese Interessen maßgeblich von Neokonservativen in Washington beeinflusst, die eine konfrontative Hegemonialdoktrin vertreten. Die europäischen NATO­Staaten haben sich dem „The winner takes it all“­Kurs angeschlossen und gegenüber Russland eine Politik unterstützt, die massiv gegen dessen Interessen in den Bereichen Sicherheit und Geopolitik verstieß. Das Vertrauen, das Michail Gorbatschow dem Westen bezüglich der NATO-­Osterweiterung entgegengebracht hatte, wurde mit Füßen getreten.

Europa und der heraufziehende Großkonflikt USA: China

Sie plädieren für einen eigenständigen europäischen Weg in der Weltpolitik. Wie sollte der aussehen? Was meinen Sie damit?
Sandra Kostner: Ich plädiere nicht dafür, sich von den USA abzuwenden. Aber wir müssen lernen, welche Politik uns nützt und welche schadet. Es gibt dabei sehr weit auseinandergehende Interessen innerhalb der EU, aufgrund der unterschiedlichen historischen Erfahrungen der Mitgliedstaaten. Wir sollten den Ukraine­-Krieg zum Anlass nehmen zu definieren, an welchen Punkten wir Gemeinsamkeiten haben und wo amerikanische Interessen den europäischen entgegenstehen. Entsprechend sollte man kooperieren oder getrennte Wege gehen.

Sehen Sie denn irgendwo Ansätze in eine solche Richtung? Momentan schließen sich die westlichen Reihen eher im Dienst der neokonservativen Agenda.
Sandra Kostner: Das ist auch deshalb hochproblematisch, weil sich Europa damit immer weiter in den heraufziehenden Großkonflikt der USA mit China hineinziehen lässt. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron hat das erkannt. Wie deutsche Medien und Politiker auf seine entsprechende Äußerung reagiert haben, verdeutlicht, wie weit wir im Moment davon entfernt sind, eine unabhängige Politik zu betreiben.

Sie fordern „mehr Diplomatie“. Das populäre Gegenargument lautet: Das sei jetzt, wo die Waffen sprechen, ja wohl ganz klar der falsche Zeitpunkt.
Sandra Kostner: Es ist nie der falsche Zeitpunkt für Diplomatie. Dies ist eine reine Schutzbehauptung, um zu rechtfertigen, dass man nicht willens ist zu verhandeln. Denn das Verhandeln erfordert es, die Interessen der anderen Seite zur Kenntnis zu nehmen und zumindest bis zu einem gewissen Grad Zugeständnisse zu machen.

Aber so – sagen nicht wenige – würde man Putins Kriegspolitik auch noch belohnen. Ist da nicht etwas dran?
Sandra Kostner: Das ist aber unumgehbar, wenn die andere Seite nicht vernichtend geschlagen werden kann, was bei Russland als größter Atommacht der Fall ist. Man kann von westlicher Seite aus nur die ukrainische Ausgangsposition für Verhandlungen militärisch beeinflussen. Die Frage ist jedoch: Um welchen humanitären Preis? Man verpasst leicht den geeigneten Zeitpunkt: Ist die Ukraine auf dem Schlachtfeld erfolgreich, kämpft sie weiter, um ihre Position noch mehr zu verbessern. Kommt es zu Rückschlägen, will man nicht verhandeln, weil die Lage schlechter geworden ist. Dieser Teufelskreis führt dazu, dass der Krieg nicht aufhört.

Hochgradig asymmetrischer Debattenraum

In der Wissenschaft, vor allem in der sogenannten Osteuropaforschung, stoßen Ihre Positionen auf eine vehemente Ablehnung. Warum kommt von dort so wenig Kritik an der westlichen Politik?
Sandra Kostner: Die negative politische Entwicklung in Russland ist ja unbestritten. Doch das neokonservative Framing nutzt das, um eigene geopolitische Ziele zu rechtfertigen und Moskaus Interessen jegliche Legitimität abzusprechen.

Dennoch verwundert diese Einhelligkeit. In anderen Fragen oder Feldern gibt es erheblich mehr Pluralität.
Sandra Kostner: Wer in der Osteuropaforschung tätig ist, überlegt sich genau, wie man sich positioniert und ob es nicht klüger ist, diesem Framing zu folgen. Denn es könnte sonst schwierig werden mit Drittmitteln, Publikationsmöglichkeiten und Tagungseinladungen – gerade was die Kontakte zu osteuropäischen Ländern angeht, die aus guten Gründen Russland mit Argwohn und Ressentiments begegnen.

In den bundesdeutschen Medien dominiert die klare Parteinahme für die Ukraine. Andersdenkende müssen damit rechnen, als „Putin-Trolle“ oder Lumpen- und Unterwerfungspazifisten beschimpft zu werden. Was hat den Debattenraum so verengt?
Sandra Kostner: Viele wollen leider nicht mehr diskutieren, sondern ihre Perspektive durchsetzen. Das Mittel der Wahl ist dabei die Diffamierung. Mit der Unterteilung in legitime und illegitime Argumente entsteht ein hochgradig asymmetrischer Debattenraum, in dem eine Seite für ihre Äußerungen belohnt und die andere stigmatisiert und sozial bestraft wird.

Sie ziehen Parallelen zum gesellschaftlichen Umgang mit dem Coronavirus. Kann man das so einfach vergleichen?
Sandra Kostner: Was die Mechanismen der Diskursverschließung betrifft, ja. In beiden Fällen sollte und soll eine Position als alternativlos durchgesetzt werden, anstatt möglichst viele Perspektiven einzubinden. Es birgt eine gewisse Ironie, dass die Verteidigung der westlichen Wertegemeinschaft ins Feld geführt wird, um die Konfrontationspolitik gegenüber Russland und China zu begründen. Denn gleichzeitig untergräbt man eines der wichtigsten Wesensmerkmale des liberal­demokratischen Systems: die Fähigkeit zum offenen Diskurs und damit auch zur Korrektur von Fehlern. Denn Selbstkritik gilt nur in eine Richtung als legitim. Demnach war Deutschland den Russen gegenüber in der Vergangenheit zu nachgiebig und auch viel zu naiv.

Diskurswaffe Kontaktschuld

Sie lassen im Buch zwei ehemalige Politiker in Interviews zu Wort kommen: den früheren Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD) und den einstigen CDU-Verteidigungsexperten Willy Wimmer. Letzterer kooperiert inzwischen mit rechtspopulistischen Publikationen. Ist das kein Problem für Sie?
Sandra Kostner: Für uns ist entscheidend, was jemand zu sagen hat, und nicht, wo er seine Positionen womöglich auch schon einmal vorgetragen hat. Ansonsten trägt man dazu bei, dass die Diskurswaffe Kontaktschuld noch mehr an Wirkmächtigkeit gewinnt. Bringt jemand politisch inopportune Perspektiven ein, findet er kaum Zugänge in den Leitmedien. Wer dann nicht schweigen will, weil ihm wichtig ist, was er zu sagen hat, weicht mitunter auch auf problematische Kanäle aus.

Die Kanäle, die Willy Wimmer nutzt – wie etwa das AfD-nahe Portal „freiewelt.org“ oder auch seine Kontakte zu dem Verschwörungstheoretiker Ken Jebsen –, sind nun aber tatsächlich hochgradig fragwürdig.
Sandra Kostner: Vor dem Hintergrund seiner Tätigkeit in der OSZE ist Wimmer einfach sehr enttäuscht von der Haltung der US-Amerikaner. Ich würde sicher anders formulieren, aber man sollte solche Positionen nicht von vornherein ausgrenzen.

Skeptisch eingestellt gegenüber der derzeitigen Ukraine-Politik sind gerade ältere Menschen, die den Zweiten Weltkrieg noch erlebt haben oder zumindest aus den Berichten ihrer Eltern kennen. Wie sehr ist die Wahrnehmung des Konfliktes auch eine Generationenfrage?
Sandra Kostner: Die Jüngeren sind einfach in einer Zeit aufgewachsen, in der es keine Bedrohung durch geopolitisch orientierte Staaten gab und Frieden in Europa als selbstverständlich galt. Zudem, nicht unwichtig, wurde die Wehrpflicht im Jahr 2011 ausgesetzt, seither müssen sich junge Männer nicht mehr mit der Frage Kriegsdienst oder Ersatzdienst beschäftigen.

Ein sachlicher Ton prägt Ihr Buch, es ist keine Streitschrift. Wie kann eine offene Diskussion entstehen zwischen den weit auseinanderliegenden Positionen?
Sandra Kostner: Versachlichung ist die Basis für einen multiperspektivischen Diskurs. Abgesehen von knallharten Machtinteressen verhindert auch eine überbordende, moralisch geleitete Emotionalität die dialogorientierte Auseinandersetzung. Nur wer Distanz zum Gegenstand hat, kann sich ernsthaft auf die Argumente von Andersdenkenden einlassen. Wir sollten uns mit intellektueller Neugier begegnen, abweichenden Meinungen zuhören, sie mit Gelassenheit analysieren, nicht in Rechthaberei verfallen und dem Gegenüber keine unlauteren Motive unterstellen.

„Akzeptieren, dass Putin bestimmte strategische Ziele erreicht“

Sie sind Historikerin und keine Sicherheitsexpertin, trotzdem die Frage: Wie kann der Krieg nach Ihrer Meinung beendet werden?
Schon im März 2022 wurden unter türkischer und israelischer Ver­mittlung erhebliche Verhandlungsfortschritte erzielt. Leider haben sich die darin gesetzten Hoffnun­gen nicht erfüllt. Jetzt braucht es eine internationale Allianz aus Vermittlern, die Druck auf beide Seiten ausüben. Dabei wird man akzeptieren müssen, dass auch Putin bestimmte strategische Ziele erreicht, an erster Stelle die Bündnisneutralität der Ukraine. Für die Ukraine hingegen sind Sicherheitsgarantien zentral. Damit auch Russland diese akzeptieren kann, dürfen sie keine faktische NATO­Mitgliedschaft begründen.

Für die Ukraine geht es doch erst mal darum, dass Russland erhebliche Gebiete besetzt hält.
Sandra Kostner: Die Frage der ostukrainischen Gebiete ist wirklich schwierig, weil es dort auch um den Umgang Kiews mit der ethnisch-­sprachlich russischen Bevölkerung geht. Eine Option, um Russland zur Aufgabe der Territorien zu bewegen, wäre das Ende der Sanktionen und das Angebot attraktiver Wirtschaftsbeziehungen. Signale der Entspannung wären auch strategisch klug, um Russland wieder aus den Armen Chinas zu lösen. In jedem Fall sollte man sofort mit Verhandlungen beginnen.

Thomas Gesterkamp
Dr. Thomas Gesterkamp ist Politikwissenschaftler, Journalist und Buchautor. Einen Schwerpunkt seiner Arbeit bildet die Geschlechter- und Männerpolitik, zudem berichtet er über wirtschafts-, sozial-, bildungs- und kulturpolitische Themen. Er schrieb fünf Sachbücher und veröffentlichte rund 4000 Beiträge im Hörfunk, in Tages- und Wochenzeitungen sowie in Sammelbänden und Fachzeitschriften. Website: https://thomasgesterkamp.com/

3 Kommentare

  1. Es reicht: „Moskaus Interessen jede historische Legitimität absprechen“.
    Sollen wir den russischen Imperialismus, mit militärischer Gewalt Grenzen zu verschieben, mit Friede und Freude und Eierkuchen begrenzen???
    Putin-Sprech vom Feinsten.
    Nein, danke.

  2. „sich offen für die Interessen der anderen zeigen“ – also für das Intresse Putin-Ruslands, die Ukraine und mit ihr die Ukrainer und Ukrainerinnen zu vernichten und sich Osteuropa wieder einzuverleiben, ggfs. incl. der ehem. DDR und des Rest Europas? Echt? Und „akzeptieren müssen, dass auch Putin bestimmte strategische Ziele erreicht“ – so wie bei Hitler? Die Dame ist, wie sie selbst schreibt, ein Putin-Troll, und zwar ein besonders dämlicher. Warum gebt Ihr einer solchen Rechts-/Linksextremistin Raum? Ja, man muss immer debattieren. Aber doch nicht auf so unterirdischem Niveau! (Vom Freitag ist man leider wenig bessseres gewohnt)

  3. Sandra Kostners Äußerungen sind bestürzend. Und zwar hinsichtlich dreier Aspekte. Da ist die Ebene der Erfahrungen: Sie vertritt einen politischen Objektivismus, der wie ein „Glasperlen-Spiel“ daher kommt. Geopolitik und Dominanzbestrebungen hier, Interessenabwägung und Kompromisse da. Was Menschen zu tun bereit sind, und was sie wollen, fordern oder ablehnen, was sie auf sich nehmen oder missachten, all das spielt in diesem Rahmen kaum eine Rolle. Lebenserfahrung sagt, dass es so wie die Professorin Kostner es meint, nicht beziehungsweise nur in der Einbildung funktioniert. Aufschlussreich ist in der seminarmäßigen „Zusammenfügung“ Kostners, dass die Völker keine Rolle spielen, die nun mal mit den Formen russischer Machtausübung nichts (mehr) zu tun haben wollen.

    Die Ebene der Erfahrung hat einen weiteren Teil – den zweiten Aspekt: Wir im Westen verstehen buchstäblich nichts von existenzieller Friedenssehnsucht. Wir haben in der Regel nie vor dem Problem gestanden, für unsere Lieben, unsere Kinder ein angstfreies Leben herstellen zu müssen. Niemand hat uns gesagt: Dein Land und deine Regierung und deine Vorstellung vom Leben müssen verschwinden – so wie der Putinismus das tut. Da sollten wir im Westen zurückhaltend sein.

    Drittens – und da möchte ich Ivan Krastev im Wesentlichen folgen: Die Völker und deren Entscheidungen entscheiden meist die Kriege. Sie entziehen den Regierungen und den Herrschenden irgendwann das Mandat. Diplomatie ist auf diesem Weg eine Bedingung, mehr aber auch nicht; und die ständige Herumreiterei auf den ach so missachteten Möglichkeiten der Diplomatie ist nichts anderes als Fehlen von Erfahrung, als Ersetzung von Erfahrung durch Seminardenken.

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