1973 wenige Wochen vor dem Jom Kippur Krieg war ich als junger Mensch zum ersten Mal in Israel. In dem Land, in dem viele Holocaustüberlebende Zuflucht und Heimat gefunden hatten. Nicht als Teil einer Kolonialmacht, die fremde Länder erobern wollte, sondern als Verzweifelte und Geschundene. Niemand begegnete mir mit Feindschaft oder Hass. Das hat mich damals tief berührt und berührt mich noch heute. Ohne die Bereitschaft jüdischer Menschen mit Deutschen zu sprechen, mit Deutschland zu sprechen, wäre nach Ausschwitz eine Rückkehr Deutschlands in die internationale Staatengemeinschaft nicht möglich gewesen. Das besondere Verhältnis zu Israel ergibt sich nicht nur aus der Schuld, die meine Vorväter auf sich geladen haben, sondern auch aus der Dankbarkeit, dass Juden nach 1945 bereit waren, mit uns über das Unaussprechliche zu sprechen.
Beides begründet für mich ein Gebot der Solidarität mit Israel. Die tiefsitzende Angst der Juden vor der Vernichtung ist deutsches Werk. Die Entschlossenheit Israels jeder Bedrohung mit absoluter Entschlossenheit und militärischer Härte entgegen zu treten, damit sich die Shoah niemals wiederholen kann, ist deutsches Werk. Wenn man also wirklich, wie es junge Menschen vor dem deutschen Außenministerium gerufen haben, Palästina von deutscher Schuld befreien will, dann muss man mit aller Kraft für Verhältnisse eintreten, in denen jüdische Menschen keine Angst vor Vernichtung haben müssen, sondern in Frieden und Sicherheit leben können.
Das begeisterte und mancherorts bejubelte Morden der Hamas hat das absolute Gegenteil zum Ziel. Die Hamas will Angst und Schrecken unter Juden verbreiten. Sie will sie jeder Sicherheit berauben. Das als Folge ihrer Terrors tausende Palästinenser Opfer israelischer Vergeltung werden, nimmt sie dabei billigend in Kauf.
Kontext hin oder her, Verbrechen bleibt Verbrechen
Wo immer Menschen wahllos ermordet werden, fühle ich eine tiefe Verzweiflung. Für jemanden wie mich, der glücklicherweise Krieg nur vom Hörensagen und aus dem Fernsehen kennt, besteht immer die Gefahr über die nüchterne Analyse von Ursache und Folge eines Konfliktes, die Furchtbarkeit von Krieg und Zerstörung nicht wirklich wahrzunehmen. Immer finden sich zudem Menschen, die solche Taten mit höheren Gründen rechtfertigen. Die letztendlich meinen, dass der richtige Zweck auch die schlimmsten Mittel rechtfertigt. Oder die die böse Tat als unausweichliche Antwort auf das Böse der Gegner entschulden.
Manche auf der politischen Linken sehen sich nicht nur fest auf der Seite des palästinensischen Freiheitskampfes, sondern verteidigen den Terror oder äußern zumindest ein gewisses Verständnis, indem sie das Massaker kontextualisieren. Für sie ist Israel letztendlich selber schuld. Die Morde am 7. Oktober sind dann nicht das Verbrechen der Hamas, sondern die Folge der israelischen Besatzung und Unterdrückung der Palästinenser.
Es ist banal, dass nichts in einem Vakuum stattfindet und das Ereignisse nur aus dem Kontext erklärbar sind. Hamas gäbe es wahrscheinlich ohne die über fünfzigjährige Besetzung palästinensischer Gebiete und ohne die Abriegelung des Gazastreifens nicht. Aber der Kontext kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass jeder Tat eine zu verantwortende Entscheidung zu Grunde liegt. In Deutschland sind ganze Bibliotheken vollgeschrieben worden, um zu verstehen, wie das deutsche Volk so in die Irre gehen konnte. Warum Millionen Hitler zujubelten und nicht wenige sich an der Verfolgung und Vernichtung der Juden beteiligten. Die Betrachtung des Kontextes ist ein Versuch das Unfassbare zu erklären, aber Kontext hin oder her ein Verbrechen bleibt ein Verbrechen und ein Mord bleibt ein Mord.
Hamas hat nicht nur ein Massaker und seine Folgen zu verantworten. Sie steht politisch für alles, was die Linke sonst ablehnt: Diktatorische Herrschaft, religiös-fundamentalistische Intoleranz, Mord an Andersdenkenden, Korruption, keine Meinungsfreiheit, Unterdrückung von Frauen und Verachtung und Repression gegen alle Formen von LGTBQI+. Dass der Iran Hamas unterstützt hat eine offensichtliche Logik, aber als Linke? Wegen des Rechts der Palästinenser auf Freiheit und Selbstbestimmung Hamas nicht zu verurteilen, ist in meinen Augen falsch verstandene Solidarität mit dem palästinensischen Volk. Alexandria Ocasio-Cortez und Naomi Klein, zwei Ikonen der Linken, haben hier klar Stellung bezogen.
Netanjahu setzt nicht auf Lösung, sondern auf Unterdrückung
Es gehört zur bitteren Wahrheit dieses Konfliktes, dass Hamas für Netanjahu der wichtigste palästinensische Akteur zur Verhinderung einer Zweistaatenlösung war. Deshalb war er damit einverstanden, dass Qatar die Hamas finanziert. Vereinzelte Terroranschläge, Raketenbeschuss und die Spaltung der Palästinenser zwischen West-Bank und Gaza waren für ihn und seine rechtsradikalen Partner die besten Gründe, sich Verhandlungen zu verweigern und eine Zweistaatenlösung zu verhindern.
Die Politik von Netanjahu und seinen Unterstützern gegen ein Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser bietet keine Lösung, sondern setzt auf permanente Unterdrückung. Die Palästinenser leiden seit Jahrzehnten unter dem israelische Besatzungsregime. Unzählige Menschen sind gestorben, Generationen wurde und wird jede Hoffnung auf eine Zukunft verweigert. Sie sind täglich mit einem militärischen Machtapparat konfrontiert und müssen zusehen, wie Siedler ihnen Stück für Stück ihr Land wegnehmen. Die Strategie von dauerhafter militärischer Besatzung und fortgesetztem Ausbau von Siedlungen ist moralisch falsch und ein politischer Fehler.
Krieg und Gewalt können unter Umständen durchaus Konflikte lösen. Der amerikanische Unabhängigkeitskrieg, die militärische Vernichtung des deutschen Nationalsozialismus, der Algerienkrieg um nur einige Beispiel zu nennen. Doch Krieg und Gewalt lösen nur dort einen Konflikt, wo es am Ende einen klarer Sieger gibt und die Verlierer sich zurückziehen können oder vollständig kapitulieren. Das sind nicht die Voraussetzungen im Nahostkonflikt. Die Palästinenser werden sich trotz militärischer Unterlegenheit nicht unterwerfen und Israel wird nicht zögern, eine Atombombe einzusetzen, falls es sich existentiell bedroht sieht.
Zu viel Schweigen, zu wenig Solidarität
Dies bringt mich zu der Frage zurück, was unter diesen Bedingungen Solidarität mit Israel bedeutet. Ich glaube, dass es in Deutschland in den vergangen Jahren zu viel Schweigen und zu wenig Solidarität gegeben hat. Ich will hier nicht für andere sprechen, aber aus den genannten historischen Gründen halte ich mich mit Israelkritik zurück, aber gutheißen, was in den besetzen Gebieten geschieht, kann und will ich ebenfalls nicht. Also halt ich mich raus. Exemplarisch wurde das an der BDS-Debatte (Boycott, Divestment and Sanctions) deutlich. Für mich ist die Beteiligung an einer Kampagne „Kauft nicht bei Juden“ unvorstellbar, aber dass Palästinenser zum Boykott gegen Israel aufrufen, erscheint mir eine überzeugendere und legitimere Protestform als gewalttätiger Terror.
In der immer weiter nach rechts driftenden israelischen Gesellschaft wurden nicht nur Linke, sondern alle Kräfte, die an der Idee von Verständigung und Ausgleich mit den Palästinensern festhalten, an den Rand gedrängt. Während die abstrakte Solidarität mit Israel fortbesteht, nimmt nicht zuletzt deshalb ein Begegnungsinteresse mit dem realen Israel ab.
In der deutschen Gesellschaft wird unverändert an den Gedenktagen der deutschen Verbrechen gedacht. Gleichzeitig erkaltete die gesellschaftliche Empathie für Israel. Dies ist ein größeres Problem als die sichtbaren antisemitischen Demonstrationen und Straftaten. Diesen kann und muss man mit den Mitteln des Rechtsstaats begegnen. Aber Interesse, Sympathie und Empathie mit den Menschen in Israel kann man nicht verordnen. Und wenn es an ihr schon in der Mehrheitsgesellschaft fehlt, erscheint die moralische Einforderung des Bekenntnisses zu Israel von muslimischen Mitbewohnern als ein Versuch, mit moralischen Druck auf die islamische Minderheit die Leere bei der Mehrheit zu kompensieren.
Lebendige Solidarität kann nur gelingen, wenn das unverhandelbare Existenzrecht Israels nicht verwechselt wird mit unkritischer Unterstützung der Politik der israelischen Regierung. Darf man als Deutscher angesichts des 7. Oktober eine solche Kritik äußern. Ist jetzt nicht der Schulterschluss gefordert?
Wir dürfen nicht nur, sondern wir müssen. Jeden Tag sterben unzählige unschuldige Menschen in Gaza, eine unübersehbare Zahl von Binnenflüchtlingen kämpft ums nackte Leben, Siedler in der Westbank nutzen die Situation, um Palästinenser zu vertreiben und zu töten. Wir dürfen nicht über mehr als 11 000 Tote im Gazastreifen als quasi unvermeidliche Kollateralschäden des israelischen Selbstverteidigungsrechts in einem asymmetrischen Krieg hinwegsehen. Gleichzeitig bangen Tausende von Freunden und Angehörigen um das Leben der Geiseln und viele Israelis fliehen ihre Wohnungen aus Angst vor weiteren Angriffen. Die Gefahr, dass die eskalierende Auseinandersetzung zu einem regionalen Großkrieg führen, ist real.
Eintreten für eine Zweistaatenlösung
Wenn all die Toten in Israel und in Gaza nicht umsonst gestorben sein sollen, dann müssen sie zur Mahnung, ja zum Imperativ werden, dass der Status quo unhaltbar ist. Gaza in Schutt und Asche zu bombardieren wird die Hamas kurzfristig schwächen, aber ihre Wiederauferstehung eher befördern als verhindern. Eine zukunftsfähige Alternative zu einer Zweistaatenlösung gibt es nicht. Das diplomatische Festhalten der Freunde Israels an der Zweistaatenlösung , während die israelische Regierung zielstrebig an seiner Unmöglichkeit arbeitet, war unaufrichtig und ist nach dem 7. Oktober unhaltbar. Die internationale Gemeinschaft und auch Deutschland muss deutlich machen, dass die Solidarität mit Israel und das entschiedene Eintreten für reale Fortschritte in Richtung einer Zweistaatenlösung sich nicht ausschließen, sondern sich in der Tat bedingen. Eine Regierung in Israel, die sich dieser Lösung verweigert, führt das eigene Volk in eine Katastrophe. Der Weg zu einer Zweistaatenlösung ist steinig und ein Gelingen liegt nicht nur an Israel, aber die Politik von Netanjahu ist furchtbar gescheitert. Diese Politik billigend hinzunehmen oder zumindest zu tolerieren, ist falsch verstandene Solidarität. Gerade die Unterstützer Israels müssen alles tun, Israel bei einem Politikwechsel zu helfen.
Es gibt mutige und weitsichtige Menschen in Israel, die in den letzten Jahren immer wieder für Frieden und Verständigung eingetreten sind und es gibt sie auf palästinensischer Seite. Sie sind eine Minderheit und wurden in der Vergangenheit oft als naive Friedensfreunde marginalisiert. Ihnen beiden muss unsere unbedingte Solidarität gelten und es muss – auch wenn dies angesichts des furchtbaren Leids schwer vorstellbar ist – politischer Druck aufgebaut werden, damit es endlich praktische Fortschritte bei einer Zweistaatenlösung geben wird. Dies wird nur gegen Hamas und ihre Unterstützer gehen. Die militanten Siedler, aus deren Reihen schon der Mörder von Itzak Rabin kam, sind auf jeden Fall auch Teil des Problems und es ist schwer vorstellbar, dass Netanjahu Teil der Lösung sein kann. Die Menschen in Israel werden darüber entscheiden, welche Regierung sie nach der Katastrophe vom 7. Oktober haben wollen. Als außenstehender Beobachter scheint es mir allerdings, dass eine militärische Zerschlagung der Hamas ohne einen Kurswechsel in der Politik ein Pyrrhussieg sein wird.
Entschlossene Solidarität mit allen in Israel und Palästina, die trotz der Katastrophe den Mut und die Weitsicht haben, den Weg einer Zweistaatenlösung zu finden, ist das Gebot unserer historischen Verantwortung.
Danke für diesen „vernünftigen“ [s.u.] und notwendigen Artikel!
Und trotzdem gibt es einiges, das mich leider skeptischer, pessimistischer stimmt bzw. Probleme betrifft, die über das im Artikel genannte hinausgehen. Da ist zunächst die Aussage: „Hamas gäbe es wahrscheinlich [!] ohne die über fünfzigjährige Besetzung palästinensischer Gebiete und ohne die Abriegelung des Gazastreifens nicht“ – sie gäbe es vermutlich trotzdem. Denn erstens: Die Abriegelung des Gazastreifens war eine Reaktion auf die Machtübernahme der Hamas, nicht umgekehrt; zweitens und wichtiger: Hamas ist in Gaza der Ableger der Muslimbruderschaft, die 1928 [!] gegründet wurde und die zusammen mit al-Husseini, dem Mufti von Jerusalem und gemeinsam mit den deutschen Nationalsozialisten in den 1930er und 1940er Jahren eine eliminatorische Judenfeindschaft praktizierte. Deswegen ist nicht nur die Frage zu stellen (auf die es für mich trotz allen Erklärungsversuchen letztlich keine begreifliche Antwort gibt): „warum Millionen Hitler zujubelten und nicht wenige sich an der Verfolgung und Vernichtung der Juden beteiligten“, sondern auch, warum aktuell (vermutlich) Millionen der Hamas zujubeln und einen Frieden mit Israel unter keinen Bedingungen jemals akzeptieren würden. „Es ist schwer, mit jemandem Frieden zu schließen, der will, dass es dich gar nicht gibt“ (der Ursprung dieses Zitats ist mir leider entfallen). D.h. eine Zwei-Staaten-Lösung ist eine vernünftige [sic!] Perspektive; sie bleibt aber im Rational-Wünschenswerten gefangen, solange die irrationalen Aspekte nicht verstanden und gelöst werden. Guterres sagte, das Pogrom der Hamas habe „nicht im luftleeren Raum stattgefunden“ – Heiko Werning sagte dazu in der taz (10.11.23): „Was diesen Raum füllt hat einen Namen: Antisemitismus“. Und dieser Antisemitismus ist etwas Irrationales, Emotionales: eine „Leidenschaft, die ganz etwas anderes ist als ein Gedanke“ (Sartre, Überlegungen zur Judenfrage, Reinbek 1994). Eine Projektion, mit der man – vermeintliche oder real erlittene – Kränkungen auf etwas Irrationales projiziert, statt es rational zu bearbeiten. „Existierte der Jude nicht, der Antisemit würde ihn erfinden“ (Sartre, ebd.). D.h. ohne ein – schwer, aber möglicherweise leistbares – Verständnis des und eine – offensichtlich (fast?) unmögliche – Strategie gegen den Antisemitismus wird es im Nahostkonflikt keine Lösung geben. Ja, Nethanjahu steht einer Lösung im Wege, aber leider eben nicht nur er. (Siehe auch meinen Kommentar zum Beitrag von Detlef zum Winkel. „Klitterungen“).
P.S.: Herr Hoffer, bitte entschuldigen Sie, dass ich Ihren Artikel „vernünftig“ genannt habe! das sollte nicht etwa von oben herab daherkommen, sondern es ging mir darum, auf die unvernünftigen, irrationalen und emotionalen Aspekte des Israel-Palästina-Konflikts hinzuweisen.