„Sie sind Präsident, kein Politiker. Davon verstehen Sie nichts. Halten Sie sich da raus!“ Barsch herrschte Benjamin Netanjahu, Israels Regierungschef, Roman Herzog, den deutschen Bundespräsidenten, an. Herzog blieb gleichmütig, ließ die Tirade scheinbar ungerührt an sich abprallen. Als verstünde er kein Englisch. Der Dolmetscher übersetzte etwas weichgezeichnet. Was hatte Herzog verbrochen, dass er sich eine solche Suada einhandelte? Das Existenzrecht Israels in Frage gestellt? Die besondere deutsche Verantwortung für diesen Staat? Die Hauptstadt Jerusalem? Nichts von alledem. Er hatte schlicht gefragt, wie der Israeli die Lebenssituation der Palästinenser im Westjordanland einschätze. Das reichte, um sein Gegenüber explodieren zu lassen. Was dort drüben geschah, war nicht für die Augen der Weltöffentlichkeit geeignet, nicht für prominente Beobachter, erst recht nicht für deutsche. Kein Thema!
Als Vertreter der Bundesregierung begleitete ich im November 1998 den Bundespräsidenten in den Nahen Osten. Auch Ignaz Bubis (Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland), Michel Friedmann (jüdisch-deutscher Journalist), Hans Küng (dissidenter katholischer Theologe) und Friede Springer (Witwe von Axel Springer) gehörten der Delegation an. Zu Beginn der Reise hatten wir – wie bei jedem offiziellen Besuch in Israel Pflicht und Wunsch – in Yad Vashem der Opfer des Holocaust gedacht. Ein schlichter und ergreifender Akt. Wir hatten das Grab von Jitzchak Rabin besucht; der ehemalige Ministerpräsident hatte als Architekt des Friedensprozesses mit den Palästinensern 1994 den Nobelpreis erhalten und war 1995 ermordet worden. Wir hatten seine in Königsberg geborene Witwe Leah getroffen, um zu zeigen, dass unsere Sympathie den Friedensfreunden im Nahen Osten gehörte.
Und nun – Netanjahu! Es war etwas verstörend, was dieser Herr uns auftischte. Anhand der Wandkarte wurden uns die israelischen Gebietsansprüche und Sicherheitsinteressen erklärt. Für die Palästinenser blieb da nicht viel Raum. Ein Flickenteppich zerrissener Gebiete markierte ihr Gelände, dazwischen israelische Siedlungen und militärisch kontrollierte Straßen. Ein Volk oben auf Hügeln, ein Volk unten in Tälern. Die Deutschen, nachdrücklich an ihre historische Verantwortung erinnert, sollten das Szenario kommentarlos hinnehmen.
Ludger Volmer war von 1998 bis 2002 Staatsminister im Auswärtigen Amt und 1998 auf Delegationsreise im Nahen Osten. Dieser Beitrag basiert auf einem Kapitel aus seinem 2013 erschienenen, inzwischen vergriffenen Buch „Kriegsgeschrei und die Tücken der deutschen Außenpolitik“ (Restexemplare sind beim Autor erhältlich.).
Von Israel fuhren wir in die Palästinensergebiete, nach Jericho. Mit dem eigenen Bus, nicht mit israelischen Staatskarossen. Die Israelis demonstrierten ihre Macht, hielten den angemeldeten Konvoi an der Grenze protokollwidrig, fast schikanös lange auf. Herzog wich den Problemen nicht aus. Er wollte ein eigenes Bild der Lage gewinnen. Geduldig hörten wir uns auf der Westbank die verzweifelten Klagen deutscher Frauen an, die mit Palästinensern verheiratet waren. Eindrucksvoll schilderten sie das Elend des Alltags, die ständige Angst, die Perspektivlosigkeit. Die Verzweiflung war echt und erschütternd. Bei allem Verständnis – im Gespräch mit Jassir Arafat ließen wir dem Palästinenserchef dennoch nichts durchgehen. Dieser hatte mal wieder die Gespräche mit Israel abgebrochen, wir machten Druck, bis er einzulenken versprach.
Wie lange konnte ein solcher Hardliner-Kurs gut gehen?
In der Reisegruppe entspann sich eine lebhafte Diskussion darüber, ob Israel seine Sicherheitsinteressen wirklich optimal vertrat. Wie lange konnte ein solcher Hardliner-Kurs gut gehen? War der israelischen Regierung die Meinung der Weltöffentlichkeit gleichgültig? Durfte oder musste man die israelische Politik als Apartheid bezeichnen? Verlangte die deutsche Verantwortung wirklich, alles kritiklos zu schlucken? Oder hieß ernsthafte Wahrnehmung von Verantwortung, deutlich zu widersprechen, wenn die Dinge vorhersehbar eine fatale Entwicklung nahmen? Ignaz Bubis, der Liberale, der Humanist, der Freund, war tief erschüttert. Er sagte Dinge über Israel, das Land, in dem er nicht lange darauf seine ewige Ruhe fand, die ein nichtjüdischer Deutscher öffentlich nie sagen dürfte.
„Dass (Deutschland) nach den schrecklichen Verbrechen des Nationalsozialismus für den Bestand und das Schicksal des Staates Israel Mitverantwortung trägt, ist selbstverständlich, doch diese wird durch die zeitweilige Intransigenz Israels nicht gerade erleichtert. Auf der anderen Seite tut Deutschland gut daran, sich seine traditionelle Freundschaft zu den arabischen Völkern und erst recht deren traditionelle Deutschlandfreundlichkeit so weit wie möglich zu erhalten.“ Einen solchen Satz aus den Memoiren Roman Herzogs hat man vom nachfolgenden Bundespräsidenten Johannes Rau, von Bundeskanzler Gerhard Schröder oder von Außenminister Joschka Fischer damals nicht gehört.
Kurz vor der Reise konnte ich bei einer kleinen, aber feinen Aktion verhindern helfen, dass von deutscher Seite ein Schatten auf den Staatsbesuch in Israel fiel. Die Lufthansa rief mich an. An Bord einer Maschine nach Tel Aviv saß der stramm rechtsgerichtete Berliner CDU-Politiker Heinrich Lummer samt einigen Kumpanen. Ein Geheimdienst hatte die Fluggesellschaft gewarnt, die Truppe wolle im „Heiligen Land“ Rabatz machen. Der Einstieg war zwar nicht zu verhindern gewesen, aber die Herrschaften benahmen sich an Bord laut und ungebührlich. Nach Rücksprache mit mir landete die Maschine kurzerhand in Istanbul. Die schwarz-braunen Kreuzzügler wurden an die Luft gesetzt. Bei den türkischen Behörden konnte ich für die LH-Maschine einen schnellen Slot erreichen, so dass sie noch am selben Tag nach Tel Aviv kam.
Seit dem 11. September 2001 hat das Thema Nahost eine neue Dimension erhalten. Kampf dem transnationalen Terrorismus – das müsste vor allem heißen, die tiefe Verstimmung zwischen der arabischen und der westlichen Welt zu beseitigen. Wann immer man sich dem Thema nähert, drängt sich schnell ein zentraler Konflikt in den Vordergrund: der Nahostkonflikt, genauer, der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern. Hier liegt das Kernproblem, der Focus-Konflikt, andere Konflikte leiten sich davon ab, werden dadurch überformt, nähren sich daran, verbergen sich dahinter. Der Konflikt kann nicht den Terror legitimieren. Aber er ist Anlass, Vorwand, Motiv für Generationen arabischer Jugendlicher, sich vom Westen abzuwenden, den Frust über die Modernisierungskrise der eigenen Gesellschaft zu projizieren, sich zu radikalisieren. Hier findet sich der Nährboden für Terrorgruppen. Dagegen hilft letztlich kein Militär, kein Imponiergehabe. Hier ist der Dialog der Kulturen angesagt, ein Dialog, der keine abstrakte Veranstaltung für Akademiker bleiben darf, kein Sinnieren über Religionen. Hier muss mit gegenseitigem Respekt und Einfühlungsvermögen über Handfestes geredet werden, über gegenseitige Sicherheit, über Lebenschancen und Entwicklungsrichtungen, über die Beteiligung der Menschen an der politischen Gestaltung ihrer jeweiligen Gesellschaft.
„Land gegen Frieden“
Seit langem besteht in der internationalen Staatengemeinschaft Einigkeit, dass der Nahostkonflikt nur auf der Basis der Zweistaatlichkeit zu lösen sei: Die Palästinenser brauchen ihren eigenen, lebensfähigen, unabhängigen Staat, Israel die Anerkennung des Existenzrechtes und Sicherheitsgarantien. So lauten auch die Kernpunkte der „Road Map“ der internationalen Gemeinschaft. „Land gegen Frieden“ – diese Formel, wie auch immer variiert, bietet den Schlüssel zur Lösung des Konfliktes. Alles andere ist Zeitverschwendung.
Für alle bedrängten Juden dieser Welt einen sicheren Hafen zu schaffen – spätestens seit dem Holocaust versteht sich dieses Ziel von selbst und bedeutet für Deutschland eine immerwährende Verpflichtung. Einen eigenen Staat Israel zu gründen, der alle die aufnehmen will, die aus der jüdischen Diaspora in die biblische Heimatregion zurückkehren wollen – auch dieses politische Ziel, lange vor der Shoa formuliert, hat sein Recht. Aber es bedingt auch völkerrechtliche Pflichten. Denn was bedeutet es für die palästinensische Seite, für die Menschen, denen dieselbe Region seit über zweitausend Jahren ebenfalls Heimat ist?
Die Formel der deutschen Außenpolitik nach der Staatsgründung Israels lautete: Deutschland hat eine historisch begründete besondere Verantwortung für den Staat Israel. Das war und bleibt richtig. Blendet aber die andere Seite aus, die palästinensische. Nicht allein Bundespräsident Herzog empfand hier ein Defizit. Zahlreiche Außenpolitiker aller Parteien denken ähnlich, wollen aber öffentlich nicht darüber sprechen. Ich bemühte mich in meiner Zeit, die Verantwortungsformel zu erweitern: Deutschland hat eine besondere Verantwortung für den Staat Israel – und die Folgen seiner Gründung. In mehrere Resolutionen des Bundestages floss diese Formel ein. Sie hieß nicht weniger, als dass wir uns auch um das Schicksal der Palästinenser zu kümmern hätten. Heute, 2023, ist die Formel vergessen.
Manch ein politischer Kopf leitete die Idee eines eigenen Palästinenserstaates nicht aus genuinem palästinensischem Recht ab, sondern aus den Sicherheitsinteressen Israels. Israel könne langfristig nur überleben, wenn ein friedliches Palästina an seiner Seite existiere. Das hieß Zweistaatlichkeit, das hieß Palästinenserstaat. Das schien den Konsens wiederzugeben, doch perspektivisch gesehen war es einseitig. Denn die Palästinenser wollten ihren eigenen Staat nicht als Zugeständnis Israels, als rationales Kalkül dortiger Sicherheitspolitik, sondern als eigenen völkerrechtlichen Anspruch. Sie wollten nicht abhängig sein von den innenpolitischen Stimmungsschwankungen in Israel, vom dortigen Wechsel der Strategien. Auch wenn der Endstatus gleich aussah, Weg und Begründung waren unterschiedlich. Ein Staat aus eigenem Recht oder ein Staat als Geschenk des Nachbarn? Das ist nicht weniger als der Unterschied zwischen Emanzipation und Kolonialismus. Wer den arabischen Stolz kennt, auch das tiefe Minderwertigkeitsgefühl der Palästinenser wegen der vergeudeten Jahre, der weiß, dass dieser Unterschied entscheidend ist.
„Im Weg muss das Ziel schon durchscheinen“
Im Februar 2004 war ich als Leiter einer Delegation wieder in Israel. Staatschef Ariel Sharon ließ gerade die Mauer bauen. Auf dem Weg von Tel Aviv nach Jerusalem hörten wir im Autoradio von einem entsetzlichen palästinensischen Selbstmordattentat auf einen israelischen Bus. Zahlreiche Fahrgäste, unter ihnen Schulkinder, waren ermordet worden. Wir fuhren sofort zum Tatort, den wir zwei Stunden später erreichten. Die Spuren waren schon fast völlig beseitigt. Wir legten einen Kranz neben die Blumengebinde. Wer das getan hatte, durfte nicht mit der geringsten Sympathie rechnen und sei sein politisches Anliegen noch so berechtigt. Mir fiel der Philosoph Ernst Bloch ein: „Im Weg muss das Ziel schon durchscheinen“, hatte er von den Reformern und Revolutionären gefordert, die von der „Dunkelheit des Augenblicks“ in die „offene Adäquatheit“ fortschreiten wollten. Das hieß im Umkehrschluss: Was im Weg durchscheint, ist das Ziel. Wer Terror verbreitet, dem kann man nicht abnehmen, dass er eine humane Zukunft anstrebt. Ein terroristischer Weg weist in eine Gesellschaft, die auf Terror gründet. Die Palästinenser verspielten die Sympathie, die ihr Elend ihnen eingebracht hat.
Dann fuhren wir weiter zur Mauer. Ein martialischer Anblick. Die Assoziation an Berlin war unvermeidlich. Die Israelis hatten den ausgebrannten Bus bewusst vor der Mauer drapiert – als „sinnstiftendes“ Zeichen. Diese Mauer sollte Selbstmordattentäter abhalten. Vielleicht erfüllt sie diesen Zweck. Zu wünschen wäre es. Aber vielleicht schürt sie auch nur mehr Hass und mehr Unverständnis. Denn sie zerschneidet palästinensische Siedlungen, schneidet Häusern den Garten und Kindern den Schulweg ab, umzingelt Siedlungen wie Bethlehem fast rundum. Sie folgt nicht der Grenze von 1967, der grünen Line, die in den internationalen Diskussionen als Grenzlinie eines eigenen Palästinenserstaates figuriert. Sie verläuft auf palästinensischem Gebiet, gemeindet illegale jüdische Siedlungen in den israelischen Staat ein. Diese Mauer mag schützen, aber sie ist ein Monument aggressiver Vorwärtsverteidigung, die der anderen Seite die Luft zum Atmen nimmt. Kurzfristig mag sie für Israel ein Sicherheitsgewinn sein, aber prinzipiell bildet sie ein weiteres Hindernis im Friedensprozess und einen Stein des Anstoßes.
Wir ließen uns die Strategie der Regierungsseite erklären, sprachen mit der israelischen Opposition. Und wir reisten nach Palästina, trafen Jassir Arafat in seinem Bunker in Ramallah – einer der letzten internationalen Kontakte vor seinem Tod. Wir waren keine Anhänger Arafats, obwohl auch er den Friedensnobelpreis erhalten hatte, wussten, zu welchen Winkelzügen er fähig war. „In Englisch, nach Westen, redet er als Taube, in Arabisch Richtung Osten als Falke“, warfen seine Gegner ihm vor. Aber man brauchte nur nach Bethlehem zu fahren oder in den von Israel besetzten Gazastreifen, um die verzweifelte Lage der Palästinenser zu erkennen. Und wenn Arafat mit seinem doppelten Gesicht sich nicht durchsetzte? Konnte er eindeutig einen Verständigungsfrieden propagieren, wenn Israel es nicht dankte? Musste er nicht durch Rhetorik versuchen, ein Überlaufen der frustrierten Massen zur radikalen Hamas zu verhindern? Heute sind seine früheren Kritiker klüger.
Gaza wäre, so dachten wir bei unserem Besuch in diesem Streifen, selbst wenn Israel die Besatzung beenden würde, für sich genommen nicht lebensfähig. Auch die begleitenden Direktoren des UNO-Hilfsprogramms waren mehr als skeptisch. Sie waren froh, dass deutsche Politiker endlich einmal ins Zentrum der Probleme schauten, sich ihre unverblümten Analysen anhörten. Und sie hatten große Sorge: „Gaza wird zum Ghetto. Es ist von israelischem Gebiet umgeben, aber abgeschnitten von den dortigen Arbeitsplätzen, kann sich nicht selbst versorgen. Es wird am Tropf der internationalen Gemeinschaft hängen, ein Sozialhilfefall. Wir zahlen die Zeche, und hier entsteht eine neue Brutstätte für Militanz.“ Die Sorge konnte man teilen. Wir versuchten, Hamas-Sympathisanten den Terror auszureden. Aber auch Gemäßigte beklagten, ohne eine Räumung der Siedlungen auch in der Westbank und ohne Verbindung des Gaza-Streifens mit dem Westjordanland würde es keine Lösung geben.
Böse Spekulation?
Dies ist der springende Punkt. Welches strategische Ziel verfolgte Ariel Scharon? War die von ihm angekündigte Räumung des Gaza-Streifens der Auftakt zu einer ernsthaften Zweistaatenpolitik? Würde die weitgehende Räumung der Westbank folgen? Oder ging es darum, Druck abzulassen, den Gazastreifen aus Gründen der Frontverkürzung zu räumen, um die Westbank umso fester halten zu können? Und die illegalen Siedlungen rund um Jerusalem? Um von einem palästinensischen Flecken durch israelisch kontrolliertes Gebiet zum anderen, um von Stadt zu Stadt zu kommen, benötigten die Palästinenser Passierscheine. Das galt selbst für ihre Parlamentarier, die zu offiziellen Terminen nach Ramallah wollten! Wie sollten sie so eine Demokratie aufbauen? Autonomie von Israels Gnaden, das konnte nicht die Lösung sein. Separierte Entwicklung von zwei Gesellschaften auf demselben Territorium – kannten wir das nicht aus einer anderen Weltgegend?
Im israelischen Friedenslager zirkulierte ein Papier, der sogenannte „Scharon-Plan“. Er war über 10 Jahre alt. Zu sehen war die Westbank mit roten Punkten und einem dicken schwarzen Strich. „Das sind die Siedlungen und die Mauer. Alles von langer Hand geplant, um die Westbank einzugemeinden“, lautete die Analyse der „Peace now“-Aktivisten. „Er wird Gaza räumen und in einem Zustand hinterlassen, der ihm als Beweis für die Unfähigkeit der Palästinenser zur Selbstverwaltung dient. Darauf gestützt wird er die Westbank unter Kontrolle halten.“
Böse Spekulation? Damals gewiss, doch wenige Jahre später erwies sich diese Befürchtung als berechtigt. Hätte Scharon den Rückzug aus dem Gaza-Streifen nicht einseitig verkündet und realisiert, sondern mit den gemäßigten Palästinensern, mit der Fatah, verhandelt, wie wir Europäer ihm dringend nahelegten, so hätte er diese zugleich gestärkt. Sie hätten den israelischen Abzug als Ergebnis ihrer verständigungsorientierten Politik ausgeben können. In den Augen der palästinensischen Bevölkerung hätten Verhandlungen der Fatah mit der israelischen Regierung Fortschritte gebracht. So aber konnte die Hamas profitieren. Sie brach in Triumphgeheul aus und behauptete, ihre militante Politik habe die Israelis vertrieben und den Sieg gebracht. Wie schon vor einigen Jahren, als Israel sich aus dem Südlibanon zurückzog, was von palästinensischer Seite nicht gedankt wurde.
Ob dieser Effekt in Scharons Absicht lag? Jedenfalls konnte er anschließend verkünden, über die Westbank gebe es nichts zu verhandeln, weil auf der anderen Seite ernsthafte Gesprächspartner fehlten. Für Uri Avnery – inzwischen greiser Held des Exodus und der Gründungskriege, der damalige „Terrorist“ und heutige Friedenskämpfer, unser Freund und Berater – war bei unserem Besuch die Sache klar: Scharon plane parallel zur Freigabe Gazas die faktische Annexion der Westbank.
Wir sprachen mit der Hamas in ihrem Hauptquartier in Gaza. Mit ihr zu reden ist eine Zumutung. Viele dort propagieren einen Sieg über Israel und glauben auch daran. Nicht unbedingt sofort, nicht unbedingt militärisch, hin und wieder hört man, die Juden müssten ins Meer zurückgetrieben werden. Die meisten setzen auf den demographischen Faktor. Raketen auf Israel dienen dazu, Zeit zu schinden, einen Frieden zu verhindern, damit der demographische Faktor Wirkung entfalten kann. Die Geburtenrate der Palästinenser ist enorm hoch, in einigen Jahrzehnten wird die Gesamtzahl der Nicht-Juden im Gebiet von Israel einschließlich der annektierten Westbank die der jüdischen Bewohner übertreffen. Was dann?
Sollte Israel keine zwei unabhängigen Staaten zulassen, mit einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit im Kernland von 1967, sondern die Kontrolle über die Westbank erhalten wollen, dann gäbe es folgendes Szenario: Entweder wäre Israel demokratisch oder es wäre jüdisch. Entweder ließe man eine palästinensische Mehrheitsbildung zu und verlöre damit die jüdische Prägung des Staates oder man setzte das Judentum durch auf Kosten der Demokratie. Theodor Herzls Vision jedenfalls von einem jüdisch-demokratischen Israel, von Erez Israel, wäre verspielt. Und das Westjordanland würde als halbautonomes Gebiet, mit eigener Verwaltung, aber ohne gesamtstaatliche demokratische Rechte mitgeschleppt? Bantustan, Homeland – vergleichbare Pläne hatten im Südafrika der Apartheid keinen Bestand.
Diplomatisch bestimmt unkorrekt
Auch auf israelischer Seite gibt es Fantasten eines Siegfriedens. Bei unserer Reise trafen wir eine Sprecherin der Partei russischer Einwanderer, eine freundliche, gemütlich wirkende Frau. Das Gespräch über die Lebenslage in Israel, die Arbeitslosigkeit, den geplagten Mittelstand, den inneren Rassismus plätscherte dahin, bis sie mit ihrem Vorschlag zur Palästinenserfrage aufwartete: Putin, Tschetschenien, Flächenbombardierung…es war manchmal schwer für uns, die Contenance zu wahren.
Eine isolierte Stimme? Was soll man von folgender Szene halten? Der israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor, der Friedensstratege, der Glücksfall für die israelisch-deutschen Beziehungen, und sein Team waren vom konservativen Likud abgelöst worden. Ein neuer ranghoher israelischer Diplomat machte seinen Antrittsbesuch bei mir im Auswärtigen Amt. Ohne Umschweife kam er zur Sache. Sinngemäß: „Das ganze Hin und Her der Verhandlungen bringt doch nichts. Warum nicht eine radikale und endgültige Lösung? Warum sollen die Palästinenser auf der Westbank bleiben, eine energische Aktion, und sie sind draußen. Das dauert ein paar Wochen, das muss die Welt aushalten, aber dann ist Ruhe und alle gewöhnen sich daran. Tun sie doch immer. Was würde Deutschland davon halten?“ Ich lehnte entschieden ab, schaffte es noch, das Gespräch zu einem höflichen Ende zu bringen. Diplomatisch bestimmt unkorrekt, habe ich mit diesem Herrn, der ein ganzes Volk deportieren wollte, nie mehr ein Wort gesprochen.
Es ist schwierig für uns Deutsche, angesichts des Holocaust hier die richtigen Worte zu finden. Die israelischen Falken haben die Erfahrung gemacht, dass sie uns mit diesem Argument immer wieder zum Schweigen bringen, zur Loyalität zwingen können. Die Araber dagegen verlangen von uns, diesen „Komplex“, wie sie es nennen, zu überwinden. Die Wahrheit muss irgendwo dazwischen liegen. Verantwortung für den Staat Israel und die Folgen seiner Gründung – wir haben die Verpflichtung, auch den Palästinensern zu ihrem Recht zu verhelfen wie den Israelis zu ihrem gesicherten Frieden.
Nicht alle in der arabischen Welt meinen es gut, wenn sie uns Ratschläge geben. Gerade wenn man sich etwas näher einlässt, wenn es familiärer wird, die Gespräche offen werden, hört man so manche bizarre Äußerung: „Ihr Deutschen und wir Araber wissen, wie man mit Juden umzugehen hat.“ Widerwärtig. Bei solchen Äußerungen ist unzweideutige Distanzierung angesagt. Keine Kumpanei mit Antisemiten! Wie weit geht diese Haltung in der arabischen Welt? Leider ist sie zu häufig anzutreffen.
Die offiziellen Äußerungen sind milder geworden. Die Arabische Liga hat angedeutet, Israel anzuerkennen und damit auch seine Sicherheit zu akzeptieren, wenn Israel umgekehrt den palästinensischen Anspruch anerkennt. Es gibt also zumindest die Bereitschaft zur Duldung. Wenn dem Bekenntnis aber nicht entsprechende Taten folgen, können die unterschwelligen, teils gruseligen Stimmungen leicht wieder überhand gewinnen. Unabdingbar aber sei, so ist allenthalben zu hören, ein Stopp der israelischen Siedlungspolitik.
Bei einem offiziellen Besuch im Jemen im Mai 2002 spreche ich außerhalb des Protokolls meinen direkten Counterpart an, einen smarten, in westlichem Stil gekleideten Mann: „Stimmt es, dass die Hamas im Jemen besonders viel Geld sammelt?“ „Wir sind das Kernland Arabiens. Alle kommen gern. Sie auch. Und alle guten Muslime geben Almosen, wie der Koran es verlangt.“ „Wenn die Hamas auf dieses Geld angewiesen ist, können Sie dann nicht darauf drängen, dass sie die Selbstmordattentate einstellt?“ „Wir haben keinen Einfluss darauf.“ „Können Sie nicht wenigstens darauf drängen, dass sich die Hamas auf militärische Ziele beschränkt?!“ „Würde Europa Hamas dann wertschätzen?“ „Das nicht, aber die Palästinenser würden nicht alle Sympathien verspielen.“ „Warum fordert ihr nicht von Israel, die besetzten Gebiete zu räumen?“ „Wir Deutsch…“ „Wir mögen euch Deutsche, wir verstehen uns gut. Aber ihr müsst wieder selbstbewusster werden.“ „Wir haben eine besondere Verantwortung…“ „Wir auch…“
Der Hauptvorwurf der Araber an die westliche Welt lautet: „Ihr habt doppelte Standards. Ihr setzt die Regeln, die ihr aufstellt, nicht gleichermaßen gegenüber allen durch.“ Zielscheibe der Kritik sind vor allem die USA, aber auch wir Europäer kommen nicht ungeschoren davon, weil wir den USA nicht genügend eigenes Profil entgegensetzten. Atomare Rüstung in der arabischen Welt werde bekämpft – das Atomwaffenarsenal Israels toleriert. Antisemitismus werde angeprangert, die Vertreibung der Palästinenser aber hingenommen. Ein Staat Israel werde anerkannt, das Staatenbildungsrecht der Palästinenser unterlaufen. Ganz von der Hand zu weisen ist diese Kritik nicht. Doch auch die Araber haben ihre doppelten Standards: Immer wieder betonen sie gegenüber ihren Kritikern, der Islam sei eine Friedensreligion; doch nach den Freitagsgebeten sammeln sie Geld für die Hamas.
Auf einem „Barcelona-Treffen“ der Anrainerstaaten des Mittelmeeres stand ich mit Uri Avnery, der für Israel den Dialog suchte, zusammen. Wir waren uns einig: Mit ihren Despotien hielten die arabischen Potentaten Völker zusammen, die von den Kolonialmächten, ohne gefragt zu werden, in einen gemeinsamen Staat zusammengepfercht worden waren. Nicht alles, was zusammenkam, gehörte zusammen. Die Despoten hielten die Fiktion aufrecht, die ehemaligen Kolonien könnten nach Gewinn der Souveränität als Nationen in denselben Grenzen weiterleben. Die Fiktion trug zur Sicherheit bei, auch für Israel, wenn auch zu einer trügerischen. Was würde geschehen, wenn Zentrifugalkräfte die Staaten auseinanderrissen? Die Umwälzungen in der arabischen Welt machen deutlich, dass Machtverschiebungen zugleich Destabilisierung und regionale Unsicherheit bedeuten können.
Ein faszinierendes Entwicklungsmodell
Ende der 1980er Jahre gab es Visionäre für den Nahen Osten. Shimon Peres und Jassir Arafat hatten beide dieselbe Idee. Israel, Palästina und Jordanien sollten, wie die Beneluxländer, eng zusammenarbeiten, den Kern einer integrierten Wirtschaftsregion Nahost bilden. Das war ein faszinierendes Entwicklungsmodell. Wenn man hierhin doch wieder zurückkommen könnte!
Es gibt Kräfte in beiden Lagern, die dies wollen. Die sogar den Lagerbegriff aufgelöst haben. In Genf haben sie am 1. Dezember 2003 eine gemeinsame Initiative begründet, friedenswillige Israelis und friedenswillige Palästinenser. Sie sind alle Streitfragen durchgegangen und haben für jedes einzelne Problem eine Lösung erarbeitet. Friede wäre möglich. Ein Verhandlungsfriede auf der Basis eines gerechten Interessenausgleichs. Aber warum hat die „Genfer Initiative“, getragen vom ehemaligen israelischen Justizminister Jossi Beilin und dem palästinensischen Informationsminister Jassir Abed Rabbo, so wenig Unterstützung bekommen? Auch die rot-grüne Bundesregierung reagierte nur halbherzig, als ich sie 2004 im Namen der Koalitionsfraktionen in den Bundestag einbrachte, wo sie mehrheitlich begrüßt wurde. Sie war kein Gegenmodell zur „Road Map“ der internationalen Gemeinschaft, sondern eine konkrete Ausgestaltung.
Zu viele Hardliner stehen dagegen, die ihr innenpolitisches Gewicht in gleichermaßen korrupten Gesellschaften aus der Feindschaft mit dem Nachbarn ableiten. Vielen ist die Gefahr zu groß, dass die Verständigung mit der anderen Seite so gravierende Brüche auf der eigenen provoziert, dass es zum Bürgerkrieg kommt. Im einen wie im anderen Land. Lieber Krieg zwischen den Staaten und Frieden im Inneren als zwischenstaatlicher Friede und Bürgerkrieg im eigenen Land. Für die Welt aber und für den Kampf gegen den internationalen Terrorismus ist dies keine Lösung.