
„Matrix der Arbeit“ nennen sich die sieben Bände der umfassenden „Materialien zur Geschichte und Zukunft der Arbeit“, die das gleichnamige Institut, finanziert und geleitet von Horst Neumann, im September 2023 herausgebracht hat. Der Name „Geschichte und Zukunft der Arbeit“ geht zurück auf eine Konferenz des Jahres1999 und einen Sammelband mit diesem Titel, den Jürgen Kocka und Claus Offe mit den Referaten dieser Tagung publizierten. Jürgen Kocka ist auch ein entscheidender Ideengeber für das Projekt „Matrix der Arbeit“.
Das Werk hat eine zentrale Botschaft: Die fortwährende Produktivitätsexplosion in der Geschichte der Arbeit mündet in ein Ende der Knappheit an Gütern und Dienstleistungen und eröffnet die Chance „auf das Ende von Kriegen, Patriarchat, Armut und für ein lokales und globales Miteinander“ (Bd. 1, S. 12).
Wir bekommen auf dem aktuellen Forschungsstand eine Entstehungsgeschichte des Menschen, eine Klima-, Bevölkerungs-, Wirtschafts-, Technik- und Energiegeschichte sowie sehr am Rande eine Geschichte der Kommunikation und des Alltagslebens geliefert. Der Produktivität, verstanden als der mit immer verbesserten Werkzeugen und Techniken innerhalb einer bestimmten Zeit erbrachte Output, gilt das zentrale Interesse der Matrix. Daher wird ihre Steigerung in Output-Rechnungen und Kennziffern in allen Bereichen und Epochen detailliert dargestellt. Ähnlich die Werkzeuge und Techniken, die die Produktivitätssteigerung ermöglichten. Die Kommunikation kommt im Vergleich dazu zu kurz. Das Alltagsleben fehlt fast völlig.
Dieses Kompendium an Wissen und seine Aufarbeitung in Matrizes – Nomen es Omen -, Grafiken und Tabellen ist beeindruckend, manchmal droht einen die Fülle der Daten zu erschlagen. Die Verwendbarkeit der Matrix für Lehrende und Lernende, für gewerkschaftliche Bildungsarbeit, Managementausbildung und wissenschaftliche Arbeit ist enorm. Dafür gebührt dem Team, das unter der Leitung von Oliver Nachtwey, Christian Kellermann und Cornelius Markert stand, uneingeschränkte Anerkennung.
Die „Matrix“ besteht aus sieben Bänden mit über 2000 Seiten, zwischen 2016 und 2023 erarbeitet, nach meinem Verständnis in drei Teile gegliedert: Den Teil eins bilden die drei Bände, die sich chronologisch mit der Entwicklung von Arbeit und dem gesamten skizzierten Umfeld befassen, von der langen Vor- und Frühgeschichte über die Agrikulturepoche bis hin zur relativ kurzen Zeit der kapitalistischen Marktwirtschaft. Teil zwei besteht aus den zwei Bänden die, wiederum geschichtlich abgeleitet, die Entwicklung „Großer Trends“ darstellen unter 14 naheliegenden, aber irgendwie beliebigen Stichwörtern wie Klima, Bevölkerung, Technik, Armut und Reichtum, Arbeitszeit und Arbeitslosigkeit, Patriarchat. Der dritte Teil ist das Herzstück und entwirf die Perspektiven für die „Zukunft der Arbeit“, wiederum geschichtlich abgeleitet aus den Epochen und Trends. Mit einem umfassenden Datenband wird die Matrix abgeschlossen.
Von den Wildbeutern zum Kapitalismus
Das Team leitet die gewählte Periodisierung aus geologischen und archäologischen Befunden ab. Sie setzen ca. 290.000 Jahre für die „Wildbeuter“ Gesellschaft der Jäger und Sammler als reine Subsistenzgesellschaft an. Ab 10.000 vor heute (vh) bzw. 8000 v.Chr. (Die Matrix verwendet für die Zeit vor Chr. eine eigene Größe „vor heute“ vh, wobei heute das Jahr 2000 ist) datieren sie die Agrikulturepoche bis Ende des 18. Jahrhundert, noch dominiert von Subsistenzwirtschaft, aber mit immer mehr Tausch- und geldbasierten Handelsgeschäften. Danach beginnt und dauert bis heute die Epoche der kapitalistischen Marktwirtschaft, beherrscht vom Gewinninteresse privater Kapitaleigentümer.

Für die 290.000 Jahre der „Wildbeuter“-Zeit werden Lebensweise und Lebensumständen eher positiv bewertet, mit begrenztem Zeitaufwand für die Subsistenz-Arbeit und viel freier Zeit. Es ist eine Zeit ohne Hierarchien und Patriarchat, obwohl schon eine geschlechterspezifische Rollenverteilung bei Kindererziehung und Essenszubereitung einerseits, Jagen und Sammeln andererseits sowie die Existenz von Gruppenkämpfen ebenso wie Mühsal und Plage durch Arbeit konstatiert werden. Aber Kriege und Hierarchie gibt es noch nicht. Die anschließende Agrikulturepoche wird in zwei Abschnitte geteilt. Im zweiten Abschnitt ab 5000 vh entstehen Hierarchie, Patriarchat und Krieg. Sie sind Folge von Verteilungskämpfen um „Überschuss“, der zwar dank technischer Innovationen in der Landwirtschaft vorhanden, aber knapp ist.
Ein eigener Abschnitt über die Zeit zwischen ca. 1000 und 1750 v.Chr. wäre aus meiner Sicht angemessen. Jetzt wird dieser Zeitraum einerseits als Endstadium der Agrikultur und andererseits als Vorlauf des Kapitalismus beschrieben. Das würdigt diese Jahrhunderte in ihrer Eigenständigkeit und Bedeutung nicht angemessen. Denn in diesem Zeitraum sind globaler Handel und Kolonialismus, die Grundlagen der Organisation von Arbeit und Technik, von Freiheit und Menschenwürde, von Wissenschaft und Humanität, von Geistes- und Religionsfreiheit, von Aufklärung und Vernunft entstanden, die auch Voraussetzungen der kapitalistischen Marktwirtschaft bilden. Gerade in Bezug auf die Differenzierung von Arbeit, der Entwicklung von Handwerken und Berufen, der ersten Organisations- und Widerstandsformen der Arbeitenden hätte diese Zeit mehr Aufmerksamkeit verdient.
Die kapitalistische Marktwirtschaft wird in zwei Abschnitten erfasst: Die Zeit von ca. 1780 bis 1880 v.Chr. am Beispiel des Manchesterkapitalismus mit der ersten industriellen Revolution und dem Fabrikwesen als das „Englische Jahrhundert“; die Zeit von 1880 bis heute am Beispiel der USA gekennzeichnet durch Taylorismus und Fordismus , durch Massenkonsum und den Aufstieg der arbeitenden Bevölkerung. Diese exemplarische Darstellung wird verständlich begründet, führt aber dazu, dass Deutschland als die führende Industrienation nach England und den USA in dieser Zeit in der Matrix kaum eine Rolle spielt. Das Wechselspiel von Revolution und Restauration, zwischen Frieden und Krieg, das zwischen 1830 und 1950 die Entwicklung der Arbeiterklasse und der Arbeitsgesellschaft bestimmt, fehlt fast völlig. Damit wird auch ausgeblendet, dass gerade der Beginn der kapitalistischen Produktionsweise, trotz der Produktivitätsexplosion, die bis dahin schlimmsten Kriege und Katastrophen hervorgebracht hat. Sie lassen sich nicht nur mit Verteilungskämpfen um den dank der industriellen Revolution größeren, aber immer noch knappen Überfluss erklären. Gerade diese Zeit legt andere Triebkräfte menschlichen Handelns offen, die unabhängig sind vom Stand der Produktivitätsentfaltung.
Ein zu enger Begriff der Arbeit
Arbeit wird definiert als „zielgerichtete menschliche Tätigkeit zu Bereitstellung der Lebensmittel oder Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse“ (Bd. 1, S. 41), als „notwendige gemeinschaftliche Tätigkeit, mit dem Ziel, das Leben zu erhalten und über das Nötigste hinausgehende Bedürfnisse zu befriedigen“ (Bd. 1, S. 47). Gebraucht wird der Arbeitsbegriff aber technisch-instrumentell verengt, weil er menschliche Arbeit nur als erstes Glied einer Technikkette behandelt. Deshalb finden wir in der Matrix eine Fülle von Daten und Fakten über alle Epochen hinweg – über die Zahl der Menschen, die in einer Epoche geboren wurden, über Tätigkeiten und Zeitbudgets, über Werkzeuge und Techniken zur Hand- und Kopfarbeit –, aber fast nichts darüber, wie sich gesellschaftliches Leben abgespielt haben mag, sehr wenig über Religion und Kultur, über Feiern und Feste, die neben der Mühsal und Plage in allen Epochen auch in Wechselwirkung zur Arbeit standen.

In unterschiedlichem Maße haben sich Menschen in allen Epochen trotz Schinderei und Plackerei mit ihrer Arbeit identifiziert und waren stolz auf die Ergebnisse. Dies hätte in einer Matrix der Arbeit auch zur Sprache kommen müssen mit derselben Intensität wie andere Bereiche. Der arbeitende Mensch würde lebendig und nicht nur als erstes Kettenglied der Produktivitätsmaschine sichtbar. Ich meine die geschichtliche Entfaltung dessen, was Jürgen Kocka 2016 in seinen initiierenden Thesen zur Geschichte und Zukunft der Arbeit formuliert hatte: „Dennoch, bis 1800 hatte sich in der westlichen Zivilisation der Arbeitsbegriff ein Stück weit aus seiner früher dominanten Verbindung zu Kampf, Not und Mühsal gelöst, aufs Schöpferisch-Kreative hinbewegt und als Kern menschlicher – jedenfalls bürgerlicher – Identitätsbildung empfohlen.“
Auch die Einbettung der Arbeit in die gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen ebenso wie die sozialen Auseinandersetzungen in der und um die Arbeit kommen in den geschichtlichen Abschnitten kaum vor. Im Lauf der Agrikulturepoche und danach wird die immer differenzierter aufgeteilte Arbeit in einer Vielzahl von Ordnungen geregelt und bestimmt. Von Bergwerkwerksordnungen, Ordnungen zum Bau von Tempeln oder Befestigungen, Pyramiden oder Bewässerungsanlagen, Zunftordnungen, Regelungen für Frondienste und für das Verlagswesen, Gesindeordnungen und späteren Fabrik- bzw. Betriebsordnungen bis hin zu Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen. Sie alle sind nicht Gegenstand dieser Matrix, obwohl sie Einkommen und Einkommensunterschiede bestimmen, Arbeits- und Lebensverhältnisse regeln, damit auch Bewertung von Arbeit im einzelnen Unternehmen, aber auch durch die Gesellschaft ausdrücken. Über individuelle Löhne und Lohndifferenzierung, über Lohn und Leistung, über Art und Weise der Entlohnung in verschiedenen Wirtschaftsfeldern und bei verschiedenen Berufsgruppen ist kaum etwas zu finden, obwohl dies bei einer anschaulichen Beschreibung von Arbeit und ihres Stellenwerts nicht fehlen darf.
Um die Gestaltung der Arbeit wird seit jeher gestritten. Wir wissen von Streiks und Aufständen im alten China oder alten Ägypten, von Sklavenaufständen und Bauernkriegen, von Gesellen-Auszügen als Protestform und von den heftigen, oft auch blutigen sozialen Auseinandersetzungen und Streiks um Status und Ansehen, um Entgelt und Arbeitszeit, um Lohn und Leistung in der kapitalistischen Epoche. Die soziale Gestaltung der Arbeit, die konfliktreichen Auseinandersetzungen um die menschliche Arbeit, die beinahe so alt sind wie die „Arbeit“, finden fast keinen Raum. Es bleibt ein sehr technisches, auf Produktivität und Output bezogenes Bild der Arbeit.

Die Großen Trends
Zwei Bände haben die Großen Trends zum Thema. Unter neuen Aspekten werden Daten und Fakten zur Entwicklung von Klima und Bevölkerung, Arbeitsorganisation und Arbeitsteilung, Arbeitszeit und Arbeitslosigkeit, Arbeit und Technik, und der Verteilung von Armut bzw. Reichtum zusammengefasst. Dabei wird ein Schema erkennbar: Der detaillierten Schilderung der Geschichte mit Problemen, Belastungen und Fortschritten folgen Fragen verbunden mit moralisch-mahnenden oder appelativ-normativen Aussagen
So z.B. beim Klima: „Dieses `Großexperiment´ mit unserer Lebensgrundlage (gemeint ist die auf Ausbeutung von Menschen und Natur, von Kohlenstoff bestimmte Produktions- und Lebensweise) muss schnellstmöglich abgebrochen werden. Es gibt Alternativen, die einen nachhaltigen Konsum mit Wohlstand und Schutz der Lebensgrundlagen erlauben“ (Bd. 5, S. 44). Die differenziert beschriebene Entwicklung der Arbeitsorganistion endet mit der offen gebliebenen Frage: „Gelingt die Überwindung der 5.000-jährigen Hierarchie in Arbeit und Gesellschaft und das Ende vom Raubbau an Menschen und Natur? Oder anders: Gelingen die sozialökologische Transformation des ›Reichs der Notwendigkeit‹ und die Konvergenz im ›Reich der Freiheit‹ als wesentliche Elemente der Freiheit?“ (Bd. 5, S. 150). Das Thema Arbeitszeit mündet in aktuell diskutierte Themen zur Arbeitszeitverkürzung, hier verbunden mit einem Verhaltensappell “…vorausgesetzt es gelingt, das richtige Maß in Konsum und Gewinnstreben zu finden“ (Bd. 5, S. 304). Die Fragen bleiben ohne Antwort. Wie die weltweit ca. 250 Millionen Arbeitslosen und etwa genauso viele informelle Beschäftige überhaupt erst zu einer Arbeitszeit mit Einkommen gelangen, die verkürzt werden könnte, kommt nicht zur Sprache. Der Trend „Armut und Reichtum“ endet mit dem Verweis, dass aufgrund der Produktivitätsexplosion und der Produktionsmenge der Mangel grundsätzlich beseitigt ist, verbunden mit dem Hinweis, „Wohlstand für alle“ „– gibt es nur zusammen mit einer tiefgehenden ökologischen Transformation.“ (Bd. 5, S. 153).
Die beiden letzten Trends widmen sich Zusammenhängen zwischen Hierarchie, Krieg und Patriarchat, von Macht und Herrschaft. Als ihre Ursache wird ein bestimmtes Stadium der Produktivitätsentwicklung angesehen, vom Matrix-Team „knapper Überschuss“ genannt.
Solidarische Marktwirtschaft: Utopie der guten Arbeit und der heilen Welt
Im zentralen Teil „Zukunft der Arbeit“ wird die Vision eines besseren Lebens und der guten Arbeit, eines globalen „Wohlstands für alle“ (Bd. 4, S. 109 und an vielen anderen Stellen), entfaltet. Eine „brave new world“ wird skizziert, das positive Gegenbild zur „brave new world“ von Aldous Huxley aus dem Jahr 1932.
Es dominieren wortreiche Beschreibungen der schönen Zukunft, verbunden mit Imperativen und Appellen. So wird festgestellt: „Nach 200 Jahren Kapitalistischer Marktwirtschaft …steht eine grundlegende soziale und ökologische Transformation unserer Wirtschafts- und Lebensweise an, wenn die Menschheit ihren Güter-, Zeit- und Arbeitswohlstand erhalten und verbessern will, und zwar im Einklang mit der lebendigen Natur.“ (Bd. 4, S. 245).
Die „Solidarische Marktwirtschaft“ soll der Rahmen sein. In ihr soll als produktiv „solche Arbeit gelten – und sich in Geld ausdrücken –, die nachhaltigen Güterwohlstand, Zeitwohlstand und Arbeitswohlstand schafft“ [wer auch immer das entscheidet]. Mit Versatzstücken, die nicht neu sind, wird die Zukunft der Marktwirtschaft beschrieben: Stakeholder Value und umfassende Mitbestimmung im Betrieb und Unternehmen sollen durch Gesetze verpflichtend werden (S. 279), nicht der Investor, „sondern der produktive Arbeitnehmer und Unternehmer“ ( S. 278) soll im Mittelpunkt stehen, eine Vielfalt von Unternehmungen soll die Wirtschaft prägen, die unternehmerisch Selbstständigen, Genossenschaften, traditioneller Mittelstand, öffentliche Betriebe und Aktiengesellschaften mit Stakeholder-Corporate Governance“.
Der Katalog schöner Zukunftsvorstellungen und frommer Wünsche nimmt kein Ende. In dieser Marktwirtschaft erhält die Arbeit neue Qualität, eine Zusammenfassung dessen, was in den vergangenen Jahren sozialwissenschaftlich, gesellschaftlich, gewerkschaftlich erforscht, diskutiert, gefordert und praktiziert worden ist. Aus vielen Elementen wird eine Systematik „guter Arbeit“ aufgebaut entsprechend dem DGB-Index gute Arbeit, auf den Bezug genommen wird, dessen Ziele zu einem hohen Prozentsatz schon verwirklicht (S. 140) sind. Es folgt wieder ein Imperativ: „Die Erwerbsarbeit muss so organisiert sein, dass sie den Menschen Raum für Familie, Ehrenamt und politische Teilhabe lässt, um den wachsenden Rückzug ins Private, auf extreme Positionen ohne Raum für notwendige Differenzierungen, den Mangel an einer vernünftigen gesellschaftlichen Debatten- und Konfliktfähigkeit zu überwinden. Das ist dann Gute Arbeit“ (S. 243). Wer dafür sorgt, bleibt offen.
Auch die Ambivalenz agiler Arbeit fehlt nicht und natürlich auch nicht der Ausblick auf Künstliche Intelligenz, als arbeitsverbessernd und arbeitserleichternd beschrieben, aber nur wenn es gelingt, wieder ein Imperativ, „die Kontrolle und Gestaltungsmacht über unsere Ökonomie durchzusetzen“ (S. 326). Die Arbeitsteilung soll überwunden werden, es sollen „Aufgaben ganzheitlichen Zuschnitts“ entstehen (S. 146). Die Trennung von Hand- und Kopfarbeit wird aufgehoben. Über andere Entgelthöhen, Entgeltformen und Entgeltdifferenzen, die diese neue Wertigkeit und Ganzheitlichkeit der Arbeit innerhalb eines Wirtschaftsbereichs und zwischen den Sektoren auch abbilden, fällt kein Wort.
Fasst man alles zusammen, so wird im Band „Zukunft der Arbeit“ ein umfassendes Wunschbild sozialdemokratisch-grüner-gewerkschaftlicher Forderungen und Vorstellungen für eine demokratische Gesellschaft, ökologisch und sozial gesteuerte Wirtschaft und gute Arbeit formuliert. Noch Fragen?
Weder Kapitalismus noch Sozialismus?

Offen bleibt, welchem grundlegenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystem und damit welcher Eigentumsordnung die „Solidarische Marktwirtschaft zuzuordnen ist“. Von Kapitalismus und Sozialismus wird die „Solidarische Marktwirtschaft“ verbal scharf abgegrenzt (Bd. 4, S. 285). Das Matrix-Team wählte aber sicher nicht zufällig „Wohlstand für alle“ für seine globale Zukunftsvision, wohl wissend, dass dies der Titel des damals sehr populären Buches Ludwig Erhards von 1957 war, der in engem Zusammenhang mit der Sozialen Marktwirtschaft steht. Sie wird in der Matrix aber als lahmer Versuch abgetan, die freiheitliche Seite der Wirtschaftssteuerung zu betonen, die soziale, aber zu vergessen. Die „sozialistische Marktwirtschaft“ sei demgegenüber besser, wird aber wegen der schlechten Erfahrungen, die mit ihr gemacht wurden, abgelehnt. Und so bleibt eine unscharfe, aber wortreiche Beschreibung der „Solidarischen Marktwirtschaft“ als „maßvoller Mix“, „eine maßvolle Balance zwischen Eigenverantwortung und sozialer Absicherung, zwischen Eigennutz und Gemeinwohl“ gefordert. Eine Beschreibung all dessen, was wünschenswert ist, folgt auf vielen Seiten (S. 285 ff.)
Die entscheidende Frage wird nicht thematisiert: Wie steht es mit dem Eigentum an Produktionsmitteln. So wie die „Solidarischen Marktwirtschaft“ beschrieben wird, gibt es weiterhin Privateigentum an Produktionsmitteln, wenn auch in vielfältiger und vielfach regulierter Form. Menschen bleiben somit „Befehlshaber“ der abhängig Beschäftigten, Profitinteressen ein Motor, wiewohl dies ja die Quellen von Hierarchie und Ausbeutung, Patriarchat und Krieg sind. Handelt es sich um eine neue Variante des regulierten Kapitalismus, eines neuen dritten Weges, mit einem wesentlich stärker regulierenden Staat, mächtigeren Gewerkschaften sowie Personal- und Betriebsräten? Wie die völlig andere Art der Arbeitsteilung und Unternehmensführung durchgesetzt werden soll, in einem oder gegen einen äußerst mächtigen und flexiblen, liberalen oder totalitären Kapitalismus bleibt offen.
Brüchiges Heilsversprechen
Zentrale Botschaft der Matrix ist, die fortwährende Produktivitätsexplosion mache eine Epoche mit Freiheit und Wohlstand für Alle weltweit wahrscheinlich, ja sogar sicher. Der immerwährende Endzustand eines befreiten Lebens und befreiter Arbeit werde gewiss eines Tages erreicht trotz mancher auch heftiger Stolpersteine zwischendurch.
Das Team selbst vergleicht die erwartete Produktivitätsexplosion ohne jede Selbstironie mit dem biblischen Wunder der Speisung der Fünftausend durch Jesus: „Auch Jesus konnte Friedfertigkeit nur durch ein Wunder sichern, `dieses Wunder’ ist heute auf der Basis enorm entwickelter Produktivkräfte der menschlichen Arbeit möglich geworden.“ (Bd. 4, S. 382). Also kann und muss man die Produktivitätsexplosion als säkulares Heilsversprechen interpretieren. Es ist nicht das eschatologische Jenseits der Religionen, nicht die Aufhebung aller Klassen als Ergebnis der Klassenkämpfe, sondern Freiheit und Frieden durch den Überfluss an allem im Diesseits.

Hier liegt Widerspruch der Matrix, den ich nicht aufgelöst sehe: Die Gleichverteilung des Überschusses bedarf eines neuen, verantwortungsvollen Menschen und einer entsprechenden Gesellschaft, die nicht automatisch Ergebnis höhere Produktivität sind. Die Matrix selbst beschreibt: Der knappe Überfluss der zweiten Phase der Agrikulturepoche bringt Hierarchie, Patriarchat und Krieg, aber auch Kolonialisierung und Versklavung. Die kapitalistische Epoche mit einem enormen Produktivitätsanstieg, wie das Team immer wieder betont, führt zu verschärftem Kolonialismus und mehr Sklaverei, zusätzlich zu massenhafter Verarmung und Ausbeutung, zu neuen Dimension des Krieges und der Barbarei, autoritärer und totalitärer Herrschaft. Was spricht dafür, dass der neue „große Sprung“ durch Digitalisierung und KI die Wahrscheinlichkeit eines friedlichen Miteinanders und eines Wohlstandes für alle erhöht? Die Matrix unterschätzt, dass es jenseits der Produktivität Antriebskräfte des Menschen gibt, die geschichtliche Entwicklungen erklären und nicht mit einem „Überfluss“ erledigt sind: Macht und Gier und damit das Interesse, Reichtum anzuhäufen und andere – sei es ein anderes Geschlecht, sei es ein anderes Volk – zu beherrschen. Die Ambivalenz zwischen Produktivität und Destruktivität menschlichen Handelns, technikgestützter menschlicher Arbeit ist den Autoren wohl bewusst, aber sie schreiben so, als löse sich diese Zwiespältigkeit irgendwann mehr oder weniger von selbst in Wohlgefallen auf.
Das Ziel ist klar, der Weg dahin nicht
Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Der Weg zum Reich der Freiheit mit Appellen und Forderungen. Die Matrix der Arbeit zeichnet ein strahlendes Bild einer möglichen Zukunft der Arbeit und der Gesellschaft. Die Frage ist aber, wie kommen wir auf dem Weg dahin voran? Bietet die Geschichte, bieten die großen Trends Hinweise für Strategien des Wandels? Es fehlen neben der technischen Produktivität Strategien gesellschaftlicher Plausibilität, soziale Strategien, die zu Guter Arbeit, verantwortungsvoller demokratischer Gesellschaft und solidarischer Wirtschaft führen. Vielleicht fehlt dieser Ausblick, weil auch im Rückblick der Matrix politisch-soziale Auseinandersetzungen und gesellschaftliche Kräfteverhältnisse, also Klassenkämpfe, kaum eine Rolle spielen. Der Weg zu „Wohlstand für alle“ „wird aber nur gangbar, wenn Gewinnstreben, Wachstum und Konkurrenz aus ihrer Maßlosigkeit befreit und eingebettet werden in ein System sozialer, gesellschaftlicher und politischer Institutionen und Regulierungen, von Betriebsvereinbarungen, Tarifverträgen, Gesetzen und Spielregeln für einen innovativen Wettbewerb, nachhaltiges Wachstum und gute Arbeit.“ (Bd. 4, S. 109).
Wie kommt es zu dieser Befreiung und Einbettung, nachdem der Kapitalismus seit mehr als zweihundert Jahren Verwüstungen angerichtet hat und nach der Meinung des Matrix-Teams erreichte Fortschritte der kurzen Epoche nach dem 2. Weltkrieg inzwischen von Rückschritten abgelöst worden sind. Aus der geschichtlichen Entwicklung scheint keine Strategien des Wandels ableitbar zu sein. Woher aber sollen die notwendigen Verhaltensänderungen des Menschen und der Menschheit kommen (S. 124)? Wer heute und morgen das soziale und politische Subjekt, die Triebkraft des notwendigen radikalen gesellschaftlichen Wandels sein soll, bleibt offen. Wie die Zukunft aussehen soll, wird beschrieben, wie wir dahin kommen, nicht. Mit diesem Dilemma steht die Matrix nicht allein. Sie kennzeichnet unter anderem auch A. Honneths „Der arbeitende Souverän“ oder B. Sanders „Es ist ok wütend auf den Kapitalismus zu sein“ oder es bleibt bei der Feststellung, wie im neuesten Oxfam-Bericht über „Klimagleichheit“, dass „eine Überwindung des gegenwärtigen Wirtschaftssystems und der Fixierung auf Gewinnstreben, Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und konsumorientierter Lifestyles“ (zit. nach ntv vom 20.11.2023) notwendig sei.
Das Problem haben heute linke Aktivisten, Parteien und Bewegungen generell. Den Gewerkschaften und demokratisch-sozialistischen oder ökologischen Parteien wird zurzeit wenig zugetraut. Die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt ist abhandengekommen und war ja nicht so besonders erfolgreich, Wohlstand für alle voranzubringen. Das entsprechende intellektuelle Milieu spielt als Akteur für radikale Sozial- und Wirtschaftsreformen keine Rolle und verheddert sich außerdem gerade in anderen Konfliktthemen. Von der enorm gewachsenen technischen Intelligenz mit beruflicher oder akademischer Ausbildung, tragender und wachsender Teil der Wirtschaft und Gesellschaft, eigentlich die neue „Arbeiterklasse“, fehlen Impulse. Also bleibt die Hoffnung darauf, der produktivitätsbedingte Wohlstand „dürfte es aber leichter machen, an der Entwicklung der guten Seiten des Homo sapiens zu arbeiten, seiner Empathie, Solidarität, Verantwortung ebenso wie seiner Kreativität, Lebensfreude und Nachdenklichkeit“ (Bd. 4, S. 323).
Die Matrix zu und viele Fragen offen
Insgesamt ist die Matrix der Arbeit ein Kompendium des Wissens über die Lage der Menschheit und ihre Zukunftsaussichten, weit über die Arbeit hinaus, mit einigen Defiziten bei Aspekten einer Sozialgeschichte der Arbeit. Die Produktivitätsexplosion als alleinige Strategie zur Realisierung einer Welt des „Wohlstands für alle“ trägt nicht, weil deren Folgen historisch und aktuell sehr zwiespältig sind. Am Ende schließe ich das Opus mit zwiespältigen Gefühlen: Positiv, die umfassende Beschreibung der Entwicklung der Menschen auf vielen Feldern auf dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Forschung; skeptisch, da für das Gelingen der Zukunftsvision, außer dem Vertrauen auf den nächsten „großen Sprung“ der Produktivität keine Brücken gebaut sind. So verweist die Matrix als Hoffnungszeichen nicht auf Erstarken der Gewerkschaften und sozialdemokratischer oder sozialistischer Parteien, sondern auf Teile der Jugend, die die Zeichen der Zeit erkannt hätten. Und auch darauf, dass es angesichts der langen 300.000-jährigen Geschichte des Menschen in seiner Arbeit nicht entscheidend drauf ankomme, ob die Wende zum Besseren in 50, 500 oder vielleicht auch erst in 5000 Jahren kommt. „Wie es ausgeht, ist offen und darüber entscheiden die heute und in den nächsten Jahrzehnten Lebenden“ (Bd. 4, S. 388). Wie wahr und banal! Man kann nur hoffen, immer mehr Menschen und Gruppen sehen sich den Appellen zur Verantwortungsethik verpflichtet, um Katharsis durch Katastrophen zu vermeiden und dass „metanoiete“ der Bibel mit dem „sapere aude“ der Aufklärung zu verbinden.
Institut für die Geschichte und Zukunft der Arbeit (IGZA) (2023): Matrix der Arbeit: Materialien zur Geschichte und Zukunft der Arbeit. Bonn: Dietz-Verlag. 2388 Seiten, 245 €, ISBN 978-3-8012-4286-2
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