„Es ist zu spät für ein Verbot der AfD“

Brandmauer? „Schon das Sprachbild ist misslungen.“
(Foto: Ronny Ueckermann auf wikimedia commons)

Viel zu lange wurde die AfD nicht ernst genommen als eine politische Kraft, die systematisch und durchdacht eine Strategie betreibt, die Grundlagen der parlamentarischen Demokratie zu zerstören, sagt der Sozialforscher Horst Kahrs im Interview mit Wolfgang Storz. Das gewachsene faschistische Milieu lasse sich nicht einfach wieder klein kriegen, schon gar nicht mit einem Parteiverbot, argumentiert Kahrs, aber man könne es politisch kleiner machen. Dafür müssten die demokratischen Parteien aufhören, der AfD und deren Themen hinterherzulaufen, und stattdessen die sozialen und ökologischen Probleme entschieden, für jedermann erkennbar anpacken.

Wolfgang Storz: Alle fliehen. Die Grünen in die Arme eines neuen Vorstandes, die FDP eventuell aus der Ampel, die SPD weg von ihrem Kanzler, die Grüne Jugend in eine neue linke Partei. Wenn Sie Kanzler Scholz beraten dürften: Soll er in Neuwahlen fliehen?

Horst Kahrs: Ist Olaf Scholz beratungsoffen? Wer es gut mit ihm meint, würde ihm abraten: Er hätte nichts zu gewinnen, nur seine Kanzlerschaft zu verlieren.

Wenn Sie die Interessen der drei Regierungsparteien analysieren: Wird es zu Neuwahlen kommen?

Kahrs: Nein. Aber vielleicht verliert eine Partei ja die Nerven.

Welche Partei hätte davon den größten Vorteil?

Kahrs: Union und AfD würden noch stärker werden. Das BSW schaffte als weitere Anti-Altparteien-Partei rechtzeitig den Sprung in den Bundestag, bevor sie durch eine Machtbeteiligung in Sachsen, Thüringen und Brandenburg diesen Ruf ruinieren könnte. Es drohten also in ganz Deutschland ostdeutsche Verhältnisse. Damit meine ich, es drohte die nächste Zusammenarbeit aller demokratischen Parteien, allein um sich zusammen gegen AfD und BSW überhaupt behaupten zu können. Und das von Parteien, die sich zumindest im Bund eigentlich gegeneinander profilieren müssten. Und mit diesem neuerlichen Not-Bündnis böten sie Rohstoff für weitere Verschwörungserzählungen der AfD.

Können wir nicht mal die Kirche im Dorf lassen: In drei wirtschaftlich und machtpolitisch unbedeutenden Bundesländern mit etwa sieben Millionen Wahlberechtigten hat die faschistische AfD jeweils etwa 30 Prozent der Stimmen erreicht. (Mit-)Regieren wird sie nirgends. Und nun sieht sich die Republik wanken. Ist nicht das der eigentliche Sieg der AfD?

Foto: Elke Wetzig auf wikimedia commons

Kahrs: Sie haben mit Ihrer Frage einerseits recht. Und zugleich befördert Ihre Perspektive fahrlässig eine Verharmlosung dieser Partei. Richtig ist: Es zählt zweifelsohne zur medialen Aufmerksamkeitsökonomie, ständig Aufregung zu erzeugen. Und es spricht auch nicht unbedingt für die demokratische Debattenkultur, nun mal wieder tief erschrocken über ein gutes Wahlergebnis für die AfD zu sein. Genau das macht den Vorteil der AfD aus: Sie wird zum einen immer noch nicht ernst genommen als eine Partei, die mit ihrer systematischen Zersetzungs-Strategie wächst. Viel zu lange wurde sie verharmlost als „ostdeutsches“ Phänomen oder als „Protest“ von Abgehängten, Nichtgehörten, Verlassenen undsoweiter. Und zum anderen glaubte man viel zu lange, es würden WählerInnen abgeschreckt, wenn die AfD’ler als „Rechtsextremisten“ oder „Faschisten“ eingeordnet werden. Es ist nun an der Zeit, sich mit der Wirklichkeit zu konfrontieren.

Ich bin gespannt: Was ist denn Ihr wirklicher Blick auf die AfD?

Kahrs: Den Wählerinnen und Wählern der AfD sind deren rechtsextreme und faschistische Elemente kein Dorn im Auge. Viele nehmen sie hin, weil ihnen anderes wichtiger ist: der Autoritarismus und der Nationalradikalismus der AfD. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer spricht vom „autoritären Nationalradikalismus“ als ideologischem und affektivem Kern der AfD-Erfolge.

Rechtsextreme Graswurzelarbeit

Und das ist dann die sogenannte Normalisierung, weil das in anderen Ländern wie Frankreich, Italien oder Österreich schon seit langem so ist. Oder?

Kahrs: Richtig. Mit den Erfolgen der AfD erleben wir seit zehn Jahren eine europäische Normalisierung der deutschen Parteienlandschaft. Nationalismus und „Wir zuerst“-Denken droht in der Europäischen Union, aber auch global gegenüber den internationalen Institutionen hegemonial zu werden. Dieser Aufstieg wurde jahrelang strategielos quasi flankiert.

Deutschland ist also wie überall. Oder kommen noch Besonderheiten hinzu?

Kahrs: Es kommt in Deutschland noch eine zweite bedeutende Ursache hinzu: Denn die AfD ist zudem, vielleicht mehr im Osten als im Westen, Resultat einer systematischen Graswurzelarbeit von Rechten und Rechtsextremen. Ich erinnere an die „Baseballschläger“-Jahre in den frühen Neunzigern, an die Wahlerfolge von NPD und DVU bei jungen Wählern in den Nuller-Jahren. Diese Männer und Frauen sind ja nicht einfach weg, sie sind geblieben, haben Familien gegründet, sind in Vereinen, Elternräten, in der Zivilgesellschaft aktiv und haben Kinder, die jetzt selbst ins Wahlalter kommen. Und die von mir eben genannten politischen Aktiven dieser Zeit haben — in bester trotzkistischer Manier könnte man sagen — eine entristische Politik betrieben. Sie sind also seit 2015 wahlweise offen und konspirativ in diese Partei eingedrungen und haben die einstige Professoren-AfD von Bernd Lucke, Konrad Adam und anderen übernommen.

Dann ist die AfD gefährlicher als sie in der allgemeinen Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Ist das Ihr Befund?

Kahrs: Der „eigentliche Sieg“ der AfD, von dem Sie eingangs gesprochen haben, der besteht meines Erachtens darin, dass sie viel zu lange nicht ernst genommen wurde, ernst genommen wurde als eine politische Kraft, die systematisch und durchdacht eine Strategie betreibt, die Grundlagen der parlamentarischen Demokratie zu zerstören.

Und aufgrund dieser bisherigen Fehleinschätzungen stehen heute die Parteien und AnhängerInnen der viel beschworenen „wehrhaften Demokratie“ ziemlich ratlos da. Es ist zu spät für ein Verbot der AfD — denn dafür ist sie schon viel zu stark. Und zugleich ist sie eben so stark, dass sie die Weiterentwicklung der europäischen und globalen Zusammenarbeit zu stören oder gar zu blockieren vermag.

Das Problem lässt sich nicht nach Ostdeutschland abschieben

In den beiden wohlhabenden Bundesländern Hessen und Bayern, in denen von Tristesse und Entrechtung wenig zu spüren ist, erreichte die AfD zuletzt jeweils beinahe 20 Prozent. Vor diesem Hintergrund die Frage: Signalisieren die drei ostdeutschen September-Wahlergebnisse, was in einem Jahr bei der Bundestagswahl auf uns alle zukommt? Ist Ostdeutschland politisch also Seismograph oder doch Ausreißer?

Kahrs: Gibt es einen qualitativen politischen Unterschied zwischen knapp 20 Prozent für die AfD in den westdeutschen „Musterländles“ und 30 Prozent in den „ostdeutschen Kolonien“? Genau diese Denke, zwischen Beidem eine entscheidende Differenz zu behaupten, und damit das Ganze als ein Problem in den noch nicht so weit entwickelten östlichen „neuen“ Landesteilen zu betrachten, genau diese Denke hat doch immer wieder verhindert, dass die demokratischen Parteien eine längerfristig angelegte politische Strategie entwickelten — gegen wachsenden Nationalismus, gegen die Diktatur einer neuen, vermeintlichen „deutschen“ Normalität und gegen die systematische Ausgrenzung von Menschen. Viel zu lange wurde nicht bedacht, dass Ostdeutschland politisch so etwas wie die Avantgarde sein könnte, dass dort also zuerst sich das entwickelt, was anschließend in ganz Deutschland sein wird.

Können diese jüngsten Ergebnisse nicht auch so gelesen werden: Das parlamentarische System ist geschmeidiger und damit leistungsfähiger denn je. Erst gründeten sich in den 1980er Jahren erfolgreich die Grünen, dann die Linke, 2013 die AfD, jetzt die Wagenknecht-Partei. Damit ist endlich auch der letzte latente Stammtisch-Faschismus und Digital-Populismus für den Urnen-Gang präsent. Und die Wahlbeteiligung ging bereits bei der EU- und nun bei diesen Landtags-Wahlen fast durch die Decke. Wo bitte ist das Problem?

Kahrs: Das Problem sehe ich darin, dass die AfD eben keine Partei wie jede andere ist, sondern eine Partei, die die Grundlagen des demokratischen Systems aus den Angeln heben will. Sie will nicht, um ein Bonmot eines bayrischen Politikers aufzugreifen, wie Die Linke die Eigentumsverhältnisse mit den Mitteln des Grundgesetzes verändern. Nein, sie will die Grundfesten der Verfassung selbst aushebeln, damit etwa die Würde und gleichen Rechte eines jeden Menschen.

AfD-Gruppe Bremen 2015 (Foto: Lei 65 auf wikimedia commons)

„Mit Brandstiftern paktiert man nicht“

Ihre Behauptung werden sicher viele bestreiten und sagen: Nein, so schlimm ist die AfD zumindest in Gänze nicht.

Kahrs: Jeder, der will, jede, die will, kann das ja allenthalben im Original nachlesen und nachhören. Jede Analyse von Reden, Texten und Beschlüssen dieser Partei kommt zu dem Befund: Die AfD ist keine weitere Partei, die im parlamentarischen System reüssieren will. Weil die demokratischen Parteien das bereits seit längerem ahnten, deshalb bemühten sie sich ja, das Bild von der „Brandmauer“ zu popularisieren, gemeint als Schutz, als Selbstschutz, als Abwehr. Aber bereits das war ein Fehler. Bereits dieses Bild nutzte und nutzt der AfD mehr als den Demokraten. Denn dieses Bild ist ambivalent, besonders in Ostdeutschland, zwingt es doch geradezu zu der Assoziation mit dem Satz „Die Mauer muss weg“. Und noch eines: Es kann doch nicht nur darum gehen, einen Brand einzudämmen, wie das Bild von der „Brandmauer“ nahelegt, sondern darum, ihn zu verhindern. Das heißt, bereits die Sprache, die Bilder sind misslungen, die die Demokraten im Kampf gegen die AfD verwenden.

Was ist Ihr Vorschlag?

Kahrs: Besser wäre doch: „Mit Brandstiftern paktiert man nicht!“ Aber jenseits dessen, wie wichtig politische Begriffe sind und was sie auslösen können: Die AfD bestimmt doch mittlerweile in großen Teilen die politische Agenda und steht oft im Zentrum des Agierens aller anderen Parteien. Alles dreht sich um das Verhältnis zur AfD, fast alle steigen auf ihre Themen wie Migration ein, riskieren dafür sogar — siehe unter anderem die neuerlichen Grenzkontrollen — den guten Willen zur Zusammenarbeit in Europa. Es sieht nicht nur so aus, als kämen sie der AfD entgegen — sie kommen ihr in vielen Politikbereichen tatsächlich entgegen. Man kann so weit gehen zu sagen, die AfD regiert indirekt bereits mit. Eine bedeutende Folge dieser grundsätzlich falschen Strategie der demokratischen Parteien: In den Augen vieler WählerInnen geben sie der AfD damit recht und machen sie damit erst recht wählbar und attraktiv.

Es war meine Lieblings-These, weil dann alles gut gewesen wäre: Da die neue Wagenknecht-Partei den homogenen ausländerniedrigen Nationalstaat mag, ebenso das Deutschsoziale, eine waffenarme wehrlose Ukraine und eine möglichst rigide Flüchtlings-Politik, deshalb jagt sie mit hohem Erfolg der AfD WählerInnen ab. Wagenknecht als Totengräberin von Höcke. Pech gehabt, ist das Ergebnis doch: starke Wagenknecht und starker Höcke. Warum entpuppte sich diese These als Rohrkrepierer?

Kahrs: Wir sollten bereit sein, es für möglich zu halten, dass es sich nicht um einen vollständigen Rohrkrepierer handelt. Es könnte ja sein, dass Wagenknecht zwar keine Wähler von Höcke abgezogen hat, aber immerhin verhindert hat, dass noch mehr Stimmen von anderen Parteien zur AfD gegangen sind. Diese Möglichkeit ist bisher empirisch nicht falsifiziert worden.

Aber Sie meinen trotz Ihrer Relativierung, die von mir vorgetragene These war im Kern von vornherein eine Illusion. Warum?

Kahrs: Generell basiert die These ja darauf, dass die AfD-Wähler eigentlich keine rechtsextreme und faschistische Partei wählen wollten, sondern dies quasi nur aus Notwehr, mangels Alternative getan hätten. Dass diese Annahme die Lebenslüge des BSW war und ist, das hat sich mit diesen Wahlergebnissen endgültig erwiesen. Das war von vornherein klar, aber jetzt ist es auch noch belegt.

Wer Wagenknecht und Lafontaine jetzt nicht nur Böses, sondern auch den tatsächlichen Willen unterstellt, die AfD schwächen zu wollen, dann ist das für sie eine politisch tragische Entwicklung.

Kahrs: Also, so weit reicht mein politisches Mitgefühl nun wieder auch nicht, um von deren Tragik zu sprechen. Aber es ist als wesentliches Ergebnis dieser Landtagswahlen festzuhalten: Wagenknecht und Lafontaine setzen ihr Zerstörungswerk im linken Lager fort ohne die Rechten und Nationalradikalen zu schwächen.

BSW als Brückenbauer für die AfD

Wer wie ich diese obige These pflegte, an welcher Stelle sitzt der große Irrtum?

Kahrs: Wer jener These folgte, übersah, dass der AfD in außerordentlichem Maße eine „negative Milieubildung“ gelungen ist. Es ist ihr gelungen, eine Art „Anti-Milieu“ aufzubauen und zu festigen, in dem eigene Kommunikationswege und Wahrheiten gelten, wo „Mainstream“ und „Lügenpresse“ nichts mehr zu sagen haben und in dem die demokratischen Institutionen von den „Eliten“ und „Systemparteien“ manipuliert werden. Das wurde und wird von denen völlig unterschätzt, die diese Rohrkrepierer-These vertreten. Und damit nehmen sie in verhängnisvoller Weise nicht zur Kenntnis, dass viele Wähler, wie die Umfragen zeigen, Rechtsextremismus und Faschismus — sagen wir mal freundlich — in Kauf nehmen, sich davon nicht abschrecken lassen.

Foto, 2016: Metropolico.org auf wikimedia commons

Und weil das so ist, deshalb blieb für die Wagenknecht-Partei nur noch das Klientel der stark nationalstaatlich orientierten Wähler im linken Parteienlager übrig. Die wurden vom BSW aus den vormaligen Bindungen an Linke, SPD oder aus der Wahlenthaltung herausgelöst und gewonnen. Das sind Wählerinnen und Wähler, die eben nicht auf die Idee gekommen waren, eine rechtsextreme Partei zu wählen, die womöglich Frau Wagenknecht immer noch für eine Linke halten. Das führt mich in der Analyse zu einer weiteren Gefahr, die vom BSW ausgeht: Indem das BSW ebenfalls auf die nationalistische und antiwestliche Karte setzt wie die AfD, könnte es auch zum Brückenbauer für die AfD werden. Sowohl die nationalistische Haltung des „Wir zuerst“ nach innen und außen als auch die Position, Deutschland müsse mit Putin-Russland zunächst seinen Frieden machen, sind in beiden Parteien weit verbreitet, beim BSW noch mit sozialstaatlichen Positionen verknüpft. Aber die nationalistische Dynamik ist in der Regel stärker als die sozialstaatliche, wie man an der Schwäche des linken Lagers sieht, so dass das BSW zur Durchgangsstation werden könnte.

Zur Vergewisserung die Frage: Etwa die Hälfte der WählerInnen wählt die AfD aus Protest gegen aktuelle Regierungs-Politiken, ist also potentiell von demokratisch gesinnten Parteien noch erreichbar. Und die andere Hälfte wählt die AfD aus Überzeugung, weil sie selbst völkisch denkt und diese Demokratie abschaffen will. Gilt dieser empirische Befund des Halbe-Halbe immer noch?

Kahrs: Diese Unterscheidung in der Wählerschaft gilt schon länger nicht mehr und erfüllte von Anfang an nur den Zweck, sich selbst zu beruhigen. Protesthaltungen sind nie ideologisch beliebig, sie haben immer eine Tendenz und Nähe zu einem Gesellschaftsbild. Das kann zum Beispiel Gleichheit oder aber Nationalismus sein. Aber ja, es gibt Unterschiede im Grad der Bindung an eine Partei oder ideologische Ausrichtung. Deshalb sollte man immer davon ausgehen, dass manche Wählerinnen und Wähler auch der AfD ihre Wahlentscheidung ändern können. Beispielsweise wenn andere Parteien mehr darüber sprechen, was auf unsere Gesellschaft zukommt, mit welchem Kompass sie handeln wollen, was wir als reiche Gesellschaft alles gestalten könnten, wenn wir nur zuversichtlich und verantwortungsvoll handelten und so weiter. Aber: Damit würden der AfD vielleicht Ansatzpunkte für ihre Negativ-Kampagnen entzogen. Was aber trotzdem bliebe, das ist die im Kern nationalradikale und autoritäre Gesinnung der WählerInnen der AfD, ihre bewusste Bereitschaft, Brandstifter mit ihrer Stimmabgabe zu unterstützen.

Wie dann ist die AfD kleinzukriegen? Man hat sie erst ignoriert, dann dämonisiert, aktiv überwacht und mit allen demokratischen Mitteln ausgegrenzt — sie wuchs und wuchs. Da bleibt doch nur noch, sie in Regierungsverantwortung einzubinden und damit zu entzaubern. Zu gefährlich?

Kahrs: Wir sollten als erstes davon ausgehen, dass man Faschisten nicht einfach wieder kleinkriegen, sie aber „kleiner“ machen kann, indem die demokratischen Parteien ihre Politik grundlegend ändern. Eben nicht die Themen in den Mittelpunkt stellen, welche die AfD stark machen wie Migration. Sondern die Themen in den Mittelpunkt stellen, die für AfD-Wähler auch von Belang sind: Wer soll in zehn Jahren, im Alter Eure Pflege übernehmen, wer die Bäder altersgerecht umbauen? Also die wirklichen Aufgaben, die sich für ein gutes Alltagsleben heute schon stellen, benennen und Lösungen zur Abstimmung stellen. Klar machen, dass der mittelfristige Erfolg der exportorientierten deutschen Wirtschaft, mithin der Arbeitsplatz von Millionen, von einer entschiedeneren Dekarbonisierung und Digitalisierung abhängig ist. Weil sonst die wirtschaftlichen Fortschritte in China, Japan, den USA bei uns, in der EU und in Deutschland, zu Firmenpleiten führen werden — Volkswagen liegt in vielen Bundesländern quasi vor der Haustür. Und dann vielleicht die Frage stellen: Wo wären wir ohne Einwanderung?

Das Verbotsverfahren nährt eine Illusion

Es geht im Kern also um eine andere Themensetzung, vor allem zugunsten von wirtschaftlich-materiellen Fragen.

Kahrs: Ja, schon, aber das reicht nicht. Es kommt zweitens eine wesentliche Erkenntnis hinzu, die Erkenntnis nämlich: Faschisten kann man nicht „entzaubern“. Denn Faschismus ist vor allem eine Bewegung von Anti-Demokraten zur Eroberung von politischer und institutioneller Macht und im nächsten Schritt zur Verteidigung erreichter Machtpositionen. So ist der Kampf gegen die AfD zwangsläufig ein Kampf um den Erhalt der parlamentarischen Demokratie. Egal wo Sie hinschauen, Sie sehen doch: Kaum an den Schalthebeln politischer Macht werden Institutionen umgebaut, die Rechte der Opposition eingeschränkt, das Vertrauen in Medien und Justiz untergraben, bürgerliche Rechte beschnitten. Wem der historische Verweis auf den Irrtum der deutschen Konservativen bezüglich der Nationalsozialisten zu weit hergeholt ist, der schaue nur nach Österreich, wo der FPÖ trotz aller Skandale, Stichwort Ibiza, und schlechten Ergebnissen ihrer Regierungsarbeit jetzt ein erneuter Wahlsieg gelungen ist. Oder nach Ungarn oder schauen Sie auf den Verfassungsumbau in Meloni’s Italien.

Foto: PantheraLeo1359531 auf wikimedia commons

Sie haben oben schon angedeutet: Die AfD sei bereits zu stark, ihr Verbot verbiete sich. Dann sind in Ihren Augen alle Verbots-Versuche der nächste große strategische Fehler der demokratischen Parteien?

Kahrs: Mit Wahlergebnissen von 20 bis 30 Prozent ist die AfD nicht nur bei Wahlen erfolgreich, sondern sie ist tief im sozialen Alltag und in sozialen Milieus verankert. Die Leute bleiben dort, auch bei einem Verbot. Sie sind gewieft genug, schnell eine neue Partei zu gründen. Den verbreiteten Wunsch nach einem autoritären Nationalradikalismus in der deutschen Innen- und Außenpolitik kann man nicht per Gerichtsbeschluss verbieten.
Schließlich: Die AfD war bereits so erfolgreich, dass sie ihren Anhängern ihre eigenen „Wahrheiten“ verkaufen kann, es gibt keine gemeinsame Öffentlichkeit mehr mit halbwegs geteilten Kriterien Vernunft, Erkenntnisgewinn usw. Gemeinhin wird das als Vertrauensverlust der demokratischen Institutionen bezeichnet, wobei vergessen wird, dass Vertrauen in die „alternativen Wahrheiten“ entstanden ist.
Ein Verbotsverfahren nährte nur die Illusion, durch ein Machtwort des Bundesverfassungsgerichts käme die demokratische Welt wieder in Ordnung. Das wäre vielleicht noch vor fünf, sechs Jahren der Fall gewesen. Nun aber braucht man mehr: eine Strategie gegen den wachsenden radikalen Nationalismus und eine Strategie zur Wiederherstellung einer gemeinsamen demokratischen Öffentlichkeit. Erst wenn die greift, macht ein Verbotsverfahren vermutlich Sinn.

Horst Kahrs ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Von 1995 bis 2021 hat er in verschiedenen Funktionen für die PDS, DIE LINKE und die Rosa-Luxemburg-Stiftung gearbeitet. Heute betreibt er mit Tom Strohschneider den Blog »linksdings – Der Schlüssel steckt von innen« https://linksdings.ghost.io/

Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

3 Kommentare

  1. Die Argumentation von Horst Kahrs in der Frage eines Verbotes der AfD halte ich nicht für schlüssig. Es macht sicher Sinn zunächst den Artikel 22 Grundgesetz als Ganzes zur Kenntnis zu nehmen:
    (1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben.
    (2) Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig.
    (3) Parteien, die nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgerichtet sind, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind von staatlicher Finanzierung ausgeschlossen. Wird der Ausschluss festgestellt, so entfällt auch eine steuerliche Begünstigung dieser Parteien und von Zuwendungen an diese Parteien.
    (4) Über die Frage der Verfassungswidrigkeit nach Absatz 2 sowie über den Ausschluss von staatlicher Finanzierung nach Absatz 3 entscheidet das Bundesverfassungsgericht.
    (5) Das Nähere regeln Bundesgesetze.

    Was ich im Grundgesetz vergeblich suche, ist der Hinweis, dass vor einem Verbotsantrag die Frage der politischen Opportunität zu prüfen wäre. Genau darauf läuft die Argumentation von Horst Kahrs aber hinaus.
    Mir erschließt sich auch nicht, warum die politisch inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Rechtsradikalismus, und damit mit der AfD, sowie ein Antrag an das Bundesverfassungsgericht zum Verbot dieser Partei, Gegensätze sein sollen. Schon gar nicht kann ich dem Argument folgen, die AfD und damit das rechtsradikale Gedankengut sei mittlerweile zu stark in der Bevölkerung präsent, um diese Partei noch verbieten zu können.
    Bleibt das Risiko, dass ein solches Verbotsverfahren scheitert. Das würde aber im Kern bedeuten, dass die Einordnung der AfD, durch die großen Teile der Politik und weite Teile der Gesellschaft, als eine rechtsextremistische, die Demokratie beeinträchtigende Partei, falsch wäre. Das wiederum glaube ich nicht; Gewissheit kann hier aber nur das Bundesverfassungsgericht schaffen. Wenn man wie Kahrs weiter argumentiert, ein solches Verfahren würde der AfD mehr nutzen als schaden, der verkennt, dass der größte Schaden, den die AfD anrichten kann, der ist, den demokratischen Institutionen schweren Schaden zuzufügen und die Demokratie von innen auszuhöhlen. Wer aus Angst vor dem Tod den Selbstmord empfiehlt, ist für mich ein schlechter Ratgeber.

  2. Dem Kommentar von Wolfgang Rose zur Argumentation von Horst Kahr stimme ich weitgehend zu.

    Ergänzung dazu zwei Punkte:

    1 Die Formulierung von Johannes Kahrs im Interview zum AfD-Verbot

    „Es ist zu spät für ein Verbot der AfD — denn dafür ist sie schon viel zu stark. Und zugleich ist sie eben so stark, dass sie die Weiterentwicklung der europäischen und globalen Zusammenarbeit zu stören oder gar zu blockieren vermag.“

    ist aus grundgesetzlich rechtsstaatlicher Sicht nicht überzeugend und nicht nachvollziehbar.

    Im Verständnis des Grundgesetzes darf sich der Rechtsstaat nicht abschaffen lassen. Solange dieser grundgesetzliche Rechtsstaat existiert, hat er sich daher gegen seine Abschaffung zu verteidigen.
    Ein starkes Instrument dieser Verteidigung des Rechtsstaats stellt das Grundgesetz im Art 21 zur Verfügung. Dieser Grundgesetzartikel sieht vor, dass beim Bundesverfassungsgericht die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei beantragt werden und eine festgestellt verfassungswidrige Partei letztlich verboten werden kann.

    Das Grundgesetz äußert sich dabei nicht dazu, wann der richtige Zeitpunkt für die Anwendung des Art 21 gegeben ist.

    Insofern kann sich eine Formulierung „Es ist zu spät für ein Verbot der AfD“ nicht auf das Grundgesetz stützen.

    Einen Hinweis darauf, wann der richtige Zeitpunkt ist, kann man indes dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes im Verbotsverfahren gegen die NPD entnehmen. Auf der Internetseite des Bundesverfassungsgerichtes

    https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Wichtige-Verfahrensarten/Parteiverbotsverfahren/parteiverbotsverfahren_node.html

    heißt es dazu:
    „Am 17. Januar 2017 entschied das Bundesverfassungsgericht erneut über ein Verbot der NPD. Dabei stellte der Zweite Senat zwar fest, dass die NPD ein auf Beseitigung der bestehenden freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtetes politisches Konzept vertritt. Wegen fehlender Anhaltspunkte für eine erfolgreiche Durchsetzung ihrer politischen Ziele wurde die Partei jedoch nicht verboten.“

    Diese Entscheidung beinhaltet also den Hinweis, dass für das Verbot einer Partei für die die Verfassungswidrigkeit festgestellt worden ist, noch zusätzlich eine gewisse Stärke dieser Partei festgesellt werden muss. Eine solche Stärke sah das Gericht 2017 bei der NPD nicht gegeben.

    Das Argument von Kahrs gegen ein AfD-Verbot „— denn dafür ist sie schon viel zu stark. Und zugleich ist sie eben so stark, dass sie die Weiterentwicklung der europäischen und globalen Zusammenarbeit zu stören oder gar zu blockieren vermag“

    dürfte aus Sicht des Verfassungsgerichtes heute geradezu ausschlaggebend dafür sein, dass wenn die Verfassungswidrigkeit der AfD festgestellt wurde, die AfD dann auch zu verbieten ist.

    2 Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz legt in § 43 fest, dass Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung eine Antrag zum Verbot einer Partei beim Bundesverfassungsgericht stellen können.

    Bisher ist es so, dass die im Bundestag, Bundesrat und in der Bundesregierung vertretenen rechtsstaatlich demokratischen Parteien eine Zusammenarbeit mit der aus ihrer Sicht verfassungsfeindlichen AfD ausschließen.

    Dabei ist die Verfassungsfeindlichkeit, die zu dieser „Brandmauer“ geführt hat, dieselbe Verfassungswidrigkeit, die gegebenenfalls vom Bundesverfassungsgericht in einem Parteiverbotsverfahren festgestellt wird.

    Wenn nun die rechtsstaatlich demokratischen Parteien im Bundestag, Bundesrat und in der Bundesregierung nicht in der Lage sind, einen Verbotsantrag beim Bundesverfassungsgericht zu stellen, werden sie über kurz oder lang auch nicht mehr in der Lage sein, die „Brandmauer“ gegenüber der AfD zu erhalten.

    In der Diskussion über einen solchen Verbotsantrag, die jetzt Fahrt aufnimmt, werden sich die rechtsstaatlich demokratischen Parteien daher entscheiden müssen. Halten sie die AfD für verfassungswidrig, müssen sie diesen Antrag stellen. Wenn sie den Antrag stellen, wird die Brandmauer halten.

    Halten sie die AfD nicht für verfassungswidrig, werden sie gegen diesen Antrag stimmen. Wer z.B. ein zur AfD offenes Rechtsbündnis in Bund und Ländern als Ziel vor Augen hat, wird gegen einen solchen Antrag sein.

    Ein wirkliches Risiko durch einen Verbotsantrag sehe ich nicht. Denn entweder das Bundesverfassungsgericht verbietet die AfD – womit ich rechne -, dann wird die AfD nicht mehr zur Wahl stehen können und würde ihre Stärke sofort verlieren.

    Oder das Bundesverfassungsgericht stellt fest, dass die AfD nicht verfassungswidrig und demnach auch nicht zu verbieten ist, dann wäre insofern die grundsätzliche Koalitionsfähigkeit der AfD geklärt und die Koalitionsbildungs- und Handlungsfähigkeit der Parlamente gestärkt.

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