Es war nicht Israel…

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Nach dem Raketenangriff des Iran auf Israel am 1. Oktober bildete sich in den USA und Europa sogleich eine politisch-mediale Phalanx, die vor der erwarteten israelischen Reaktion warnte. Führende west­liche Politiker und meinungsbildende Medien befürchteten, dass Israel mit einem umfassenden Schlag gegen iranische Atomanlagen antworten könnte. Dann werde die Lage »brandgefährlich«. In diesem täglich wiederholten Szenario wird Israel als Gefahr für den Weltfrieden dargestellt, um anschließend Betroffenheit über den grassierenden Antisemitismus zu heucheln. Die westliche Politik wäscht ihre Hände in Unschuld, eine Art Pontius-Pilatus-Syndrom.

US-Präsident Joe Biden lehnte einen Angriff auf iranische Nuklear­einrichtungen unmissverständlich ab. Ebenso wenig billige er eine Attacke auf Ölfelder. Damit sprach er dem UN-Generalsekretär António Guterres, dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell, der französischen und natürlich auch der deutschen Außenpolitik aus dem Herzen.

Donald Trump hingegen nutzte die Gelegenheit zum Widerspruch, um sich mit militärischem Spezialwissen zu profilieren: Biden liege falsch, man müsse »zuerst das Nukleare treffen und sich später um den Rest kümmern«. Der ehemalige israelische Ministerpräsident Naftali Bennett, der an einem Comeback arbeitet, brachte das Thema auf den Punkt: Hizbollah und Hamas seien vorübergehend gelähmt und der Iran stehe ungeschützt da, folglich müsse man »jetzt handeln, um das iranische Atomprogramm und seine zentralen Energieanlagen zu zerstören und dieses terroristische Regime tödlich zu treffen«.

Die Gunst der Stunde wird von Bennett einleuchtend benannt, doch er geht wie alle anderen Genannten von einer falschen Voraussetzung aus. Die westliche Politik betrachtet die Frage, wie das schier unaufhaltsame Streben des Iran nach Atomwaffen doch noch aufzuhalten wäre, als ein Problem Israels. Tatsächlich ist Israel der Gefahr zuvorderst ausgesetzt, da sich die Islamische Republik seine Vernichtung als oberstes Ziel gesetzt hat. Doch wenn Israel seine Zukunft verteidigt, wird alle Welt wohl Zeter und Mordio schreien.

Wohlfeiles Bemühen um Deeskalation

Freilich war es nicht Israel, das im Iran ein islamisches Schreckensregime installiert hat. Es war nicht Israel, das dieses Regime auf die Idee brachte, ein großes militärisches Atomprogramm aufzusetzen. Es war nicht Israel, das den Fortschritten dieses Atomprogramms 30 Jahre lang tatenlos zugesehen hat. Es war nicht Israel, das der Lüge von den friedlichen iranischen Absichten Glauben schenkte.

Vielmehr waren es die USA, die EU, Deutschland, Frankreich und Großbritannien im Verbund mit Russland und China, die in einem Akt bodenlosen Leichtsinns und verheerender Inkompetenz einer verhängnisvollen Ausnahmeregelung im Wiener Atomabkommen von 2015 (JCPOA) zustimmten. Der Absatz »Exemptions« in der Resolution 2231 des UN-Sicherheitsrats befreite genau jene modernen Zentrifugen von den nuklearbezogenen Sanktionen, mit denen der Iran heute routiniert die 20- und 60prozentige Anreicherung von Uran bewerkstelligt. Sie basieren auf westlicher Technologie und sind der Schlüssel für den raschen Fortschritt, den das Land in wenigen Jahren machen konnte.

Für Irans nuklearen Status sind westliche und darunter insbesondere deutsche Politiker und Unternehmen mitverantwortlich. Sie haben es auf perfide Weise verstanden, Israel die Aufgabe zuzuschieben, mit dem Unheil, das sie angerichtet haben, fertig zu werden, während sie selbst ein wohlfeiles Bemühen um Deeskalation demonstrieren. Das ist der Boden, auf dem der Antisemitismus prächtig gedeiht.

Einen atomar bewaffneten Iran zu verhindern, ist alles andere als ein israelisches Sonderinteresse. Das klerikalfaschistische Regime steht kurz davor, seine Ambitionen zu verwirklichen. Wenn ihm das gelingt, gibt es kaum noch Schranken, um eine weltweite Verbreitung von Atomwaffen aufzuhalten. Die Regierungen der USA und der EU haben seit Jahren und Jahrzehnten hoch und heilig versprochen, dass es keine iranische Atombombe geben werde. Werden sie noch Wort halten?

Wer ernsthaft eine militärische Eskalation im Nahen Osten vermeiden will, müsste nun alle nichtmilitärischen Register ziehen: die trügerischen iranischen Angebote zur Wiederaufnahme von Atomverhandlungen, mit denen das Regime nur Zeit gewinnen will, zurückweisen; den vielfachen Bruch des Wiener Abkommens durch den Iran und damit das Scheitern des JCPOA vor die UN bringen; alle früheren Sanktionen wieder reaktivieren; alle westlichen Unternehmen und ihre Filialen aus dem Iran abziehen und vieles andere mehr. Mit einem Wort: dem Regime klarmachen, dass es mit seinen Plänen nicht mehr so durchkommen wird, wie es bisher der Fall war.

Unter dem Titel „Eskalation oder Kapitulation“ erschien der Kommentar zuerst in jungle.world.

Detlef zum Winkel
Detlef zum Winkel, ursprünglich Physiker. Lebt in Frankfurt am Main und schreibt vornehmlich für die Berliner Wochenzeitung Jungle World. Betreut dort u.a. die Themen Atomenergie und Proliferation, aber leider auch Faschismus, weil es immer noch ein Thema ist.

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