Verteidigungsfähig, kriegstüchtig, wehrpflichtig – was wollen wir eigentlich?

Plakat zur Bundestagswahl am 6. September 1953
(Archiv für Christlich-Demokratische Politik auf wikimedia commons)

Dem aktuellen Kompromiss der Regierungskoalition, wie ein künftiger Wehrdienst in Deutschland aussehen kann, gingen monatelange koalitions- und parteiinterne Diskussionen voraus – und die Debatte ist mit der Einigung der Fraktionsspitzen sicher nicht beendet. Im Gegenteil, sie geht vermutlich jetzt erst richtig los. Es bleibt zu hoffen, dass sich nicht nur die „politischen Lautsprecher:innen“, sondern auch die unmittelbar betroffenen jungen Menschen in diese Diskussion einbringen. Die demokratischen politischen Parteien täten gut daran, nicht zuletzt auch im eigenen Interesse, dafür geeignete Formate zu entwickeln.
 

Zwei Bemerkungen vorweg: Erstens ist es natürlich das gute Recht junger Menschen, mit den vorgefundenen Verhältnissen unzufrieden zu sein, auf Veränderungen zu drängen und sich gegen vermeintliche oder tatsächliche Zumutungen zur Wehr zu setzen. Zweitens werden Privilegien häufig nur dann als solche angesehen, wenn sie einem nicht selbst zuteilwerden. Genießt man sie, dann bezeichnet man sie gerne als sozialen Besitzstand. Das gilt übrigens völlig unabhängig vom jeweiligen Lebensalter, dem sozialen Status und der Art der Privilegien.

Zumutungen und Privilegien

Die aktuelle politische Debatte um die Wiedereinführung der Wehrpflicht kreist häufig um die Frage, ob es nicht langsam genug sei mit den Zumutungen für die jüngere Generation. Je nach politischem Standort lauten die Begründungen dann (ohne Anspruch auf Vollzähligkeit): Schließlich müsste sie doch schon

  • mit der von den Alten verursachten Klimakrise fertig werden;
  • die Rentenlast der Alten tragen, ohne Aussicht auf eine eigene auskömmliche Altersversorgung;
  • durch mehr Arbeit und weniger Einkommen sich dem wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands entgegenstemmen;
  • die Versäumnisse einer neoliberalen Finanzpolitik ausbaden;
  • ihre Schulausbildung, ihr Studium in einem unzureichend ausgestatteten Bildungssystem absolvieren, usw.

Jeder der aufgeführten Punkte ist es wert, diskutiert und politisch gelöst zu werden. Wenn nicht ausreichend oder mit der gewünschten Zielrichtung, dann auch deshalb, weil dort, wo die Diskussionen stattfinden (sollen), nämlich in den Parteien, junge Menschen sich eine eigenartige Zurückhaltung auferlegen.

Kaum oder keine Erwähnung in der Diskussion finden die Tatsachen (auch hier ohne Anspruch auf Vollzähligkeit), dass

  • Deutschland ein unermesslich reiches Land ist und viele heute junge Menschen Erbschaften zu erwarten haben, von denen ihre Großeltern nur träumen konnten,
  • Deutschland heute ein Land ist, in dem die grundgesetzlich verbrieften Freiheitsrechte des Einzelnen so weit gefasst sind wie noch nie in unserer Geschichte;
  • der Lebensstandard im europäischen und erst recht im weltweiten Vergleich an der Spitze liegt und das Verfassungsgericht sorgfältig darauf achtet, dass der Sozialstaatsgedanke nicht unter die Räder kommt;
  • von Deutschem Boden, wie noch nie in unserer Geschichte, seit 80 Jahren kein Krieg ausging und das Militär sich bedingungslos dem Primat der Politik unterordnet.

Natürlich gibt es auch Missstände und Ungerechtigkeiten in unserem Staat, wie z. B. die Verteilungs- und die Chancengerechtigkeit, um nur ein Beispiel zu nennen. Ja, sie gibt es, aber wir haben die Freiheit, sie nicht nur zu benennen, sondern auch im Ringen um politische Mehrheiten zu beheben. Die Krux dabei ist, dass das, was die Einen als einen Missstand betrachten, die Anderen möglichweise als erstrebenswerten Zustand ansehen. Dass nennt man dann eine pluralistische Gesellschaft; die ist anstrengend und erfordert ein hohes Maß an gegenseitigem Respekt, Kompromissbereitschaft und nicht zuletzt politisches Engagement (auch und gerade von jungen Menschen, siehe oben). Denn alles in allem ist Deutschland ein Gemeinwesen, um dessen Erhalt und Weiterentwicklung es sich zu streiten lohnt. Gegen innere wie äußere Feinde gleichermaßen.

Geld und Soldaten

Damit sind wir beim Kern der Debatte: Im Inneren dürfte es weitgehender Konsens sein, dass mit Hilfe des staatlichen Gewaltmonopols die innere Ordnung aufrechterhalten, mit Hilfe und unter der Kontrolle der Justiz, bei Bedarf auch der Politik die freiheitliche Ordnung geschützt wird. Wie weit dieser Konsens im konkreten Einzelfall reicht, ist immer wieder Gegenstand politischer Auseinandersetzungen – und das ist gut so.

Was aber, wenn unsere Freiheit und unsere Art zu leben von außen bedroht wird? Ein Zustand, den viele als für überwunden angesehen haben und vielleicht manche heute noch so ansehen. Dafür gibt es die Bundeswehr und die Nato. Zwei Institutionen, die in den zurückliegenden Jahren unter einer gewissen Sinnkrise zu leiden hatten und finanziell im Vergleich zu den 60er,70er und 80er Jahren eher sparsam ausgestattet waren. Ihr Zweck ist klar: Sie sollen dafür sorgen, dass wir in der Lage sind, uns gegen äußere Bedrohungen zur Wehr zu setzen. Nach der Meinung einer großen Mehrheit in der Bevölkerung braucht es dafür erstens (viel) Geld für Waffen und Ausrüstung und zweitens Menschen, die sich dieser Aufgabe annehmen. Die Sache mit dem Geld ist zwischenzeitlich geregelt. Wer für diese Schulden geradestehen soll, darüber wird politisch heftig gestritten. Ob das Geld immer sinnvoll und zielgerichtet ausgegeben wird, darüber kann man geteilter Meinung sein.

Prüfung zur Wehrpflicht in Japan, um 1941 (Kabinettsnachrichtenbüro auf wikimedia commons)

Mit den Menschen, die sich dafür vorübergehend oder dauerhaft bereit erklären, bei der Bundeswehr ihre „berufliche“ Zukunft zu sehen, ist das noch schwieriger. Wenn nun aber die (jungen) Menschen nicht in ausreichender Anzahl bereit sind, diese Last auf sich zu nehmen, dann bleibt dem Staat, will er seiner Verantwortung um das „Wohl des Deutschen Volkes“ gerecht werden, nichts anderes übrig, als nach anderen Wegen zu suchen, um die Wehrhaftigkeit sicherzustellen. Wie er das machen soll, darüber streiten sich die Gelehrten und das ist, wenn die Motive lauter sind, legitim.

Wer in diesem Zusammenhang allerdings einem „Pazifismus mit der Folge der Wehrlosigkeit“ das Wort redet, das Bemühen um eine Ertüchtigung der Bundeswehr als Kriegstreiberei und ähnliches verunglimpft, der verfolgt möglichweise ganz anderen Ziele. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Das individuelle Recht auf Wehrdienstverweigerung oder meinetwegen auch Kriegsdienstverweigerung ist unbestritten und in unserem Grundgesetz garantiert. Aus diesem Individualrecht aber eine allgemeingültige Staatsdoktrin der Wehrlosigkeit ableiten zu wollen, ist vermessen. Jeder und jede kann für sich entscheiden, den Dienst an der Waffe zu verweigern, nicht aber dem Nachbarn vorschrieben wollen, es ihm gleich zu tun.

Niemand hat Hurra gerufen

Es gab in Deutschland, und das ist gar nicht so lange her, schon einmal eine Wehrpflicht in Ost und West. Wie es im Osten war, darüber kann ich mir kein Urteil erlauben. Im Westen jedenfalls hat kaum einer der damals jungen Männer vor Begeisterung „Hurra gerufen“, als ihn der Einberufungsbescheid erreichte. 18 Monate dauerte in den 50er, 60er und 70er Jahren die Zeit, in der man einen Teil seiner Freiheitsrechte am Kasernentor abgeben musste. Keine gute Zeit, waren doch in den Gründungsjahren der Bundeswehr und noch lange danach Offiziere und Unteroffiziere häufig ehemalige Wehrmachtssoldaten oder schlimmer. Das gesellschaftliche Klima in der alten Bundesrepublik ist jedenfalls mit dem von heute nicht zu vergleichen. Der Nato gehörten das faschistische Spanien genauso an wie die Militärjunta in Griechenland und die Rolle der USA auf der Weltbühne konnten schon Zweifel daran wecken, ob das mit der Wertegemeinschaft so seine Richtigkeit hat. (Mit Blick auf die USA wachsen die Zweifel wieder. Fest scheint allerdings zu stehen, dass Europa für seine Verteidigung auf die militärische Stärke der USA angewiesen ist.)

Die erdrückende Mehrheit der Menschen hat aber trotzdem den „Warschauer Pakt“ als Bedrohung empfunden und die Wehrdienstverweigerung nicht selten mit „Vaterlandsverrat“ gleichgesetzt. Dagegen ist heute (und jetzt bitte nicht den Einwand erheben „Opa erzählt vom Krieg“) das, was junge Menschen „beim Bund“ erwartet, mit Blick auf die Rahmenbedingungen und das gesellschaftspolitische Umfeld ein völlig anderes. Wir haben in weiten Teilen den Mief der Nachkriegsjahre überwunden. Unser Gemeinwesen ist bunt und vielfältig. Noch nie waren wir dem Anspruch „jeder soll nach seiner Facon selig werden“ so nah wie heute. Ein Zustand, den zu verteidigen sich lohnt: politisch im Inneren und durch Abschreckung im Äußeren.

Was allerdings bleibt: Wenn die Abschreckung nicht funktioniert, sollen und müssen Soldaten im Ernstfall für unsere Freiheit zur Waffe greifen, ihr Leben riskieren und uns verteidigen. Eine Aufgabe und Herausforderung, die – kommt die Wehrpflicht zurück, so die Verfassungslage, vor allem jungen Männern abverlangt wird – niemand auf die leichte Schulter nehmen soll und darf. Auch deshalb ist es wichtig und geboten, die Diskussion um Musterung und Wehrpflicht frei von Polemik und mit allem gebotenen Ernst zu führen.

Wolfgang Rose
Wolfgang Rose absolvierte eine Ausbildung zum Industriekaufmann und wurde 1972 Gewerkschaftssekretär in der Gewerkschaft Textil-Bekleidung (GTB). In der GTB arbeitete er in verschiedenen Funktionen. Zum Schluss, bis zur Integration der GTB in die IG Metall, leitete er im Hauptvorstand das Vorstandssekretariat der GTB. Danach wechselte er als stellvertretender Abteilungsleiter in die Abteilung 1. Vorsitzender der IG Metall. 2001 wurde er zum Vorsitzenden des gewerkschaftsnahen ACE Auto Club Europa gewählt. Seit 2015 ist er ehrenamtlicher Kreisvorsitzender der Arbeiterwohlfahrt im Rems-Murr Kreis.

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