
Der Historikerstreit in Israel ist mit seinem Namen verknüpft: Benny Morris veröffentlichte 1988 bei „Cambridge University Press“ die ersten Forschungsergebnisse zum Krieg 1948/49, zu Flucht und Vertreibung (Nakba) der palästinensischen Araber im britischen Mandatsgebiet Palästina sowie vor und nach der Gründung des jüdischen Staates Israel, in dem Morris am 8. Dezember 1948 zur Welt kam: Mit „Die Geburt des palästinensischen Flüchtlingsproblems“ begann eine jüngere Generation von israelischen Historikern die Geschichte ihres Landes neu zu erforschen, Mythen zum jüdischen Nationalismus zu hinterfragen. Der Gegenwind blies heftig. Erst knapp zwanzig Jahre später erschien das fundamentale und 2004 überarbeitete Werk von Morris auf Hebräisch. Benny Morris wurde als Nestbeschmutzer und Antizionist beschimpft. Jetzt, noch einmal zwanzig Jahre später, hat der emeritierte Professor der Geschichte an der Ben-Gurion-Universität in Beerscheba eine noch umfangreichere „Neubetrachtung“ mit einem brisanten zweiten Kapitel veröffentlicht.
Morris erhellt in diesem Kapitel „Die Idee des „Transfers“ im Zionistischen Denken vor 1948“: „die Rückkehr eines Volkes in seine Heimat“ zwischen Jordan und Meer (Eretz Israel). Gemeint sind damit die Umsiedlung, der „Bevölkerungsaustausch“ oder die Vertreibung der 1,25 Millionen Araber, die zwischen 1917 und 1947 im britischen Mandatsgebiet Palästina lebten. Mit dem „Transfer“ sollte in dem kleinen Land von 10.000 Quadratmeilen, in dem im Jahr der Staatsgründung zwischen 650.000 und 700.000 Juden lebten, eine „jüdische Heimstätte“ für die Juden entstehen, die die Vernichtungslager in Europa überlebt hatten, die nach 1948 vor den Repressionen Stalins flohen, die nach den ersten israelisch-arabischen Kriegen aus Syrien, Irak, Ägypten oder Marokko ausgewiesen oder vertrieben wurden.
„Wahrer Segen für Historiker“
Morris konnte jetzt in Israel Archive nutzen, die bisher verschlossen waren (vergleichbare arabische Archive sind immer noch nicht zugänglich): Tagebücher, Sitzungsprotokolle des israelischen Kabinetts 1948/49, Militärakten. Freigegeben wurden laut Morris 100.000 Dokumente, „ein wahrer Segen für Historiker“. Sein Blick auf den jüdischen Nationalismus der zionistischen Gründungsväter von Theodor Herzl über Chaim Weizmann bis David Ben Gurion ist nicht nur historisch erhellend. Er entschlüsselt auch die Gegenwart, denn ein Mann wie Benjamin Netanjahu, der seit Jahrzehnten die Politik in Israel bestimmt und seine Macht in einer weit rechten Regierung immer wieder festigt, wurde durch ihn geprägt, wie der deutsch-israelische Journalist und Historiker Joseph Croitoru in „Das System Netanjahu“ nachweist. Und diese Prägung bedeutet für diesen Politiker: „Es wird niemals einen palästinensischen Staat geben. Zwischen dem Jordan und dem Meer wird keine fremde Souveränität entstehen, und die jüdische Präsenz und der Siedlungsbau in ganz Judäa und Samaria werden fortleben, florieren und bis in alle Ewigkeiten existieren.“ Benjamin Netanjahu sprach diese Sätze am 6. September 1996 auf dem Likud-Parteitag (Croitoru, S. 113).
Beide Bücher enthüllen in schmerzhaft-schonungsloser Klarheit die Abgründe des israelisch-palästinensischen Konflikts, auf den sich seit dem Massaker der Hamas und anderer islamistischer Milizen am 7. Oktober 2023 in Israel, seit dem israelischen Vernichtungskrieg in Gaza, seit den Anklagen wegen Kriegsverbrechen vor dem internationalen Strafgerichtshof, der internationalen Anerkennungen eines unabhängigen palästinensischen Staates und einem 20-Punkte-Plan des US-Präsidenten Donald Trump wieder weltweit grelles Rampenlicht richtet.
Die Quellen, die Benny Morris in dem Kapitel „Transfer“ erstmals erschließt, widerlegen den „öffentlichen Katechismus der Zionisten“ (S. 84), nach dem in jenem Palästina zwischen Fluss und Meer Platz für beide Völker sei und es um „friedliche Nachbarschaft“ ginge. Im Tagebuch von Theodor Herzl, dem Gründungsvater der Zionistischen Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts, fand Morris unter dem Datum des 12. Juni 1895 andere Stichworte: Die Landkäufe in Palästina sollten mit Diskretion und Umsicht getätigt werden, Privatbesitz von Arabern gelte es „sachte“ zu „expropriieren“, „in unserem eigenen Land“ sollte Arabern „jederlei Arbeit“ verweigert werden, „mit Zartheit und Behutsamkeit“ sollten die Armen im Land „fortgeschafft“ werden. Morris findet noch wesentlich drastischere Aussagen führender Zionisten wie Chaim Weizmann oder Israel Zangwill, die den ansässigen, „südsyrischen“ Arabern absprachen, ein eigenständiges Volk zu sein: Eine Umsiedlung nach Syrien oder Irak hielten sie moralisch und politisch für vertretbar, „die Araber würden lediglich von einem arabischen Gebiet in ein anderes ziehen“, zitiert Morris (S. 82) aus Protokollen und Gesprächsnotizen.
Eine Absurdität
Offiziell aber hieß es bei den Zionisten, „auf keinen Fall durfte diese Idee in die ideologisch-politische Plattform der Bewegung aufgenommen werden“ (S. 82). In der Mandatszeit sollten die Briten diese Idee aufnehmen und vorantreiben. Bei der Labour-Partei waren die Zionisten damit erfolgreich: Auf dem Parteitag 1944/45 wurde der Transfer programmatisch beschlossen. Allerdings: Bei der Rückgabe des britischen Mandats an die Vereinten Nationen, in den UN-Plänen für eine Teilung des Gebiets in einen jüdischen und einen palästinensischen Staat oder späteren UN-Resolutionen spielte der „Transfer“ keine Rolle. Im Gegenteil: Verankert wurde ein „weltweit einzigartiger“ (Morris) Flüchtlingsstatus für (damals) rund 700.000 Palästinenser aus dem einstigen Mandatsgebiet mit einem von Generation zu Generation vererbbaren Rückkehrrecht, das auch gilt, wenn ein Palästinenser zum Beispiel die jordanische Staatsangehörigkeit erworben hat. Für Morris eine „Absurdität“, aber der Kern des palästinensischen Nationalismus.
Mit dem Entstehen dieses Nationalismus, den Aufständen und Gewaltausbrüchen (1929 und ab 1936) gegen die jüdische Einwanderung und zionistische Landkäufe änderte sich unter den Zionisten der Ton, verschwanden die moralischen Bedenken gegen einen „Transfer“, eine Umsiedlung, einen „Bevölkerungsaustausch“. Morris (S. 94) zitiert David Ben Gurion vom 12. Juni 1938:
Ich unterstütze den Zwangstransfer. Ich sehen darin nichts Unmoralisches.
Der Gedanke des „Transfers“, mit oder ohne Zwang, der Gedanke, für einen jüdischen Staat mit Masseneinwanderung brauche man „ganz Palästina“ (Ben Gurion nach der Pogromnacht 1938 in Deutschland) ist für Benny Morris nach diesem Erforschen der Quellen eindeutig: „Kein jüdischer Staat ohne Entwurzelung“, sagte er einmal bitter der linksliberalen Zeitung „Haaretz“ zur palästinensischen Katastrophe (so das arabische Wort Nakba).

Es ist die Politik, die ein Benjamin Netanjahu seit Jahren vorantreibt. Joseph Croitoru (1960 in Haifa geboren) erforscht das System dieses umtriebigen, ehrgeizig-skrupellosen und redegewandten Mannes und seiner Netzwerke mit wissenschaftlicher und journalistischer Neugier. In seinem knapp 300seitigen Buch füllen die Literatur- und Quellenangaben vierzig Seiten: Es ist eine schier erschöpfende Fundgrube für alle diejenigen, die ernsthaft wissen wollen, wie es zwischen den Israelis und den Palästinensern zu diesem Abgrund an Hass gekommen ist, warum und woran die Bemühungen um eine Zwei-Staaten-Lösung gescheitert sind und weiter scheitern werden. Und warum es Benjamin Netanjahu seit Jahrzehnten immer wieder schafft, Machtpositionen zu besetzen, einflussreiche Unternehmer für sich zu gewinnen und ein Netz von Menschen um sich zu versammeln, die er für sich einspannt oder ausspannt.
„Von Sieg zu Sieg“
Croitoru, der in den letzten beiden Jahren aufschlussreiche und hoch informative Bücher über die Terrororganisationen Hamas und Hisbollah veröffentlicht hat, geht Kapitel für Kapitel der Gedankenwelt des „Bibi“ Netanjahu nach (dieser Kosename stammt von seinem älteren Bruder „Joni“, der 1976 im Einsatz gegen die Flugzeugentführer in Entebbe ums Leben kam und dem sein Bruder „Bibi“ ein Buch gewidmet hat, das in Israel Kult geworden ist). Diese Gedankenwelt reicht weit in die Zeit der Zionisten zurück, die immer von Groß-Israel, dem biblischen Eretz Israel vom Jordan bis zum Meer, für den künftigen jüdischen Staat ausgegangen sind. Und die mit den bewaffneten Untergrundtruppen Irgun und Lechi in den 1930er und 1940er Jahren zunächst gegen die Briten, dann gegen die arabischen Truppen und gegen die palästinensische Zivilbevölkerung in den Dörfern und Städten gekämpft haben: Zeev Jabotinsky und Menachim Begin stehen für diese politische Bewegung unter den Zionisten.
Aufschlussreich ist in Croitorus Buch über das „System Netanjahu“, mit welcher Hartnäckigkeit Netanjahu von frühester Jugend an, in israelischen Eliteeinheiten der Armee, in seiner Studentenzeit in den USA und seinen ersten politischen Ämtern in der Botschaft seines Landes in den USA einflussreiche Verbindungen herstellt, um eine Politik für eine Zwei-Staaten-Lösung und eine Anerkennung eines palästinensischen Staates zu verhindern. Sein Feindbild sind seit deren ersten internationalen Erfolgen in den 1970er Jahren Jassir Arafat und die PLO. Und zusammen mit einem Menachim Begin, der Partei Likud und zunehmend rechteren Parteigruppierungen untergräbt er erfolgreich die Bemühungen in den 1990er Jahren um eine Friedenslösung, in der die Umsiedlung oder der Transfer eine Rolle gespielt hätten: Jeden neuen Terroranschlag, jedes neue Selbstmordattentat der Hamas oder anderer islamistischen Gruppen, jeden Raketenangriff der Hisbollah aus dem Libanon nutzte Benjamin Netanjahu für seine politische Linie, die seit den frühen 1970er Jahren auf eine Annexion der seit 1967 besetzten Gebiete im Westjordanland hinausläuft: „Ausdrücklich von einer ›Anwendung der Souveränität des Staates‹ auf ›alle Teile Eretz Israels‹ war in der Satzung der Partei die Rede, die im Mai 1993 unter dem gerade zum Parteichef gewählten Netanjahu verabschiedet wurde“, schreibt Croitoru (S. 191).
Wie soll, wie kann es im Nahen Osten weitergehen?
Seitdem verfestigen Gesetze, Erlasse zu immer neuen Siedlungen und Parlamentsbeschlüsse diese Politik, Schritt für Schritt auch in Zeiten eines Krieges, eines 20-Punkte-Plans oder UN-Resolutionen. Für Croitoru schwinden die Chancen zu irgendeiner friedlichen Lösung, wenn er zum Schluss Netanjahu am 5. Oktober 2025 zu Wort kommen lässt: „Von Sieg zu Sieg – gemeinsam verändern wir das Gesicht des Nahen Ostens. Gemeinsam werden wir weiter daran arbeiten, die Ewigkeit Israels zu sichern.“
Wie aber soll, wie kann es im Nahen Osten weitergehen? Selten hat es in den letzten Jahrzehnten in kurzer Zeit eine solche Fülle von Büchern gegeben, die über die Hintergründe und Abgründe dieses nahezu hundertjährigen Konflikts aufgeklärt haben. Vor allem israelische und jüdische Autoren bemühten sich um schonungslose Klarheit: Sehr früh nach dem 7. Oktober wies Ron Leshem die Nachlässigkeiten und brutal folgenreichen Fehleinschätzungen der Hamas im israelischen Militär und in der Politik nach; Croitoru enthüllte die großzügige Weiterleitung der katarischen Geldkoffer an die Hamas-Führung in Gaza durch die Regierung Netanjahu; Oren Kessler sah in dem gewalttätigen Aufstand der Araber im Jahr 1936 „die Wurzeln des Nahostkonflikt“, José Brunner erforschte in „Brutale Nachbarn“ die Emotionen wie die Gefühlslosigkeit auf israelischer wie palästinensisch-arabischer Seite.
Wozu aber könnte all das Wissen und all die Aufklärung beitragen? Dass es in diesem Konflikt keine Lösung gibt, weil jüdischer und palästinensischer Nationalismus auf diesen 10.000 Quadratmeilen keinen Platz haben? Weil eine Verständigung über Grenzen und Transfers, vielmehr Umsiedlungen von jüdischen Siedlern wie israelischen Arabern unmöglich erscheint? Weil die Terrororganisation Hamas freie Wahlen in einem palästinensischen Staat gewinnen und damit der unmittelbare Nachbar Israels mit Regierungsmacht würde? Fragen, bei denen sich Abgründe auftun. Gestellt und beantwortet werden müssen sie dennoch, zumindest von denjenigen, die das Existenzrecht des jüdischen Staates Israel nicht in Frage stellen und gleichzeitig das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser auf einen unabhängigen Staat einfordern. Wo sind die Politikerinnen und Politiker, die die Macht, den Einfluss und den Willen haben, sich diesen Fragen zu stellen, um die Gewalt, den Terror und die Kriege in diesem hundertjährigen Konflikt einzuhegen?
Der Artikel von Jutta Roitsch ist beste Aufklärung, einschließlich des Verweises auf die Quellen, die sie referiert. Vieles, was man ahnte, bruchstückhaft gelesen hat, wird betätigt. Aber der Inhalt, den sie vermittelt, ist zugleich tief deprimierend. Wo sollte eine Antwort auf die Fragen herkommen, die Jutta Roitsch am Ende ihres Beitrages stellt, wenn in den vergangen Jahrzehnten niemand eine Antwort gefunden, und wenn vielleicht für sich gefunden, nicht proklamiert und politisch durchgesetzt hat? Ich fürchte, den jüdisch-arabischen Messias, wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Wenn ich es recht beurteilen kann, sieht der „Friedensplan“ Trumps keine Zwei-Staaten-Lösung vor, sondern eher de facto eine sublime Form des Transfers. Befrieden und die Wurzeln des Terrors in der Region ausrotten, wird das nicht. Darum sind die Aussichten deprimierend.