Ein frommer Wunsch? Aber nur so könnte es einen Neuanfang geben

Foto: Jaber Jehad Badwan auf wikimedia commons

Es ist ein bewegendes Zeugnis: „Gaza brach vor unseren Augen zusammen. Ganze Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht. Straßen verschwanden. Wahrzeichen wurden zu Staub. Ich kochte über offenem Feuer. Ich trug Wasser in Eimern. Manchmal benutzten wir Meerwasser. Manchmal hatten wir gar nichts. Jeden Tag wachte ich auf und überlegte, wie ich es bis zum nächsten Tag schaffen könnte. Wir hatten keinen Strom. Kein Gas. Kein Internet. Nur Dunkelheit“ (SZ, 17.10.2025). Yara, 18, und Tareq, 17, klagen an, man habe ihnen die Menschenwürde genommen und fragen, was sie falsch gemacht hätten, um dieses Schicksal zu verdienen. Gaza werde dämonisiert, dabei habe es auch dort ein buntes Leben gegeben, Strände mit weichem Sand, Boote am Kai, Märkte, Buchläden, lärmende Familien, nächtliche Sterne, Stille, in der man das Meeresrauschen hören konnte. Heute sei der Gazastreifen ein Friedhof mit wandelnden Schatten.

Yara beschuldigt die Welt, sich hinter falscher Besorgnis und Friedenssprüchen zu verstecken: „Wir leben in einer Welt heiliger Lügen.“ Von den Palästinensern werde erwartet zu schweigen, während fremde Mächte ihr Überleben verhandeln. Das weist die junge Frau zurück. „Nein. Wir werden euch nicht danken. Wir werden euch nicht vergeben. Unser Blut ist kein Verhandlungsobjekt.“ Es gebe keine Heilung ohne Gerechtigkeit und keine Gerechtigkeit ohne die Benennung eines Völkermords. Dazu nehmen die beiden die internationale Öffentlichkeit in die Pflicht: „Wir werden fragen: Wo wart ihr“. Nicht zufällig schwingt etwas Bedrohliches in diesen Worten mit.

Die SZ legt nahe, diese Stimmung sei repräsentativ für einen relevanten Teil der Jugend in Gaza. Wenn das so ist, dann zeigt der Bericht nicht nur, wie weit ein Frieden noch entfernt ist, sondern auch wie brüchig die aktuelle Waffenruhe ist. Einen bedingungslosen Waffenstillstand erkennen Yara und Tareq zwar als notwendig an, trotzdem empfinden sie ihn als schreiendes Unrecht. Übrigens ist er in Gaza mit Freudenschüssen gefeiert worden. Nun, das ist vielleicht nur eine Stilfrage. Falsch ist allerdings, dass der Waffenstillstand ohne Bedingungen zustande gekommen wäre. Die Bedingung war die Freilassung der israelischen Geiseln durch die Hamas. Darüber reden die beiden nicht.

Die Hamas wollte den Krieg

Doch zum einst bunten Leben in Gaza gehörte auch eine Verwaltung, eine wenn nicht gewählte, so doch von den Bewohnern letztlich anerkannte Autorität, eine Gruppe, die die Macht ausübte und im Namen von Gaza auftrat. Diese Gruppe ist konkret, ihr Name und ihr Handeln sind bekannt, es nützt also nichts, sie zu beschweigen. Die Hamas wollte den Krieg und hat ihn mit iranischen Helfern geplant und vorbereitet. Dann hat sie ihn mit einem beispiellosen Pogrom an israelischen Zivilisten begonnen und in den folgenden 738 Tagen alles unterlassen, wozu eine Gemeinschaft eine Vertretung unterhält, nämlich die Mitglieder dieser Gemeinschaft zu schonen und zu schützen. Im Gegenteil, die Kämpfer der Miliz haben sich hinter der Zivilgesellschaft von Gaza versteckt. Sie haben sich auch hinter Yara und Tareq versteckt und tun es immer noch. Es fällt schwer nachzuvollziehen, wie man angeblich nicht bemerkt, wenn Milizionäre Raketen von Schulhöfen abschießen, während sie die Schüler daran hindern, im Tunnelsystem Schutz zu suchen, weil es für terroristische Zwecke vorbehalten wird. Eine verantwortliche Zeitungsredaktion, die sich um den Bericht intensiv bemüht hat, hätte das zur Sprache bringen sollen. Schließlich handelt es sich dabei um die typische Praxis von Geiselnehmern.

25. Jahrestag der Hamas, 8. Dezember 2012
(Foto: Hadi Mohammad auf wikimedia commons)

Die beiden Teenager erzählen vom Schulunterricht und den Prüfungen in Differential- und Integralrechnung, Chemie und Informatik. Diese spannenden Fächer beruhen darauf, dass Menschen irgendwann erkannt haben, dass es ohne Ursa he keine Wirkung gibt. So konkret die Wirkungen sind, so konkret sind auch ihre Ursachen. Der entsetzliche Krieg ist nicht über Gaza hereingebrochen, weil „die Welt“, gesteuert natürlich durch Israel, die unbequemen Palästinenser hätte loswerden wollen. Sondern er ist von der eigenen Obrigkeit begonnen und verloren worden. Diese Autorität muss abgeschafft werden, weil sie das eigene Volk, statt es zu vertreten, ausgeliefert hat.

Moralisch verbrämte Politik

Welcher Vorteil ergab sich für die Menschen von Gaza durch den von der Hamas gewollten und von weit auswärts, nämlich in Teheran, konzipierten Krieg? Warum mussten die israelischen Geiseln 738 Tage lang festgehalten werden und nicht beispielsweise 73 Tage. Oder sieben Tage. Wie sähe Gaza heute aus, wenn sie nach sieben Stunden freigelassen worden wären? Es war die Hamas, die diesen Krieg bis zur Zerstörung von Gaza verlängert hat und selbst dann nicht aufhören wollte. Dazu gibt es eine Erklärung: weil die Zahlungen aus dem Iran notgedrungen ausblieben, hat man wieder im arabischen Lager um Unterstützung nachgesucht. Die war aber mit der Bedingung verknüpft, die Geiselnahme irgendwie zu Ende zu bringen.

Weil er über diese Umstände geflissentlich hinwegsieht, wirkt der Artikel in der Süddeutschen Zeitung wie der Versuch, von einer imaginären Weltöffentlichkeit Palästina-Solidarität zu erpressen, während die reale Autorität von Gaza geschont wird. Das ist eine moralisch verbrämte Politik, die nicht nur der Bevölkerung des Gazastreifens, sondern eben auch der Hamas eine Atempause verschaffen möchte.

Und so geschieht es leider auch. Im ersten Schritt des sogenannten Trump-Plans wurden die überlebenden zwanzig israelischen Geiseln und im Gegenzug fast 2000 inhaftierte Palästinenser freigelassen, während sich die israelische Armee auf vereinbarte Waffenstillstandslinien zurückzog. Prompt begannen Hamas-Kämpfer damit, wieder die Kontrolle über den Gazastreifen zu übernehmen und vermeintlich von Israel unterstützte Clans auszuschalten. Die Drohung ist deutlich: Hamas will keine Opposition dulden. Wie Hohn klingt die Zusicherung der Organisation, sie wolle sich später einmal freien Wahlen stellen. Ein politischer Fortschritt ist in Gaza vorerst nicht zu erkennen. Dabei müsste gerade das Leiden der Palästinenser Veränderungsdruck bewirken.

Im nächsten Schritt sieht der Trump-Plan die Entwaffnung der Hamas und eine befristete Regelung vor, in der internationale Sicherheitskräfte die Kontrolle im Gazastreifen übernehmen und seine Entmilitarisierung sicherstellen sollen. Ein Board of Peace, gebildet von den Regierungen der beteiligten Truppenkontingente soll die Funktionen einer Übergangsregierung wahrnehmen. Trump brachte hierfür neben den USA „arabische und europäische Partner“ ins Spiel. Die Staaten der EU werden wie üblich Geld geben und keine Verantwortung übernehmen. Genannt werden häufig Ägypten, Katar und die Türkei, die das Waffenstillstandabkommen am 14. Oktober gebilligt hatten. Dass deren Truppen eine Entmilitarisierung des Gazastreifens erzwingen, obwohl dort keine nennenswerte Zivilgesellschaft energisch die Entwaffnung der Hamas unterstützt, ist schwer vorstellbar.

Wenn nicht einmal die Jugend, die auf eine Zukunft hofft, imstande ist, die Niederlage einzuräumen, auszusprechen und Konsequenzen daraus zu ziehen, sieht es finster aus. Nach Lage der Dinge wäre nur die israelische Armee fähig und gewillt, die Hamas und andere islamistische Milizen im Gazastreifen zu entwaffnen und an einer militärischen Restituierung zu hindern. Das wäre allerdings gleichbedeutend mit der Wiederaufnahme des Krieges. Starke ökonomische Interessen, die sie mit den arabischen Staaten verbinden, hindern Trump und Netanyahu einstweilen daran, die Militärmaschine wieder in Gang zu setzen.

Freude und Trauer, Erleichterung und Traumatisierung

Netanyahu feiert seinen Sieg und reklamiert die Freilassung der Geiseln als sein Verdienst. Trump möchte sich zum Friedensfürsten küren lassen, am besten durch einen Nobelpreis, um innenpolitisch desto härter durchgreifen zu können. Realistisch gesehen gibt es aber nur einen einzigen, freilich gewaltigen Fortschritt: Das ist die Rettung von zwanzig Geiseln und die Bergung der sterblichen Überreste jener, die das Massaker der Hamas und die darauffolgenden Torturen in der Geiselhaft nicht überlebt haben. Die Rückkehr der Geiseln setzte in Israel unglaubliche Emotionen frei: Freude und Trauer, Erleichterung und Traumatisierung gleichzeitig. Die Menschenmenge, die sich versammelt hatte, um sie zu empfangen, reagierte überschwänglich, wenn der Name des US-Präsidenten fiel und pfiff gellend, wenn die Rede auf den eigenen Premierminister kam. Das war impulsiv – und schlau. Man vergisst es Netanyahu nicht, dass er eine Waffenruhe zu Beginn des Jahres gebrochen und das Leben der Geiseln immer wieder aufs Spiel gesetzt hat.

In Israel gibt es eine starke Opposition gegen die Regierung und ihre teils rechtsextremistischen Mitglieder in Schlüsselministerien. Das hervorzuheben ist alles andere als banal oder überflüssig. Denn diese Opposition hat zwei Jahre lang unablässig und unnachahmlich für das Überleben der Geiseln gekämpft. Deren Familien ließen nichts unversucht, um Netanyahu und seine Regierung von einer militärischen Konfliktlösung abzubringen, sie kämpften gemeinsam mit vielen Aktivisten bis zur völligen Erschöpfung.

So konnten sie die öffentliche Meinung hinter sich bringen. Auch sie bräuchten jetzt eine Atempause, um das Geschehen zu verarbeiten und die Regeneration ihrer Lieben zu sichern. Bei den nächsten Wahlen, so hoffen es die oppositionellen Parteien, werde Netanyahu die fällige Quittung erhalten. Doch das dauert noch ein Jahr, und in dieser Zeit kann viel geschehen. Wenn Netanyahu für den Schaden, den er für Israel und Gaza angerichtet hat, seines Amtes enthoben, angeklagt und bestraft werden soll, wie es viele prominente Stimmen aus der Zivilgesellschaft Israels fordern, dann kann es dafür keinen Aufschub geben.

Hier liegt der Schlüssel für eine friedlichere Zukunft. Eine neue und andere Regierung könnte den Palästinensern die Hand bieten und sie ermutigen, ihrerseits reinen Tisch mit ihrer terroristischen Tradition zu machen, endlich. Ein frommer Wunsch? Ja, aber nur so könnte ein Neuanfang beginnen.

Unter dem Titel „Atempause in Gaza“ erschien der Beitrag zuerst in konkret 12/2025

Detlef zum Winkel
Detlef zum Winkel, ursprünglich Physiker. Lebt in Frankfurt am Main und schreibt vornehmlich für die Berliner Wochenzeitung Jungle World. Betreut dort u.a. die Themen Atomenergie und Proliferation, aber leider auch Faschismus, weil es immer noch ein Thema ist.

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