Verschwörungstheorien, eine Folge von Status- und Kontrollverlusten

Während der Corona-Pandemie sei ihm schnell klar geworden, „dass die Art und Weise, wie wir über Verschwörungstheorien sprechen, nicht immer die hilfreichste ist. Die Mitglieder der sehr heterogenen Querdenker-Bewegung wurden pauschal als Spinner oder Schwurbler abgewertet“. Die Proteste seien aber zu sehr von außen homogenisiert worden, betont Michael Butter im Interviev mit Thomas Gesterkamp. Butter ist Initiator des EU-Projekts “Comparative Analysis of Conspiracy Theories“. Psychologisch betrachtet, betont er, entstünden Verschwörungstheorien „auf der Basis von Status- und Kontrollverlusten, verursacht etwa durch eine schwere Krankheit oder den Verlust des Arbeitsplatzes, durch das Gefühl, das eigene Leben geht den Bach runter oder wird das bald tun.“ Insofern gehe es um das Bewahren des Sozialstaates oder um Maßnahmen dagegen, dass nicht ganze Landstriche veröden, vor allem im Osten Deutschlands.

Thomas Gesterkamp: Herr Butter, ihr neues Buch heißt “Die Alarmierten – Was Verschwörungstheorien anrichten”. Wer ist denn alarmiert?

Michael Butter: Alarmiert sind natürlich die, sich vor Verschwörungen fürchten, die überall Komplotte entdecken. Aber das Wort zielt in einem gewissen Grade auch auf jene, die Verschwörungstheorien pauschal als eine große Gefahr darstellen.

Sie erläutern ausführlich, warum sie den Begriff “Verschwörungstheorie” verwenden, und nicht, wie andere Forschende, von Verschwörungsmythen, Verschwörungserzählungen oder Verschwörungsfantasien sprechen. Warum ist Ihnen diese Unterscheidung so wichtig?

Michael Butter: Als international sehr vernetzter Forscher weiß ich, dass das Wort Verschwörungstheorie in allen anderen Sprachen überhaupt nicht hinterfragt wird. Die Ablehnung des Begriffes in Deutschland betrachte ich als Symptom für einen nicht immer ganz idealen Diskurs zum Thema. Denn wenn man der Gegenseite abspricht, dass sie überhaupt in der Lage ist, Theorien zu entwickeln, dann macht man den Graben zwischen denen, die Verschwörungstheorien anhängen und denjenigen, die sie ablehnen, noch größer als er ohnehin schon ist.

Michael Butter studierte Anglistik, Germanistik und Geschichte in Freiburg, promovierte in Bonn. Seit 2014 lehrt er als Professor für Amerikanische Literatur und Kulturgeschichte an der Universität Tübingen. Butter ist Initiator des EU-Projekts “Comparative Analysis of Conspiracy Theories”, in dem ein interdisziplinäres Forschungsteam die Hintergründe und Gefahren von Verschwörungstheorien vergleicht.

Verschwörungstheorien gefährden die Demokratie, lautet ein gängiges Argument in der politischen Debatte. Sie halten dagegen: Deren Einfluss werde überschätzt…

Michael Butter: In meinem Buch versuche ich, in verschiedenen Bereichen eine Differenzierung vorzunehmen. In der Tat, Verschwörungstheorien können sehr gefährlich sein, sie können in bestimmten Kontexten auch zu einer Gefahr für die Demokratie werden. In einem eigenen Kapitel zu den USA beschreibe ich diese Gefahren ausführlich. Aber wenn man Deutschland betrachtet, wird der Einfluss von Verschwörungstheorien manchmal missverstanden. Sie werden automatisch in Verbindung gebracht mit rassistischen, sexistischen oder antisemitischen Einstellungen. Die sind wirklich problematisch, die finden wir aber auch außerhalb von Verschwörungstheorien.

Als Amerikanist haben Sie sich viel mit der Geschichte der USA beschäftigt und beobachten die derzeitige politische Lage unter der Regierung von Donald Trump. Inwiefern ist die Situation in den Vereinigten Staaten gefährlicher als in Deutschland und Europa?

Michael Butter: Was wir in den USA gerade sehen, ist ein Angriff auf die Demokratie. Die autoritären Tendenzen in einem zunehmend autokratischen System sind nicht mehr zu leugnen. Die amerikanische Demokratie steckt in einer tiefen Krise, und Trumps Verschwörungstheorie von der gestohlenen Wahl gegen Joe Biden, die er vor und nach dem Sturm auf das Kapitol laufend verbreitet hat, steht am Anfang dieser Entwicklung.

Schon In Ihrem Buch “Nichts ist, wie es scheint”, das zwei Jahre vor dem Corona-Ausbruch erschien, haben Sie betont, dass Verschwörungstheorien nicht nur in der politischen Rechten Anklang finden…

Michael Butter: Verschwörungstheorien fallen besonders auf, wenn sie vom rechten Rand der Gesellschaft kommen. Das liegt in Deutschland auch an der historischen Erfahrung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust, wo die Theorie von der jüdischen Weltverschwörung ja eine zentrale Rolle spielte. Verschwörungstheorien von rechts sind oft mit menschenfeindlichen Positionen verbunden. In der Mitte der Gesellschaft oder auch von links sind sie weniger häufig – weshalb sie uns da meist nicht so stören.

In Debatten um den Ukraine-Krieg wird schnell und pauschal Russland als Schuldiger benannt. Wenn über deutschen Flughäfen Drohnen entdeckt oder Behörden durch Cyberangriffe zeitweise lahmgelegt werden, gerät sofort Präsident Wladimir Putin in Verdacht. Besonders absurd war die Behauptung, Russen hätten in der Ostsee die Gaspipeline Nord Stream gesprengt – von der sie wirtschaftlich massiv profitieren. Betrachten Sie solche Verdächtigungen auch als Verschwörungstheorien?

Michael Butter: Das Pipeline-Beispiel ist sehr treffend, weil man da sieht, wieso Menschen zu Verschwörungstheorien neigen, wenn sie in ihr Weltbild passen. Ein anderes Beispiel, mit dem ich oft auf Veranstaltungen konfrontiert werde, ist das Attentat auf Donald Trump. Ganz viele Menschen, die Verschwörungstheorien sonst eher skeptisch gegenüber stehen, haben sich da für einen Moment gefragt: War dieses Attentat fingiert, um ihm den Wahlsieg zu bringen? Bei der Pipeline-Geschichte war die prominenteste Theorie die des Publizisten Seymour Hersh, der viele problematische Handlungen der US-Regierung aufgedeckt hat und nun behauptet, Nord Stream wäre von den Amerikanern gesprengt worden – obwohl alle Beweise, die wir mittlerweile haben, dagegen sprechen. Hersh würde niemand absprechen wollen, dass er ein überzeugter Demokrat ist, und trotzdem können solche Menschen manchmal durchaus empfänglich sein für Verschwörungstheorien.

Im Englischen heißt die Methode “Reverse labeling”: Mit Hinweis auf Verschwörungstheorien werden unliebsame Meinungen delegitimiert, die eigenen Ansichten hingegen überstehen angeblich jeden Faktencheck. Eine sehr überheblich-moralische Position – entsteht auch so Alarmismus?

Michael Butter: Ja, man schaut eigentlich gar nicht mehr richtig hin. Wenn die überfallene Ukraine, auf deren Seite man eigentlich steht, plötzlich eine Pipeline zerstört, die den deutschen Staat Milliarden Euro gekostet hat, passt das nicht ins eigene Weltbild.

Insofern wäre es für den öffentlichen Diskurs manchmal besser, statt vorschnellen Urteilen erstmal innezuhalten und nachzudenken.

Überspitzt ausgedrückt: Die Behauptung, dass überall gefährliche Verschwörungstheorien lauern, ist selbst eine Art Verschwörungstheorie?

Michael Butter: Ich weiß nicht, ob ich das schon als Verschwörungstheorie bezeichnen würde. Denn das bedeutet ja im Kern, irgend jemand verfolgt einen sinisteren Plan dabei. Ich beschreibe in dem Buch jedoch, dass es sehr gut gemeinte Maßnahmen gibt gegen Verschwörungstheorien, die dazu neigen, selbst ins Verschwörungstheoretische zu kippen.

Was meinen Sie damit? Zum Beispiel die staatlich geförderten Programme zur Verteidigung der Demokratie?

Michael Butter: Diese Programme sind an sich sehr wichtig. Ich beobachte aber, dass manches, das da gefördert wird, nicht immer so gut funktioniert. Zum Beispiel ist in der Forschung längst widerlegt, dass Verschwörungstheorien automatisch antisemitisch sind.

Andere Dinge dagegen wie Beratungsstellen, die aufklären und Tipps geben, wie man mit Verschwörungstheoretikern im eigenen Umfeld umgehen sollte, funktionieren ganz gut.

Sie arbeiten seit langem in internationalen Kontexten zum Thema. Wird mit Verschwörungstheorien in Deutschland alarmierter umgegangen als anderswo?

Michael Butter: Mit Sicherheit. Ich bin noch beteiligt an einem Projekt, das Ende Oktober offiziell ausgelaufen ist, wo wir aber gerade dabei sind, das auszuwerten. Da geht es um den Einfluss der Digitalisierung auf Verschwörungstheorien in verschiedenen europäischen Regionen. In diesem Projekt haben wir Interviews geführt mit Leuten, die sich in diesen Ländern gegen Verschwörungstheorien und Desinformation engagieren. Und da muss man ganz klar sehen: Es gibt nirgendwo so viele Projekte mit dem expliziten Fokus auf Verschwörungstheorien wie in Deutschland. Projekte in anderen Regionen, etwa im Baltikum oder in Großbritannien, konzentrieren sich eher auf Desinformation und Fakenews.

Sie interpretieren Verschwörungstheorien als ein Symptom, als Oberfläche eines Unbehagens, das tiefer sitzt. Was raten Sie, um ihre Verbreitung einzudämmen?

Michael Butter: Beratungsstellen wie Veritas in Berlin oder Zebra in Freiburg machen hervorragende Arbeit etwa bei familiären Konflikten, helfen also dann, wenn ein Familienmitglied Verschwörungstheorien anhängt. Leider sind diese Angebote meist chronisch unterfinanziert. Daneben gibt es ganz viele Materialien für Schulen, auch das ist wichtig, denn Aufklärung hilft. Das darf man aber nicht nur in der gymnasialen Oberstufe machen. Denn der Glaube an Verschwörungstheorien korrespondiert häufig mit einem geringen Bildungsgrad, insofern wären andere Schultypen genauso wichtig. Und wenn man die eigentlichen Ursachen angehen will: Psychologisch betrachtet entstehen Verschwörungstheorien auf der Basis von Status- und Kontrollverlusten, verursacht etwa durch eine schwere Krankheit oder den Verlust des Arbeitsplatzes, durch das Gefühl, das eigene Leben geht den Bach runter oder wird das bald tun. Insofern geht es um das Bewahren des Sozialstaates oder um Maßnahmen dagegen, dass nicht ganze Landstriche veröden, vor allem im Osten Deutschlands.

Foto, 2020: Leonhard Lenz auf wikimedia commons

Zwischen dem Erscheinen Ihrer beiden Bücher zum Thema liegt die Corona-Krise. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Michael Butter: Das war für die Forschung natürlich extrem spannend. Ich habe mir zum Beispiel damals die Demonstrationen in Stuttgart angeschaut. Während der Pandemie ist mir schnell klar geworden, dass die Art und Weise, wie wir über Verschwörungstheorien sprechen, nicht immer die hilfreichste ist. Die Mitglieder der sehr heterogenen Querdenker-Bewegung wurden pauschal als Spinner oder Schwurbler abgewertet. Manche dieser Leute können wirklich gefährlich werden, aber man darf sie nicht alle über einen Kamm scheren. Die Querdenker wurden sicher von Verschwörungstheorien zusammengehalten, doch die Proteste wurden zu sehr von außen homogenisiert. Die Beteiligten sind zwar gemeinsam marschiert, man hat dann jedoch sofort den Schluss gezogen, die sind alle nach rechts unterwegs oder sind schon rechts und auch noch tendenziell antisemitisch ausgerichtet. Ich glaube, es wäre sinnvoller gewesen, genauer hinzuschauen und zu versuchen, gewisse Keile zwischen die einzelnen Gruppierungen zu treiben. Und dabei klar zu unterscheiden zwischen denjenigen, die man noch erreichen kann, und jenen, wo das keinen Sinn mehr macht.

Unter dem Titel „Nirgends haben Leute so viel Angst vor Verschwörungstheorien wie in Deutschland“ erschien das Interview zuerst in der Freitag

Thomas Gesterkamp
Dr. Thomas Gesterkamp ist Politikwissenschaftler, Journalist und Buchautor. Einen Schwerpunkt seiner Arbeit bildet die Geschlechter- und Männerpolitik, zudem berichtet er über wirtschafts-, sozial-, bildungs- und kulturpolitische Themen. Er schrieb fünf Sachbücher und veröffentlichte rund 4000 Beiträge im Hörfunk, in Tages- und Wochenzeitungen sowie in Sammelbänden und Fachzeitschriften. Website: https://thomasgesterkamp.com/

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