Von der Stapelkrise zum Krisenstrudel – Wie Terror und Kriege in Israel und der Ukraine die deutsche Bevölkerung psychologisch überfordern: Mit dem „Deutschland-Psychogramm“ fühlt der Gesellschaftsforscher Dirk Ziems vom Institut concept m den Bürgern in Tiefeninterviews und Gruppendiskussionen den psychologischen Puls. In einer aktuellen tiefenpsychologischen Studie mit 30 Teilnehmern hat er sich mit den Reaktionen auf die Kriege in Israel und der Ukraine auseinandergesetzt. Der zentrale Befund, den er im folgenden Beitrag erläutert: Die Überforderung der Bevölkerung geht in eine neue Belastungsstufe über.
Mit dem Hamas-Terror und den Gegenschlägen Israels ist die deutsche Medienöffentlichkeit in den letzten Wochen mit schrecklichen Bildern konfrontiert worden: Wahllose Massaker unter israelischen Festival-Besuchern, Verschleppungen von Frauen und Kindern, Enthauptung von Säuglingen vor der Kulisse eines friedlichen Kibbuz. Gefolgt von Bildern von Bombardements des Gaza-Streifens, verzweifelten flüchtenden Familien, der Ankündigung einer Bodeninvasion der israelischen Armee mit einem lang andauernden brutalen Häuserkampf.
Wie wirkt sich das alles auf die deutsche Bevölkerung aus? In unseren Tiefeninterviews können wir tiefe Einblicke in die psychologischen Verarbeitungsmechanismen der sogenannten „Normalbürger“ gewinnen. Ein zentraler Befund unserer Forschung ist: Mit den Kriegen geht die erlebte Polykrise in ein neues Stadium über. Die große Mehrheit der Bürger ist vollständig überfordert, zu den beiden Kriegen eine innere Haltung zu gewinnen und Position zu beziehen.
Erleben des Ukraine-Kriegs: Von der Schockstarre zur Abstumpfung
Um die aktuellen Reaktionen auf den Krieg in Israel und Gaza zu verstehen, ist es hilfreich zu beleuchten, wie die Bevölkerung den Fortgang des Ukraine-Kriegs erlebt und verarbeitet hat. Denn die psychologischen Mechanismen, die sich dabei herausgebildet haben, prägen aktuell die Wahrnehmung des Israel-Hamas-Konflikts.
Der Beginn des Ukraine-Kriegs ist von der breiten Bevölkerung in Deutschland als Einschnitt und Epochenbruch erlebt worden. Überzeugt davon, dass ein Angriffskrieg in Europa nicht mehr möglich sein könnte, hat man den Überfall Russlands als Sturz ins Bodenlose erlebt. Elementare Sicherheiten und die Grundstabilität des Lebens gerieten ins Wanken. Das Medienpublikum verfolgte die Kriegsnachrichten wie in einer Schockstarre gebannt. Wie im Zwang konnte man sich nicht mehr von der Kriegsberichterstattung abwenden. Die Identifikation und das Mitleiden mit den ukrainischen Kriegsopfern ist dadurch verstärkt worden, dass man zerstörte Straßen, Häuser, Wohnungen und verzweifelte Menschen aus dem gefühlt gleichen Kulturraum sah, so als könnte all das auch in Deutschland geschehen. Als Folge breiteten sich frei flottierende Ängste aus. Würde der Krieg eskalieren und auf Mitteleuropa übergreifen? Würde eine nie dagewesene Energie- und Wirtschaftskrise einsetzen?
Die Schockstarre ist nach relativ kurzer Zeit in eine Abstumpfung übergegangen, die im Wesentlichen bis heute anhält. Es setzte der überlebenswichtige Mechanismus der Abspaltung und Verdrängung ein. Denn wenn die Deutschen es nicht geschafft hätten, den Angstkern des Kriegsthemas zumindest partiell auszublenden, hätten sie ihr normales Alltagsleben nicht fortsetzen können. Eine Reihe von Interviews mit Flüchtlingen, die in die Ukraine zurückgekehrt sind, haben uns übrigens gezeigt, dass auch für die Kriegsbetroffenen in Kiew oder Odessa Verdrängung und Bagatellisierung eine psychische Überlebensstrategie ist.
Die ‚leidende Mehrheit’ wird von den verdrängten Ängsten belastet und zeigt eine fluktuierende Empathie
Verdrängung ist jedoch bekanntlich keine stabile Lösung. Entsprechend ringt die ‚leidende Mehrheit’ der Bevölkerung beständig mit dem verdrängten Angstkern des Kriegsthemas. Der Horror des nicht enden wollenden Krieges belastet einen. Man will nichts mehr davon hören, es ist alles nur schlimm und schrecklich. Dennoch kommt man meist doch nicht umhin, immer mal wieder hinzuschauen, was dort Schreckliches passiert. Dieses Hin-und-her der Reaktionen ähnelt dem Verhalten von Kindern, die schlimme Szenen in einem Film sehen: Sie halten sich die Augen mit den Händen zu, schauen aber immer wieder durch einen Spalt zwischen den Fingern auf das Geschehen und nehmen den Schrecken bruchstückhaft wahr. Entsprechend entwickeln sich auch keine rational-abgewogenen konsistenten Haltungen und Standpunkte zum Fortgang des Ukraine-Kriegs, sondern Formen von fluktuierender Empathie. Je nachdem, mit welchen medialen Akuterregungsbildern man gerade von den Medien aufgeladen wird, „wünscht man den Ukrainern einen Durchbruch und hofft, dass Putin endlich weggeputscht wird“. Oder man hofft „auf ein labiles Gleichgewicht, bei dem sich die Ukrainer und die Russen an der Front ungefähr die Waage halten, damit eine weitere unkontrollierte Eskalation vermieden wird“ (Damit gemeint: Einsatz von Atomwaffen, Bürgerkrieg im russischen Reich, vernichtende Niederlage der Ukraine.)
Entsprechend fluktuiert auch der Standpunkt zu den Waffenlieferungen: In manchen Interviews kippt die Haltung dazu im Viertelstundentakt zwischen „deutlich mehr und entschiedener/ Ukraine soll endlich den Durchbruch schaffen“ und „besser vorsichtig und zurückhaltend/ Putin nicht provozieren“. Dann folgen wieder Phasen des inneren Rückzugs vom Thema: Der Krieg sei grundsätzlich ein sinnloses Gemetzel, das an die Schützengräben von Verdun erinnere, ein schrecklicher Rückschritt der Geschichte um 100 Jahre.
Eine Minderheit ist kämpferisch involviert und überspielt Ängste mit Selbstsicherheit
Die Fokusgruppen, die wir zum Ukrainekrieg durchgeführt haben, haben die Haltungsunterschiede besonders greifbar gemacht. Denn in der Gruppendynamik der Diskussionsrunden bildete sich regelmäßig die Konstellation heraus, dass zwei bis drei Streithähne die Diskussion an sich gerissen haben, während die ‚leidende Mehrheit’ schwieg. Dann wurde von den Meinungsführern auf dem Schlachtfeld der Narrative mit großer Verve und Überzeugung über die bekannten Positionen gestritten, die aus den Talkshows gelernt sind: die Standpunkte der Kriegsstrategen und Bellizisten gegen die Standpunkte der Kriegsgegner und Pazifisten. Die aggressive Selbstsicherheit und Rechthaberei, die sich dabei gezeigt hat, können wir psychologisch durchaus so einordnen, dass hier der latente Angstkern des Kriegsthemas übersprungen wird und man sich die Erfahrung von Ohnmacht und Kontrollverlust mit starken Erklärungsformeln und Willensbekundungen vom Leibe hält.
Die Überforderung spitzt sich durch den Israel-Krieg zu
In unseren jüngsten Interviews, die wir nach den Terror-Kampagne der Hamas und vor der Bodenoffensive der Israelis durchgeführt haben, konnten wir eine Reihe von psychologischen Effekten identifizieren, die zeigen, wie sich das Erleben der Stapelkrise mit dem Ukraine- und Israelkrieg zu einer umfassenden Überforderung und Resignation entwickelt:
Bei der ‚leidenden Mehrheit‘ kommen wiederum – ähnlich wie zu Beginn des Ukraine-Kriegs – Momente der Schockstarre auf. Die Drohung, dass der Konflikt zu einem Flächenbrand in Nahost eskaliert, schockiert und erschüttert. Ähnlich wie die Ukraine ist Israel wiederum sehr nah. Denn Deutschland ist durch historische Schuld mit Israel verbunden. Wie es ein Interviewpartner ausgedrückt hat: „Uns Deutsche kann es nicht kalt lassen, wenn an einem Tag genauso viele Juden massakriert werden, wie im Nazi-Holocaust.“
Das Muster des Fluktuierens kehrt auch zurück: Abhängig von den medialen Erregungsbildern ist man schockiert von der grenzenlos entmenschlichten Gewalt der Massaker der Hamas an der israelischen Zivilbevölkerung. Oder man hält die Vergeltung der Israelis durch Wegbomben des Gazastreifens für eine sinnlose Rache. Man sieht sich hilflos in den Kreislauf von Gewalt und Vergeltung hineingezogen und entwickelt Ängste über die mögliche Eskalation zu einem Flächenbrand. Augen zu und durch einen Fingerspalt bruchstückhaft wahrnehmen – das wird für die ‚leidende Mehrheit’ wiederum zur Umgangsform mit dem Krieg.
Entschiedene Parteinahme kippt in Wahrnehmung eigener Widersprüche
Bei den Interviewpartnern, die im aktuellen Israel-Krieg entschieden Partei ergreifen (Solidarität mit Israel oder Verständnis für die Palästinenser), erleben wir in den Gesprächen eine besondere Dynamik: Der eigene Standpunkt wird durch den Verlauf des Geschehens und die neuen Bilder der Medienberichterstattung unausweichlich herausgefordert und in Frage gestellt. Dass die Israelis die Hamas ausschalten wollen, halten einige für gerechtfertigt. Aber rechtfertigt das die Gewalt gegen unschuldige Palästinenser im Gaza-Streifen? Andere – so die Gegenposition – haben ein gewisses Verständnis, dass die Hamas nach fortgesetzter Unterdrückung der Palästinenser losgeschlagen hat. Aber entschuldigt das die unglaublichen Gewaltexzesse und Massaker? Die Widersprüche sind nicht auflösbar und auch die Bürger mit entschiedenen Standpunkten fühlen sich in Dilemmata verstrickt.
Die Krisen und Kriege unserer heutigen Zeit scheinen sich zu einem umfassenden Krisen-Panoptikum zu verdichten, das die Bürger von allen Seiten umstellt: eine neue Weltordnung der Instabilität, der Gewalt und des Chaos verbunden mit innerer Destabilisierung und Radikalisierung in Deutschland gepaart mit sich verdüsternden Aussichten in Bezug auf wirtschaftliche Perspektiven und generellen Zweifeln an der Zukunftsfähigkeit des Landes.
Während in der Merkel-Ära der Anschein gewahrt blieb, dass einzelne Krisen in einer Sukzession nach einiger Zeit wenn nicht gelöst, so doch zumindest beruhigt und befriedet wurden, macht sich aktuell der Eindruck breit, dass sich die Krisen aufstapeln, wechselseitig verstärken und in Eskalationskaskaden miteinander vernetzen.
Sinngemäß hat das ein politisch informierter Interviewpartner so auf den Punkt gebracht: „Mit dem Israel-Krieg wendet sich die Aufmerksamkeit der Welt von der Ukraine ab, was die Chancen von Putins Russland erhöht, den Krieg für sich zu entscheiden. Das würde die Sicherheitslage für Europa auf Jahrzehnte deutlich gefährden, insbesondere wenn Trump die Präsidentschaftswahlen gewinnt. Wobei Europa sowieso noch immer mit den wirtschaftlichen Kriseneffekten der Corona-Pandemie, Energiekrise und Inflation ringt, was den populistischen Parteien zugespielt hat. Überfordert durch die Flüchtlingsströme, die durch die Krisen in Afghanistan, Syrien und Afrika angefacht werden, misslingt bei uns die Integration der Migranten. Die Araber in Neukölln demonstrieren für die Hamas. Alles gerät aus den Fugen. In Zukunft wird alles nur noch schlimmer.“
TikTok und Instagram für Dauerzerstreuung
Die Mehrheit der Bevölkerung zieht sich aktuell in die resignative Position zurück: „Es ist alles ganz schrecklich. Ich will von den ganzen Kriegen und Krisen nichts mehr hören“, ist die Haltung, die uns in den meisten Tiefeninterviews entgegenschlägt. Rückzug ins Private, der Wunsch nach Halt im Kreis von Freunden und Familie und nach Absicherung des erreichten privaten Wohlstands bestimmen das Bild.
Die nicht stoppende Negativität der Nachrichtenlage sowie die andauernde Negativaufladung durch die medialen Erregungshappen befördert die Tendenz zur Abwendung. TikTok und Instagram werden immer mehr zur Dauerzerstreuung eingesetzt, die klassischen Nachrichten sollen da besser erst gar nicht durchdringen.
Auch die Gruppe, die den Anspruch pflegt, sich mit Politik-Nachrichten und Hintergrundberichten sachlich und detailliert zu informieren, gerät in den Strudel der Überforderung. „Von Zeit zu Zeit wird mir alles zu viel und ich muss mich mal für ein paar Tage von allen Nachrichten abkappen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen“, stellt einer unserer Interviewpartner fest.
Für die meisten unserer Gesprächspartner bleibt die vage Hoffnung, dass sich die Kriege in Israel und der Ukraine nicht zu weiteren Flächenbränden auswachsen. „An baldige Lösungen oder eine wirkliche Beruhigung glaube ich nicht mehr. Aber wenn die Kriege wenigstens für eine Zeit lang einfrieren würden, dann wäre das schon etwas“, so ein Gesprächspartner. „Die Hoffnung stirbt zuletzt. Irgendwann kommen vielleicht bessere Zeiten.“
Siehe auch das Arbeitspapier der Otto Brenner Stiftung „Auf der Suche nach Halt. Die Nachwendegeneration in Krisenzeiten„.