Der 7. Oktober und die iranische Politik

Graffiti an der Wand der ehemaligen US-Botschaft in Teheran
(Foto, 2015: Pawel Ryszawa auf wikimedia commons)

Es wundert mich schon, dass der Titel der Veranstaltung „Iran frohlockt“ auf einige offenbar provozierend gewirkt hati. Provokation oder Diskriminierung lagen nicht in meiner Absicht. Es versteht sich von selbst, dass mit „Iran“ nicht die teils unzufriedene, teils entmutigte, teils offen rebellierende Bevölkerung gemeint ist, sondern das Teheraner Regime: der Revolutionsführer Khamenei und seine klerikale Kaste, die Regierung Raïsi, das Scheinparlament Madschles, die Revolutionsgarden IRGC, der Wächter- und der Expertenrat, nicht zu vergessen die Atomenergiekommission. Kann man das missverstehen? Anscheinend ja – wenn man es missverstehen will.

Das Frohlocken des Regimes über das Massaker der Hamas vom 7. Oktober ist unverhohlen, überdeutlich und folgenschwer. In seiner ersten Reaktion erklärte Khamenei, Iran habe von dem Überfall nichts gewusst, aber er küsse die Hände dieser Helden. Staatspräsident Raïsi pries das „innovative“ Vorgehen der Hamas. Ich weiß gar nicht, welche von diesen beiden Äußerungen ich schlimmer finde.

Khamenei ist ja nicht nur Revolutionsführer, er ist dies wegen seiner Eigenschaft als Religionsführer. Er hat ein Pogrom abgesegnet und für diesen Segen eine Formulierung gewählt, die eine zärtliche, emotionale Geste für sadistische Grausamkeiten ausdrückt. Was ist daran noch religiös? Als Atheist kann ich es schlecht beurteilen, aber nach meinem Religionsverständnis war das eine frivole, blasphemische Äußerung, ein Dementi der zivilisatorischen Errungenschaften der Religion. Er küsst die Hände, die tags zuvor mordeten, vergewaltigten und plünderten. Damit degradiert er den schiitischen Islam zu einem Instrument von Propaganda und Aufwiegelung. Über kurz oder lang sollte dieser Kernsatz andere schiitische Geistliche und Gelehrte auf den Plan rufen, im Irak, im Libanon, vielleicht auch im Iran. Auch das Zentrum der sunnitischen Geistlichkeit rund um die Kairoer al-Azhar Moschee müsste eigentlich Stellung beziehen: Wollen sie das so stehen lassen? Ist es das, was die islamische Weltgemeinschaft, die in diesen Tagen vom Iran so oft beschworene Ummah, uns mitteilen will? Ich hoffe nicht, aber es bleibt uns ja nichts anderes übrig als abzuwarten. 

Staatspräsident Raïsi hat hingegen mit seiner Ansage die iranische Politik erkennen lassen. Zunächst ist ihm direkt zu widersprechen: Das Vorgehen der Hamas war überhaupt nicht innovativ. Es war dann schon eher altbewährt. Was Raïsi mit innovativ meint, ist, dass er die Methoden der Hamas als Muster für künftige terroristische Aktionen ansieht: überraschender Angriff, beispiellose Grausamkeit, Geiselnahme. Im Folgenden will ich zeigen, warum sich diese Lesart aufdrängt.

„Die Entamerikanisierung hat begonnen“

Ich habe mich auf Khameneis Webseite umgesehen, von der es auch eine Fassung auf Englisch gibt. Neu ist offenbar, dass er vom Nahen und Mittleren Osten durchweg als Westasien spricht. Es klingt befremdlich, aber es gibt so viel Befremdliches in iranischen Politiker-Statements, also gilt es herauszufinden, ob eine eigentümliche Formulierung eine besondere Bedeutung hat. Westasien scheint mir ein echter Eingriff in die Geographie zu sein. So wie es, mit Verlaub, eine Wende im Erdkunde-Unterrichts ist, wenn man etwa die Ukraine als Mitte von Europa bezeichnet. Westasien bedeutet, Iran als Teil einer kontinentalen Gemeinschaft mit Russland und China zu verstehen. Das schon vorhandene Zweckbündnis wird deutlich überhöht.

Screenshot: Website Iman Khamenei

Die Webseite Khameneis hat hauptsächlich die Funktion, seine Reden wiederzugeben, die er zu feierlichen Anlässen hält. Dazwischen finden sich Erläuterungen und Exegesen, dieser Satz sei so zu verstehen, jener besonders wichtig und dann sagte der Führer auch noch etwas tief Empfundenes. Die Überschriften der Einträge lauten beispielsweise: „Der endgültige Sieg Palästinas ist nahe“, „Die Beseitigung des zionistischen Regimes durch ein Referendum, begleitet von Widerstand“, „Die Entamerikanisierung hat begonnen“, „Der Gaza Effekt“, „Warum Frauen im Westen immer noch zweitrangig sind“.

Jungen und auch älteren Leuten, die zurzeit unter der Parole Free Palestine auf die Straße gehen, wäre eine Lektüre gerade der letztgenannten Artikel zu empfehlen. Die Autor:innen versuchen den Demonstrationen in westlichen Großstädten die Sehnsucht nach „einer muslimischen Nation im Nahen Osten“ zu unterstellen (in diesem Artikel ist die Bezeichnung Westasien noch nicht angekommen). Blumige Worte werden bemüht, um eine Nähe der kapitalistischen Konsumkritik zu den angeblich wahren menschlichen Werten des islamischen Glaubens zu konstruieren. Das Leid der Palästinenser wird für einen Kult der Opferbereitschaft missbraucht, Kinder erdulden den von Hamas entfachten Krieg angeblich mit leuchtenden Augen und zitieren dabei Koranverse. Fällt den Verfassern solcher Legenden überhaupt auf, wie zynisch das ist? Schon die Wortwahl zeigt es: „Gaza Effekt“ ist Effekthascherei mit menschlichem Leiden.

Die iranische Strategie

Vielsagend sind die Ausführungen einer Frauenforscherin über eine „verschleierte Versklavung“ von Frauen in der westlichen Zivilisation. Ihr Resümee: Frauen seien im Heim und am Herd besser aufgehoben als in der Arbeitswelt, wo sie nur als Sexualobjekte wahrgenommen würden, denn in den westlichen Systemen, so heißt es mit der Sicherheit eines Gerichtsurteils, „steht die Prostitution im Mittelpunkt der Identitätsfindung von Frauen.“ Und wieder ein aufschlussreiches Wortspiel: nicht der Schleier der Schia unterdrücke Frauen, sondern die angebliche Verschleierung der Unterdrückung westlicher Frauen wäre das Problem.

Zurück zu Khamenei. In zwei Reden vom 1. November und 29. November breitet er die iranische Strategie aus, oft verbrämt mit frommen Sprüchen, aber unverblümt in der Sache. Demnach strebt der Iran einen Zermürbungskrieg seiner Stellvertreter gegen Israel an, in den er aber nicht mit eigenen Kriegshandlungen eingreifen will. Die Lösung der Palästinafrage, die von Gott gegeben und daher nahe sei, bestehe in folgenden Schritten:

  • 1. Zuerst und am allerwichtigsten sei es, dass jene arabischen Staaten, die sich an den Abraham-Abkommen beteiligten, jede Zusammenarbeit mit Israel aufkündigen. Dies war also, wie schon zu vermuten, das vordringliche politische Ziel des 7. Oktober.
  • 2. Alle muslimischen Staaten müssten Israel verurteilen und boykottieren. Die Verurteilung dürfe nicht zögerlich, unsicher oder zweideutig ausfallen, droht der Revolutionsführer.
  • 3. Der „Al-Aqsa Sturm“ii müsse weitergehen. Mit anderen Worten: Die internationalen Widerstandskerne, so die Bezeichnung für die proiranischen Milizen, müssten ihre Aktionen gegen Israel energisch fortsetzen. Zu beachten ist hierbei das Wort „international“. Khamenei hätte ja auch – konkreter – von den Milizen im Libanon, Gazastreifen, Irak, Syrien und Jemen sprechen können oder vom schiitischen Halbmond. Doch diese Formulierung wünscht er nicht mehr, an die Stelle der Konfrontation von Arabern und Nicht-Arabern, von Sunniten und Schiiten trete der Gegensatz von Widerstand und Unterwerfung.
  • 4. Es solle eine einzige Regierung für die Palästinenser im Westjordanland und im Gazastreifen gebildet werden.
  • 5. Diese Regierung werde zu einem „Referendum zur Lösung der Palästinafrage“ unter allen Palästinensern auf der Welt aufrufen. Die Bürger Israels werden selbstverständlich nicht gefragt.
  • 6. Angesichts von unaufhörlichem Terror des Al-Aqsa Sturms und unter dem Eindruck der Referendums-Inszenierung werde sich Israel dem Willen der palästinensischen Nation beugen.

Dies sei eine „demokratische Lösung“ und kein Massaker an der Bevölkerung Israels. Wenn es aber doch dazu kommt? Dann wird der Gott der Barmherzigkeit und des Erbarmens, den Khamenei beständig anruft, vermutlich gnädig darüber hinwegsehen und seine Prediger werden die Hände der Täter küssen. In Khameneis Worten: „Einige sagen, dass das zionistische Regime dieser Idee nicht zustimmen wird. Diese Zustimmung muss ihm jedoch aufgezwungen werden“ und „Wir betrachten die Zerstörung des israelischen Regimes als Lösung für die palästinensische Frage.“

Ein weiterer Aspekt, auf den Khamenei großen Wert legt, ist die Beschwörung einer Entamerikanisierung, eines Zurückweichens der USA aus der Region. Alle Pläne der USA für den Nahen Osten, pardon: Westasien, seien gescheitert, und nun befänden sie sich bereits auf dem Rückzug. Diese Dimensionierung dient wohl vor allem dem Werben um chinesische und russische Unterstützung seiner Pläne.

„Widerstandskerne“ werden finanziert und dirigiert

So sieht die Strategie Irans also aus, und es ist klar, dass die von ihm finanzierten und gesteuerten Milizen darin die Hauptrolle spielen, weil der Iran vorerst nicht direkt in die Konflikte eingreifen will. Aber was heißt „kein direktes Eingreifen“ konkret? Iranische Repräsentanten betonen bei jeder Äußerung gegenüber einer größeren Öffentlichkeit, sie seien von Hamas nicht über den 7. Oktober informiert worden. Sie leugnen die vielfältige iranische Unterstützung für Hamas und den Islamischen Dschihad nicht, aber die sogenannte operative Führung liege nicht bei ihnen, sondern bei den Organisationen im Gazastreifen.

Interessant ist, dass solche Dementis auf der Webseite Khameneis so gut wie gar nicht auftaucheniii. Sie würden nämlich in einem deutlichen Widerspruch zu den umfänglichen Darstellungen stehen, die Hassan Nasrallah, Chef der Hisbollah, und Qasem Soleimani, früherer Chef der Quds-Brigadeiv, vor vier Jahren an gleicher Stelle gegeben haben. Diese Autoritäten iranischer und proiranischer Milizen haben in stundenlangen Interviews unter anderem ihr Verhältnis zum iranischen Führungszirkel erläutert. Sie berichteten freimütig, dass selbst militärische Details des 33-Tage-Krieges der Hisbollah gegen Israel (2006) im Iran besprochen wurden und rühmten die Weitsicht Khameneis, der an solchen Meetings persönlich teilgenommen habe. Soleimani stellte vor allem den berüchtigten Terroristen Imad Mughniyeh heraus, ehemals Militärkommandeur der Hisbollah, der wie kein anderer dem Revolutionsführer ergeben gewesen sei, er gehorchte ihm aufs Wort. 

Demnach hält der Iran seine sogenannten Widerstandskerne in „Westasien“ an einer außerordentlich kurzen Leine. Sie werden von ihm nicht nur finanziert, sondern auch dirigiert. Das hat inzwischen sogar Ex-Außenminister Joschka Fischer erkannt, der über gute Beziehungen in den Iran verfügt. Er sprach in einem Interview mit dem Corriere della Sera (3.11.2023) ausdrücklich von „regia e supporto“ im Verhältnis des Irans zu den mit ihm verbündeten Milizen: Regie und Unterstützung. Dieses Interview ist deshalb interessant, weil Fischer selten ein böses Wort über den Iran verliert. 

Jetzt erfahren wir, der Mossad habe schon vor einem Jahr Pläne der Hamas zu einem Überfall erhalten, deren Übereinstimmung mit dem Vorgehen der Terroristen am 7. Oktober erstaunlich sei. Das israelische Kabinett dementierte die Meldung nicht; Netanyahu will sich zu gegebener Zeit dazu äußern. Zu bedenken ist, dass solche Informationen nach vielen großen Attentaten aufgetaucht sind. Die Bush-Administration soll vor 9/11 von saudischen Diplomaten gewarnt worden sein, der marokkanische Geheimdienst soll kurz vor dem Attentat auf dem Breitscheidplatz vor Anis Amri gewarnt haben. Es leuchtet ein, dass es nicht immer einfach ist, den Realitätsgehalt derartiger Erkenntnisse einzuschätzen, zumal es ja auch in den Sicherheitsorganen an Fachkräften mangelt. 

Eine Schutzbehauptung

Das ist an diesem Punkt auch nicht das Wesentliche. Entscheidend ist vielmehr die Schlussfolgerung: Wenn dem Mossad solche Pläne der Hamas vorlagen, dann erst recht den entsprechenden Stellen im Iran. Andernfalls würden die Revolutionsgarden jetzt eine Reihe von Kommandeuren feuern. Man kann nicht einerseits erschrocken registrieren, dass iranische Ausbilder die bewaffneten Truppen im Gazastreifen zu effizienten und disziplinierten Militäreinheiten trainiert haben, und andererseits glauben, diese würden wie umherschweifende Rebellen agieren. 

Wenn iranische Offizielle versichern, vom 7. Oktober nichts gewusst zu haben, dann ist das eine klare Schutzbehauptung. Mehr noch: Die Unterlagen der Hamas, die der Mossad angeblich für Planspiele hielt, sind im Iran ganz anders gelesen worden, nämlich als Umsetzung der Strategie, die von Nasrallah und Soleimani bereits 2019 angekündigt wurde und die aktuell von Khamenei wieder ausgebreitet wird. 

Der Iran stellt Israel und seine westlichen Verbündeten vor die Wahl, entweder seine Bedingungen hinzunehmen oder mit einer umfassenden Terrorstrategie konfrontiert zu werden. Nicht nur Israel steht im Visier dieser Terrorstrategie. Khamenei erklärte in einer Rede vor Studenten: „Die muslimische Welt darf nicht vergessen, dass in dieser wichtigen, entscheidenden Angelegenheit die USA, Frankreich und Großbritannien diejenigen waren, die sich gegen den Islam, eine muslimische Nation und die unterdrückten Palästinenser stellten. Die muslimische Welt darf dies nicht vergessen. Es geht nicht nur um das zionistische Regime.“ Das ist der Grund, weshalb man aufpassen muss, wenn der Revolutionsführer von internationalen Widerstandskernen spricht.

Hinter den Kulissen begleitet die Erpressung mit Terrorakten schlussendlich auch die Auseinandersetzungen um das iranische Atomprogramm. Wiederholt haben iranische Offizielle mit schweren Konsequenzen gedroht, wenn sie sich in den Verhandlungen um das faktisch nicht mehr existierende Atomabkommen von 2015 (JCPOA) nicht durchsetzen konnten – zuletzt als Großbritannien, Frankreich und Deutschland Mitte September 2023 ankündigten, diejenigen Sanktionen zu verlängern, die nach einer Regelung des JCPOA Mitte Oktober hätten auslaufen sollen. Offenbar muss man solche Drohungen sehr ernst nehmen. Vergessen wir auch nicht, dass sich die Zentrifugen in Natanz und Fordo unaufhörlich drehen und die inzwischen 15-fache Überschreitung der vom JCPOA genehmigten Menge an angereichertem Uran weiter erhöhen.

Außerdem hat der Iran im Oktober einigen Inspektoren der Internationalen Atomenergie Agentur die Einreise verweigert. Angesichts der gefährlichen Entwicklung sprach IAEA-Chef Grossi erstmals davon, der Iran könne ein zweites Nordkorea werden. Dort habe man erst die Inspektoren ausgewiesen und dann mit der Entwicklung der Atombombe begonnen.


i   Der bruchstuecke-Beitrag ist die verschriftlichte Fassung eines Vortrags, den Detlef zum Winkel am 4. Dezember 2023 auf einer Veranstaltung der Deutsch-Israelischen Gesellschaft in Frankfurt/M. gehalten hat. Die Veranstaltung sollte ursprünglich in einem Café der Frankfurt University of Applied Sciences stattfinden. Der Präsident der Hochschule untersagte dies, weil sich Hochschulangehörige diskriminiert fühlen könnten.
ii  Der 7. Oktober in der Diktion der Täter.
iii  Lediglich ein Download trägt die Beschriftung, dass die Behauptung, „nicht-palästinensische“ Kräfte hätten am 7. Oktober teilgenommen, falsch sei.
iv  Auslandsabteilung der iranischen Revolutionsgarden

Detlef zum Winkel
Detlef zum Winkel, ursprünglich Physiker. Lebt in Frankfurt am Main und schreibt vornehmlich für die Berliner Wochenzeitung Jungle World. Betreut dort u.a. die Themen Atomenergie und Proliferation, aber leider auch Faschismus, weil es immer noch ein Thema ist.

Hinterlasse einen Kommentar.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

bruchstücke