Putins Russland setze vor allem in Deutschland darauf, die in besonderem Ausmaß vorhandenen Ängste wegen unserer Hilfe für die Ukraine zu eskalieren. Die Befürchtung, in den Krieg hineingezogen zu werden, weil wir den Ukrainern helfen, sei weit verbreitet. „Diese Ängste sollen mobilisiert werden“, sagt Osteuropa-Experte Andreas Wittkowsky. „Dazu gehören auch die regelmäßigen Drohungen, Atomwaffen einzusetzen. Moskau weiß, dass sie bei den Deutschen besonders gut verfangen. Und es gibt eine erhebliche Zahl von Einflussagenten, die im Sinne von Putin-Russland diese Botschaften und Ängste hier regelmäßig verstärken — sei es aus Überzeugung, Opportunismus, Käuflichkeit oder Druck. Diese Einflussagenten sind bei der AfD und beim BSW besonders prominent vertreten“, erläutert Wittkowsky im Interview mit Wolfgang Storz.
Wolfgang Storz: Herr Wittkowsky, Sie sind gerade aus der Ukraine zurückgekehrt. In westlichen Medien mehren sich Berichte über kriegsmüde und auch fahnenflüchtige ukrainische Soldaten. Wie stark ist denn heute, nach mehr als zwei Jahren eines erschütternden und zermürbenden Krieges, noch der Widerstandswille des ukrainischen Volkes?
Wittkowsky: Ich habe niemanden getroffen, der den von Putin aufgezwungenen Krieg nicht lieber heute als morgen beenden würde. Aber auch niemanden, der Russlands Forderungen — die nach wie vor einer Unterwerfung der Ukraine gleichkommen — für eine akzeptable Verhandlungsgrundlage hält.
Gibt es zu diesem Thema Meinungsumfragen?
Wittkowsky: Nach den Meinungsumfragen der letzten Monate rechnet nur ein Viertel der Bevölkerung mit einem schnellen Kriegsende, ein Drittel erwartet eine Dauer von bis zu weiteren zwei Jahren, ein Drittel sogar deutlich länger. Die Hälfte der Befragten sprach sich für die vollständige Befreiung der besetzten Territorien aus. Nur ein Viertel befürwortet territoriale Kompromisse. Immerhin 44 Prozent der Befragten sind dafür, Verhandlungen einzuleiten. Gleichzeitig lehnt es eine überraschend hohe, ja überwältigende Mehrheit von über 80 Prozent ab, die von Putin besetzten Gebiete in der Ostukraine zur Disposition zu stellen. Bei dieser Frage spielen die Gräueltaten und der Terror der russischen Besatzungstruppen gegen die einheimische Bevölkerung eine bedeutende Rolle.
Dr. Andreas Wittkowsky ist Wirtschaftswissenschaftler, arbeitet seit Anfang der 1990er Jahre als Osteuropaexperte, unter anderem mit mehrjährigen Aufenthalten im Kosovo und in der Ukraine. Seit 2011 ist er am Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF) tätig. X-Twitter @Twittkowskyi
Wie in einem Agentenfilm
Aber ein solch anhaltender Terrorkrieg muss doch gravierende Folgen für die Menschen haben.
Wittkowsky: Die Erschöpfung hat nach zweieinhalb Kriegsjahren spürbar zugenommen. Wie anders soll das auch sein: Es gibt zahllose Opfer, Verwundete und Tote, unter den Soldaten und der Zivilbevölkerung. Die Energieversorgung ist inzwischen großräumig zerstört. Es gibt anhaltend Berichte, wie ukrainische Kulturschaffende in den russisch besetzten Gebieten verfolgt und wie die dortigen Kultureinrichtungen zerstört werden. Und die militärische Lage ist durchwachsen.
Wie wirkt denn die Offensive der ukrainischen Armee in dem russischen Gebiet Kursk — über das militärisch-strategische Momentum hinaus?
Wittkowsky: Die Offensive hat der allgemeinen Moral in Streitkräften und Bevölkerung unzweifelhaft einen beträchtlichen Schub verliehen. Hat doch die Ukraine nach der monatelangen verlustreichen Defensive im Osten hier das Heft des Handelns in die Hand genommen.
Wie beurteilen Sie in einem Blick über den gesamten Frontverlauf den momentanen Stand der Kämpfe: ein Patt? Oder hat — trotz aller Verluste für Putins Invasionsarmee — nun die Phase begonnen, in der die letztlich weit überlegenen russischen die ukrainischen Streitkräfte nach und nach niederringen?
Wittkowsky: Es gab schon vorher kein Patt. In den letzten Monaten sind die russischen Angreifer im Osten des Landes zwar langsam, aber unaufhaltsam vorgedrungen. Ein wesentlicher Grund lag darin, dass die ukrainischen Verteidiger viel zu wenig Munition hatten. Und die russische Führung war bereit, für diese Geländegewinne extrem hohe Verluste an Material und tausende tote Soldaten hinzunehmen. Aber auch die Ukraine verlor bei dieser Verteidigung sehr viele Soldaten und militärische Ressourcen, vor allem da Russland auch schwere Gleitbomben gegen die ukrainischen Stellungen einsetzte. Andererseits gelangen der Ukraine zahlreiche Drohnenangriffe auf russische Nachschubbasen, vor allem Raffinerien, Treibstoff- und Munitionslager bis weit ins russische Hinterland. So sieht die Wirklichkeit aus, die Militärexperten Abnutzungskrieg nennen.
Mitunter hat man den Eindruck, wir leben in einem schlechten Agentenfilm aus Zeiten des Kalten Krieges. Russland plante, so weltweit veröffentlichte Geheimdienst-Erkenntnisse, den Vorstandsvorsitzenden von RheinMetall, Armin Pappberger, liquidieren zu lassen; dessen Unternehmen produziert vor allem Panzer und Munition für die Ukraine. Welche Art von Auseinandersetzung führt Putin-Russland gegen Deutschland und mit welchem Ziel?
Wittkowsky: Gute Agentenfilme sind immer realitätsnah. Was wir heute erleben, begann allerdings schon viel früher. Beispielsweise mit den Morden von russischen Geheimdienstkommandos an sogenannten „Verrätern“. Ich erinnere nur an einige Fälle: Im November 2006 fiel der ehemalige KGB-Agent Alexander Litvinenko in England einer Vergiftung mit Polonium zum Opfer, im März 2018 überlebte der ehemalige Doppelagent Sergej Skripal nur knapp einen Anschlag mit dem Nervengift Nowitschok. Am 23. August 2019 erschoss der FSB-Agent Wadim Krassikow — er wurde gerade gegen in Russland inhaftierte Ausländer ausgetauscht — vor unseren Augen im Berliner Kleinen Tiergarten Selimchan Changoschwili; der hatte von 1999 bis 2009 in tschetschenischen Milizen gegen die russischen Sicherheitskräfte gekämpft.
Gleichzeitig geriet Deutschland ins Visier hybrider Angriffe. 2015 gab es einen großen Hacker-Angriff auf den Deutschen Bundestag, die Bundesregierung ordnet ihn einer Gruppe des russischen Militärgeheimdienstes GRU zu. 2016 feuerten russische Staatsmedien und Außenminister Sergej Lawrow öffentlich und offiziell die erhitzte Stimmung unter Russlanddeutschen an, nachdem das Mädchen Lisa angeblich von arabischen Flüchtlingen verschleppt und vergewaltigt worden war — dies stellte sich dann als Falschmeldung heraus.
Aber das, was Sie hier aufzählen, sind einzelne Fälle, auch noch über viele Jahre verteilt. Aus Agentenfilmen wissen wir auch: Geheimdienste bringen immer ihre Gegner um, das wird die CIA wohl nicht anders als der FSB machen. Was wollen Sie damit sagen?
Wittkowsky: Ich will Ihnen sagen, dass bei uns zu viele Menschen zu schnell vergessen und deshalb die Zusammenhänge nicht erkennen oder nicht erkennen wollen. Denn meine Aufzählung zeigt, das sind eben keine Einzelfälle. Wer dies immer noch so sieht, der verfällt einem verhängnisvollen Irrtum. Zumal die Aufzählung noch lange nicht endet. Denken Sie nur an die milliardenschwere Wirecard-Insolvenz, die 2020 zu einem der größten Skandale im deutschen Finanzsystem führte. Und was wurde in der Folge der Aufklärung bekannt? Der verantwortliche Vorstand Jan Marsalek war mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit für russische Geheimdienste tätig und tauchte unter anderem in Belarus und Russland auch unter. Und was stellte sich heraus, als Russland im Februar 2022 seinen Großangriff auf die Ukraine begann? Der Großspeicher im rheinischen Rehden, der damals noch dem russischen Staatskonzern Gazprom gehörte, war praktisch leer, entgegen allen Verabredungen. Deutschland drohte vor allem deshalb eine veritable Energiekrise.
Nur die Grünen stehen geschlossen zur Ukraine
Was ist Ihr Schluss aus diesen zumindest verdächtig vielen Einzelfällen?
Wittkowsky: Meines Erachtens haben diese Aktionen vor allem zwei Ziele. Sie sollen die deutsche Gesellschaft einschüchtern, polarisieren und spalten — und sie sollen die deutsche Politik handlungsunfähig machen. Das ist eine Strategie, groß angelegt und von hoher Systematik. Das von Ihnen angesprochene Mordkomplott gegen Rheinmetall-Chef Pappenberger ist deshalb nur ein frappantes Beispiel von vielen. Erinnern Sie sich bitte: In den letzten Wochen wurden vermehrt Drohnenflüge über kritische deutsche Industrieanlagen verzeichnet; an den Ausbildungsorten der Bundeswehr für ukrainische Soldaten gehören sie übrigens zum Alltag. Und kürzlich rief die NATO auf ihrem Luftwaffenstützpunkt Geilenkirchen, auf dem AWACS-Aufklärungsflugzeuge stationiert sind, die zweithöchste Warnstufe wegen einer Anschlagsgefahr aus.
Das alles belegt: Russland setzt vor allem in Deutschland darauf, die in besonderem Ausmaß vorhandenen Ängste wegen unserer Hilfe für die Ukraine zu eskalieren. Viele Menschen bei uns denken ja, weil wir den Ukrainern helfen, werden wir in den Krieg hineingezogen, bringen wir den Krieg praktisch zu uns. Diese Ängste sollen mobilisiert werden. Dazu gehören auch die regelmäßigen Drohungen, Atomwaffen einzusetzen. Moskau weiß, dass sie bei den Deutschen besonders gut verfangen. Und es gibt eine erhebliche Zahl von Einflussagenten, die im Sinne von Putin-Russland diese Botschaften und Ängste hier regelmäßig verstärken — sei es aus Überzeugung, Opportunismus, Käuflichkeit oder Druck. Diese Einflussagenten sind bei der AfD und beim BSW besonders prominent vertreten …
Die beiden Putin-freundlichen Parteien AfD und Bündnis Sahra Wagenknecht, BSW, werden immer stärker, haben zuletzt bei Landtagswahlen in Ostdeutschland deutliche Wahlerfolge eingefahren. Wie kann sich das auf die operative Außen- und Ukrainepolitik von Deutschland auswirken?
Wittkowsky: Insbesondere das BSW fordert die Einstellung der Ukraine-Hilfe, die AfD tritt für die Beendigung der Sanktionen gegen Russland ein. Doch auch die politische Mitte wankt: Michael Kretschmer, alter wie vermutlich neuer CDU-Ministerpräsident in Sachsen, fordert ebenfalls die Einstellung der Militärhilfen an die Ukraine. Die einzige Partei, die sich öffentlich geschlossen und entschieden zur Ukraine bekennt, sind die Grünen. Sahra Wagenknecht hat nun angekündigt, sie werde die Beendigung der Ukraine-Hilfen zu einer zentralen Forderung bei möglichen Koalitionsverhandlungen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg machen. Ob sich bürgerliche Parteien darauf einlassen, darauf darf man gespannt sein.
Hat das schon Wirkung auf die reale Außenpolitik?
Wittkowsky: Bisher wirken sich diese öffentlichen Forderungen und Debatten auf die operative Außen- und Ukrainepolitik Deutschlands noch nicht aus. Aber sie verändern bereits die Gewichtung im öffentlichen Diskurs. Dies mag zum Beschluss der Bundesregierung beigetragen haben, im aktuellen Haushaltsentwurf die Ukraine-Hilfen zurückzufahren. Das hat selbst in den Regierungsfraktionen Irritationen ausgelöst. Vor allem aber wurde das Vorhaben von unseren internationalen Partnern als sehr verstörendes politisches Signal aufgenommen. Deutschland hat in den vergangenen Jahren mühsam Vertrauen in seine sicherheitspolitische Zuverlässigkeit wieder aufgebaut. Das steht erneut auf dem Spiel.
Putin setzt auf einen militärischen Sieg
Nach den diplomatischen Abenteuer-Reisen von Victor Orban zu Wladimir Putin und Xi Jinping halten ihm viele Menschen zugute: Der hat es wenigstens mal mit einer Friedensmission versucht. Wäre es nicht bald sinnvoll, dass bedeutende westliche Regierungen zusammen mit der Ukraine eine auf Erfolg ausgerichtete Initiative für Waffenstillstand und Friedensverhandlungen ergreifen, um Putin so vor den Augen der Weltöffentlichkeit ernsthaft unter Zugzwang zu versetzen?
Wittkowsky: Mit seiner unabgestimmten Initiative ist Orban gleich zu Beginn der ungarischen Ratspräsidentschaft aus der europäischen Solidarität ausgebrochen — und das nicht zum ersten Mal. Mehrfach hat er die Ukraine-Hilfen der EU blockiert — ebenso den Beitrittskandidatenstatus der Ukraine. Gegenwärtig schlägt Ungarns Entscheidung, russischen und belarussischen Fachleute der Atomindustrie großzügig Arbeitsgenehmigungen zu gewähren, hohe Wellen in der EU. Sie nährt die Befürchtung, dass hiermit auch „Fachleuten“ der Sabotage und Spionage die unkontrollierte Einreise in den Schengen-Raum gewährt wird. Immer wieder unterminiert Orban mit seinen Aktionen systematisch die Geschlossenheit der EU.
Jenseits der Aktivitäten dieses sicherlich dubiosen „Staatsmannes“ — es müsste doch mehr getan werden, um Verhandlungen in Gang zu setzen.
Wittkowsky: Die EU und ihre Mitgliedsländer — im Übrigen einschließlich Ungarn — haben doch vor nicht allzu langer Zeit, Mitte Juni diesen Jahres, an der Friedenkonferenz auf dem Schweizer Bürgenstock teilgenommen, die versucht hat, eine breite internationale Koalition für einen Friedensschluss zu schmieden. Womöglich noch in diesem Jahr soll es eine Folgekonferenz geben. Es gibt auch vermehrte Signale des ukrainischen Präsidenten Selenskyj, verhandlungsbereit zu sein — allerdings nicht um jeden Preis. Der ukrainische Überraschungsangriff auf das russische Gebiet Kursk, der völkerrechtlich völlig legitim ist, hat wahrscheinlich auch zum Ziel, die Position der Ukraine bei solchen Verhandlungen zu verbessern.
Hat Putin inzwischen einen Grund, um zu verhandeln?
Wittkowsky: Wenn man seinen Aussagen und denen seines Umfelds Glauben schenkt: Nein. Putin hat vor einigen Wochen erklärt, warum solle er verhandeln, wenn der Ukraine die Munition ausgeht. Sein Außenminister Lawrow erklärte, während möglicher Verhandlungen käme es keinesfalls zu einem Waffenstillstand. Nach der Kursk-Invasion beschied Kreml-Pressesprecher Peskow, nun sei die Basis für Verhandlungen vollständig entfallen. Von Zeit zu Zeit gibt es dann gegenläufige Verlautbarungen, aber diese dienen eher der Spaltung des Westens.
Nach meiner Einschätzung setzt Putin weiterhin auf einen militärischen Sieg und hält an Maximalpositionen fest: Nicht nur die Annexion ukrainischen Territoriums, sondern auch Entwaffnung und De-Nazifizierung der Ukraine — eine sogenannte De-Nazifizierung, die sich übrigens in den besetzten Gebieten als gewaltsame Ent-Ukrainisierung manifestiert. Ich bleibe auch bei der Einschätzung, dass sich vor den US-Präsidentschaftswahlen, in denen Putin auf Trump setzt, an der sogenannten Verhandlungsfront grundsätzlich nichts bewegen wird.
Russland erledigt für China geopolitische ‚Drecksarbeit‘
Sie sagten in einem unserer früheren Interviews, als beide Seiten kurz nach dem Überfall im März 2022 verhandelten, habe Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj die Neutralität als Kompromiss angeboten und den Vorschlag gemacht, die Frage der Krim und der besetzten Gebiete des Donbass auf 15 Jahre einzufrieren, um in dieser Zeit eine diplomatische Lösung zu finden. Warum wiederholt die Ukraine dieses Angebot nicht?
Wittkowsky: Das ist ausgeschlossen. Denn es ignoriert, dass sich die Ausgangsbedingungen für Verhandlungen in den letzten zweieinhalb Jahren völlig geändert haben. Die russische Kriegsführung mit Terrorangriffen auf die Zivilbevölkerung, die innerrussische Propaganda, die auf die Vernichtung der Ukraine zielt, die Tötungen und Verschleppungen in den besetzten Gebieten, die dortige Zwangsrussifizierung und Militarisierung der Jugend — all dies macht aus dem damaligen Angebot einer neutralen Ukraine ihre faktische Bereitschaft zum Selbstmord.
Denn in einer Position ist Putin unerschütterlich stabil: er spricht der Ukraine ihre Existenzberechtigung ab. Daraus muss der Schluss gezogen werden: Mögliche Kompromisse können erst ventiliert werden, wenn es eine realistische Aussicht auf Verhandlungen gibt, die nicht mit der Unterwerfung der Ukraine enden. Und diese gibt es erst, wenn die Ukraine militärisch so stark ist, dass Putin erkennt, er kann die Ukraine nicht besiegen und erobern.
Haben China und Indien, vermutlich die zwei entscheidenden Bündnispartner Russlands, inzwischen irgendein Interesse, Putin an den Verhandlungstisch zu zwingen?
Wittkowsky: Tatsächlich unterstützen beide Länder Putin — wenn auch auf unterschiedliche Weise. China ist inzwischen zum wichtigsten Handelspartner Russlands geworden, vor allem aufgrund des Exports von sogenannten Dual-Use-Produkten, also Gütern, die sowohl zivil als auch militärisch zu nutzen sind. Diese finden sich vor allem im Maschinenbau, in der Optik und der Elektronikindustrie. China intensiviert auch die Zusammenarbeit in vielen anderen Sektoren. Das hat zwei wesentliche Folgen: Russland wird zunehmend abhängig von China. Zugleich erledigt Russland für China die geopolitische „Drecksarbeit“.
Was meinen Sie damit konkret?
Wittkowsky: Putins Krieg gegen die Ukraine bindet Ressourcen der EU, insbesondere der USA. Das ist in Chinas Sinne. Zudem kann es beobachten, quasi im aktuellen Verlauf studieren, wie der Westen auf einen solchen imperialistischen Angriffskrieg reagiert — daraus kann China Schlüsse ziehen, für seinen eigenen Umgang mit Taiwan und seinen Aktivitäten im südchinesischen Meer. Bei allem folgt China jedoch der Linie: Der Einsatz von Nuklearwaffen ist ausgeschlossen.
Und wie verhält sich Indien zu Russland?
Wittkowsky: Indien hat traditionell eine vor allem enge sicherheitspolitische Partnerschaft mit Russland; zuvor schon mit der Sowjetunion. Allerdings versucht Indien, seine starke Abhängigkeit von russischen Rüstungsimporten zu mindern. Gleichzeitig profitiert das Land von den Sonderkonditionen bei Erdölimporten, die Russland seit dem Wegfall des europäischen Markts gewährt, ja, gewähren muss. Gerade ist auch bekannt geworden, dass Indien in größerem Umfang als bisher angenommen Dual-Use-Produkte nach Russland exportiert.
China und Indien bieten sich als Vermittler an
Was ist Ihr Schluss? Die beiden Länder machen also keinen Finger krumm, um Russland zum Verhandeln zu bewegen. Richtig?
Wittkowsky: Hinweise gibt das Verhalten bezüglich der Bürgenstock-Friedenskonferenz im Juni. China blieb der Konferenz fern mit dem Hinweis, Russland sei ja nicht dabei. Zudem versuchte China, hinter den Kulissen andere Länder von der Teilnahme abzubringen. Indien schickte wenigstens einen Staatssekretär des Außenministeriums. Mein Schluss: Beide Länder bieten sich auch aufgrund ihrer guten Kontakte zu Moskau als Vermittler an. Sie zeigen beide aber keine Bereitschaft, Russland gegenüber Druck auszuüben. Gerade China hat offenbar wenig Interesse, den Krieg unter Wahrung des Völkerrechts zu einem schnellen Ende zu bringen.
Jenseits aller Debatten über zu viel Waffen an die Ukraine und zu wenig Diplomatie: Wie erklären Sie sich, dass die Nato-Staaten etwa 30 Monate nach dem Überfall noch nicht einmal die ausreichende Zahl an Raketenabwehrsystemen geliefert haben, damit die Ukraine wenigstens in ihren großen Städten die Bevölkerung vor den russischen Luftangriffen schützen kann?
Wittkowsky: Das ist natürlich bitter. Denn diese Systeme können die Zivilbevölkerung tatsächlich wirksam vor Terrorbombardements schützen. Aber unverändert gilt: Insbesondere sind die US-amerikanischen Patriot-Batterien und die deutsche IRIS-T für die Ukraine ein knappes Gut. Immerhin: Deutschland und Frankreich koordinieren seit Dezember 2023 eine Koalition zur Stärkung der ukrainischen Luftabwehr. Im Frühjahr 2024 hat Deutschland zudem eine Initiative gestartet, die weltweit nach verfügbaren Systemen sucht — und ist mit weiteren Lieferungen aus Bundeswehrbeständen vorangegangen. Nicht jedes Land ist so weitsichtig wie Dänemark, das der Ukraine seine gesamte Artillerie zur Verfügung gestellt hat — mit dem Argument, dort leisteten diese Waffensysteme auch den wirksamsten Beitrag zur dänischen Sicherheit.
1 Kommentar