Vorschlag für die SPD: Mehr Realität statt mehr Vision

Tim Klüssendorf
(Foto: Antonwww23 auf wikimedia commons)

Das lateinische Tätigkeitswort videre hat unterschiedliche Bedeutungen. Im Navigium-Wörterbuch ist zu lesen: Sehen, anschauen, zuschauen, erblicken, besuchen, aufsuchen, merken, begreifen, wahrnehmen, erblicken, erkennen, überlegen, erwägen, sich kümmern um, darauf achten,   besorgen, zusehen, wiedersehen, beabsichtigen und last but not least: nach etwas streben. Unser Begriff Vision geht auf dieses videre zurück. Von der Vision war zuletzt wieder öfter zu lesen, weil der neue Generalsekretär der SPD, der Bundestagsabgeordnete Tim Klüssendorf, immer wieder erzählte, die SPD strebe eine Vision an. Er versicherte am 2. Juni in Berlin, die SPD stehe vor einem grundlegenden Erneuerungsprozess, in welchem eine Vision wohl eine nicht zu unterschätzende Bedeutung haben soll. Im Rahmen dieses Prozesses, so Klüssendorf, solle kein Stein auf dem anderen bleiben. Das berichten jedenfalls die FAZ („SPD will sich erneuern“, in der FAZ am 3. Juni, Seite 4) und der Vorwärts gleichermaßen.

Einmal davon abgesehen, dass einer Vision ein Visionär oder Visionäre (beiderlei Geschlechts) vorausgehen, frage ich mich, wie man in einer so weit auseinander liegenden Bevölkerung, in welcher Vielfalt eine so große Rolle spielt, eine Vision etabliert. Wie macht man das? Wunschvorstellungen kann ich mir ausmalen: Da gibt es die Beschäftigten, oft zugewanderte Menschen, die tagtäglich im Verkehrsstress Warensendungen von früh bis spät ausfahren; Beschäftigte, die sich wünschen aus der Anstellung bei einem Subunternehmer in einen Arbeitsvertrag mit einem Generalunternehmen zu gelangen; oder Jüngere, die eine Work Life-Balance anstreben, die eben nur so viel arbeiten wollen, dass sie Zeit haben, ihre Persönlichkeit in all ihren Facetten zu entfallen, was preiswerte Flugreisen in ferne Länder einschließt. Und so weiter und so weiter.

Wäre es da nicht erfolgversprechender, sich als führender Sozialdemokrat von der Vision zu trennen (von der ein SPD-Kanzler sowieso absolut nichts hielt), um sich auf das zu konzentrieren, was alle einschließt? Mehr Sicherheit.

Leben in Unsicherheit

Das noch gültige SPD- Grundsatzprogramm von 2007, das Hamburger Programm, liefert einen Hinweis. Darin heißt es: „Nur wer verlässliche Perspektiven in seinem Leben hat, kann seine Talente und seine Leistungsfähigkeit voll entfalten. Gute Arbeit verbindet Flexibilität und Sicherheit.“

Der Satz müsste im neuen Programm nicht so vollmundig ausfallen nach all den Entwertungserfahrungen der Vergangenheit. Aber die Richtung stimmt. Gewiss wird nicht alles aus dem „Hamburger“ übernommen werden – zum Beispiel der Satz: „Unser Leitbild ist die Familie, in der Mutter und Vater gleichermaßen für Unterhalt und Fürsorge verantwortlich sind. Dies will die große Mehrheit der jungen Menschen. Es entspricht dem Bedürfnis der Kinder nach Mutter und Vater.“

Auch der folgende Satz würde so nicht übernommen werden: „Ein Einsatz der Bundeswehr muss stets in ein Konzept von politischen, diplomatischen, wirtschaftlichen, entwicklungspolitischen und kulturellen Maßnahmen eingebettet sein.“

Was also könnte an der Stelle einer sogenannten Vision stehen? Ich schätze, dass die Erzählung der Realität Erfolg verspricht – zwei Beispiele habe ich eingangs erwähnt. Hinzukommen könnten Lebensberichte der Frauen kommen, die in den Wirtschaftsbereichen der Krankenhäuser und Pflegeheimen tagtäglich ihren Job tun; oberhalb des Mindestlohns, aber eben auch weit weg vom Facharbeiter im Maschinenbau. Die der Lehrkraft, die ihren Lohn hart in den Kursen verdient, in welchen Flüchtlinge und Einwandernde Deutsch lernen. Beschäftigte in Warenhäusern und Supermärkten könnten erzählen, was es für Leben und Gesundheit bedeutet, jahrelang in Unsicherheit leben zu müssen. Sie allen wollen wenigstens einen Fetzen Sicherheit im Leben. Der muss freilich gut und mit viel innerer Redlichkeit erzählt werden.

Im erwähnten FAZ-Bericht hieß es gegen dessen Ende: Offenbar gebe es noch Unklarheit darüber, welche Gruppen künftig angesprochen werden sollten. Klüssendorf wollte keine Gruppe „herausheben, um keine zu vernachlässigen“. So räumt man keine Steine weg. So kommen neue hinzu.

Klaus Vater
Klaus Vater arbeitet als Kommunikationsberater und Autor. Er war stellvertretender Sprecher der Bundesregierung, zuvor Pressesprecher des Gesundheitsministeriums sowie des Arbeitsministeriums. Seinen Jugend-Kriminalroman "Sohn eines Dealers" wählte die Kinderjury des Literaturpreises "Emil" 2002 zum Kinderkrimi des Jahres.

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