Was ist ein „gerechter Krieg“ (I): Über humanitäre Normen und inhumane Realitäten

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, die us-amerikanische Aggression gegen Demokratie und Rechtsstaat, die Eskalationen des Nahostkonflikts – Haltepunkte und Orientierungslinien zivilisierten Zusammenlebens befinden sich in globaler Auflösung wie lange nicht. Ludger Volmers Reflexionen, die Bruchstücke in zwei Teilen veröffentlicht, wollen für den politischen Diskurs Ankerpunkte einer Friedenspolitik in globaler Verantwortung fixieren. (at)

Wenn immer eine demokratische Regierung erwägt, in einen eskalierenden Konflikt „out of area“ einzugreifen, entbrennt eine öffentliche Diskussion über das Für und Wider. Hoch im Kurs steht dabei der Gebrauch von Adjektiven. Die Intervention sei geboten, klug, richtig, unvermeidbar, angemessen, erfolgversprechend oder auch das Gegenteil von allem. Sie sei eine Frage der politischen Moral, des nationalen Interesses, der Bündnissolidarität, der historischen Verantwortung, der Gunst der Stunde oder aber ein Ausweis von Verantwortungslosigkeit, Überschätzung, Leichtsinn, Vasallentreue, Landesverrat.

Bis zum Wahnwitz

Die Äußerungen spiegeln die innere Haltung der Diskutanten, oft zusammengesetzt aus mehr oder weniger genauem Wissen und rationaler Kalkulation sowie unreflektierter Voreinstellungen und emotionaler Bewegtheit. Bei politischen Entscheidungsträgern spielen weitere Überlegungen eine Rolle. Es geht nicht nur um eine in sich befriedigende Antwort auf die eigentliche sicherheits- und friedenspolitische Frage, sondern auch um deren Einfluss auf andere Themen oder auf die eigene politische Zukunft. Die Diskussionen begleiten den anfänglichen Entscheidungsprozess zur Intervention, ihren Verlauf und ihr Ergebnis. Je nach Lage der Dinge können sich Einschätzungen ändern. So kann es vorkommen, dass aus der ex-post-Perspektive eine Intervention verurteilt wird, die in der Entscheidungsphase noch vehement begrüßt worden war. Die Unschärfe der öffentlichen Diskussion steigert sich in „sozialen Medien“ oft bis zum Wahnwitz. Es könnte deshalb hilfreich sein, sich auf ein Set von Kriterien zu verständigen, nach denen eine Intervention und ihre Ergebnisse auf einer intersubjektiv geteilten Basis beurteilt werden können. Ein solcher Versuch ist nicht neu, aber nicht in Mode.

Seit Jahrhunderten unternehmen Rechtsphilosophie und theologische Ethik den Versuch, Antworten auf die Frage zu finden, was ein „gerechter Krieg“ sei. Ihre elaborierten Lehren flossen in das moderne Völkerrecht ein, von dem sie abgelöst wurden. Dieses erhebt den Anspruch, zwischenstaatlich etwas zu leisten, was innerstaatlich zumindest in Demokratien gilt, nämlich das Recht des Stärkeren durch die Stärkung des Rechts zu ersetzen. Der Imperativ, die Außen- und Sicherheitspolitik im Sinne von Friedenspolitik und globaler Verantwortung zu zivilisieren, liegt auch diesem Text als Folie zugrunde. In der öffentlichen Diskussion aber spielen solche Überlegungen kaum eine Rolle oder werden auf gestanzte Formeln reduziert. Zumindest für politische Entscheidungsträger, etwa Abgeordnete, die im Parlament über einen Waffeneinsatz entscheiden müssen, wäre es aber praktisch, eine Handreichung für eine vertiefte Prüfung zu besitzen, wenn sie vor der Frage stehen: Soll ich einer deutschen Beteiligung an einer militärischen Intervention zustimmen oder nicht?

Es gilt das Friedensgebot des Völkerrechts

Ein differenziertes Set an Kriterien wird auf den Widerspruch derer treffen, die eindimensional das eigene „nationale Interesse“ als notwendige und hinreichende Bedingung ansehen. Für manche „Realisten“ und für prinzipielle Bellizisten gehört potenzielle Gewaltanwendung zur Wesenhaftigkeit eines Staates. Spätestens seit der Verabschiedung der Charta der Vereinten Nationen (VN) aber steht dieser Konstruktion das Postulat der „globalen Verantwortung“ gegenüber. Ein „nationales Interesse“, dessen Definition bereits innenpolitisch bestritten werden kann, muss sich im Lichte dieses Postulats auch im internationalen Raum hinterfragen lassen. Ein selbstreferentieller Interessenbegriff erscheint als reine Machtattitüde. Jede Sicherheitspolitik aber, besonders eine Intervention jenseits der unmittelbaren eigenen Verteidigung, benötigt eine umfassende Legitimation: es gilt das Friedensgebot des Völkerrechts.

Selbst Super- und Großmächte, die in der Gewissheit ihrer Stärke darüber hinweggehen, lernen die Kehrseite ihrer Selbstermächtigung kennen. Die Kumulation von Widersprüchlichkeiten in ihren öffentlichen Begründungen bringt den Vorwurf der doppelten Standards ein und kostet Legitimation. Militärische Macht allein sichert auf Dauer weder die eigene Hegemonie noch die Loyalität von Partnern. Der potenteste Unilateralismus bricht sich an multilateralen Strukturen. Glaubwürdigkeit, eine international nachvollziehbare Plausibilität, die Compliance mit universell anerkannten Werten und Normen sind letztlich unverzichtbar.

Das komplementäre Legitimationsproblem hat ein abstrakter Gesinnungspazifismus, der jeglichen Waffeneinsatz zu welchem Zweck auch immer ablehnt und ohne Ansehen der Gefechtslage die Verständigung mit dem Gegner fordert. Der Glaube, jedes Sicherheitsproblem ausschließlich ohne Waffeneinsatz lösen zu können, mag sich als ethisch hochstehend empfinden, geht aber an den Realitäten vorbei. Gesinnungsethiker argumentieren nicht außen-politisch, sondern außer-politisch. Ihre generellen Appelle an die Humanität mögen sympathisch wirken; sie sind im besten Falle hilflos.

Eine politische Verantwortungsethik hingegen, die sich in Abgrenzung zur interessengeleiteten Realpolitik wie zum abstrakten Gesinnungspazifismus auch als „politischer Pazifismus“ definieren kann, gleicht die humanitären Normen und die inhumanen Realitäten ab und wählt dann den Weg, der realistischerweise dem Postulat einer friedlichen Konfliktbeilegung und Zivilisierung der internationalen Beziehungen am nächsten kommt. Es geht um die Eindämmung und Ordnung von Gewalt. Die Geschichte der Menschheit kann – bei allen grauenhaften Rückschlägen – insgesamt als Prozess der Zivilisation beschrieben werden. Das Friedensgebot des Völkerrechts kodifiziert die weitere Zivilisierung als Norm. Deshalb verlangt es für den Einsatz militärischer Mittel eine besondere Legitimation.

Das deutsche Sicherheitsdilemma

In die folgenden Erörterungen fließen implizit die sicherheitspolitischen Diskurse des „Westens“ ein, insbesondere der USA und Deutschlands. Die USA spielen eine Rolle, weil sie als verbliebene Supermacht einen herausragenden Status besitzen, zwischenzeitlich als Weltordnungsmacht galten und als Führungsmacht die westliche Allianz strukturierten. Bis der Trumpismus zum Epochenbruch führte. Deutschlands Haltung ist interessant, weil es erst nach den Umbrüchen von 1989 bis 1991 seine vollständige Souveränität gewann. Es musste und konnte seine Außen- und Sicherheitspolitik neu justieren. Dabei kam es zu heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen um Interventionsentscheidungen. Diese waren angesiedelt im Spannungsfeld zwischen den Lehren aus den nationalsozialistischen Angriffskriegen und der Verantwortung angesichts der von den VN konstatierten „neuen Bedrohungen“. Zugleich musste eine souveräne Einstellung zum deutschen Sicherheitsdilemma gefunden werden, von der Sicherheitsgarantie der USA abhängig zu sein, nicht aber über deren Kern mitentscheiden zu können. Es ging um die Rolle des neuen vereinigten Deutschlands in der Welt. Diese Frage spitzt sich nach der disruptiven Zerstörung der „westlichen Wertegemeinschaft“ weiter zu.

Im Folgenden nun soll ein Vorschlag formuliert werden zur systematischeren und intersubjektiv nachvollziehbaren Bewertung von sicherheitspolitischen Entscheidungen zu Interventionen sowie deren Verlauf und Ergebnis. Es geht um „Blauhelme“ ebenso wie um „Krisenreaktionskräfte“ und „Kampfeinsätze out of area“. Im Teil eins werden zunächst die drei Begriffe expliziert und ihr Verhältnis zueinander skizziert. Im Teil zwei [Was ist ein gerechter Krieg (II): Kosovo, Afghanistan, Irak und kein Ende] werden anschließend die Begriffe angewendet, um beispielhaft drei vergangene und bekannte Konflikte analytisch zu strukturieren. Dabei geht es nicht um eine umfassende Geschichtsschreibung, sondern um das Herauspräparieren von Aspekten, welche die vorgeschlagene Begrifflichkeit unterstützen.

1. Legalität, Legitimität, Effizienz

Diesseits der langen Ideengeschichte des „gerechten Krieges“ und ihres Kanons ethischer Postulate könnte für politische Praktiker und die interessierte Öffentlichkeit das folgende Prüfungsverfahren nützlich sein. Es ist zu fragen:

Ist eine Intervention legal? Ist eine Intervention legitim? Ist eine Intervention effizient?

Legalität, Legitimität, Effizienz – sie könnten eine erkenntnisleitende Folie bieten. Es ist nicht ausgemacht, dass bei einer Interventionsentscheidung alle drei Kriterien gleich ausfallen, positiv oder negativ. Eher bilden sie ein Dreieck und stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Man könnte von einer sicherheitspolitischen Triangulation reden. Zudem sind diskursive Fallen zu umgehen. Es beginnt bereits damit, dass die Begriffe Legalität und Legitimität in der Alltagssprache, aber auch im politischen Jargon, oft fälschlich als Synonyme verwendet werden. In der klassischen Lehre vom gerechten Krieg werden sie ebenso vermischt. Allerdings gibt es dort ein ständiges Bemühen, ethische Postulate in Rechtsförmigkeit zu überführen. Wie sich zeigen wird, muss Wert auf die strikte analytische Trennung beider Begriffe gelegt werden. Legalität und Legitimität sind zwei verschiedene Aspekte von Legitimation. Ähnlich verhält es sich in der englischen Sprache: legality und legitimacy bilden zwei Seiten von legitimation.

1.1 Legalität

Legalität hat zwei Dimensionen, das internationale Völkerrecht und das nationale Recht. Eine Intervention muss sich an das Völkerrecht halten, so wie es vornehmlich in der VN-Charta kodifiziert, aber auch vom VN-Sicherheitsrat beschieden ist. Waffeneinsatz ist demnach nur aus zwei Gründen erlaubt. Der erste ist das naturgegebene Recht zur Selbstverteidigung gegen einen Aggressor nach Artikel 51 der VN-Charta. Hier gilt der Vorbehalt, dass die Selbsthilfe suspendiert wird, wenn die VN effektive Maßnahmen gegen den Aggressor und zur Wiederherstellung des Friedens ergreifen.

Die zweite Ausnahme ist ein „friedenserzwingender Einsatz“ auf der Basis von Kapitel VII der VN-Charta. Sie setzt einen entsprechenden Beschluss des VN-Sicherheitsrates voraus, der Ziel und Grenzen des Einsatzes definiert. Die VN können eine ihrer regionalen Abmachungen wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) mit der Thematik betrauen. Eine Selbstmandatierung eines Staates oder Staatenbündnisses („coalition of the willing“) ist nicht vorgesehen. Kapitel-VII-Einsätze sind im Zuge der Jugoslawienkriege in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zur Standardform einer legalen Intervention geworden. Sie werden durch reguläres Militär mandatierter Staaten getragen. Es hatte sich herausgestellt, dass „friedenserhaltende Einsätze“ durch „Blauhelme“ nach Kapitel VI der VN-Charta nicht funktionierten, wenn und weil bereits Kampfhandlungen stattfanden. Blauhelme gewannen nicht das Gewicht einer Ordnungsmacht, sondern wurden zu Opfern (Sarajewo) oder gar zu Kollaborateuren (Srebrenica).

In zahlreichen Staaten muss wie in Deutschland eine Intervention über den Beschluss der Regierung hinaus parlamentarisch befasst werden. Oft sind verfassungsrechtlich Grenzen gesetzt. In Deutschland ist das gesamte internationale Völkerrecht zum Bestandteil des nationalen Rechts erklärt worden. Das oberste Verfassungsgericht hat die Kompetenz, die Legalität einer Beteiligung an einer militärischen Intervention zu überprüfen und zu sanktionieren. Die Führung von Angriffskriegen ist mit dem Strafrecht bedroht.

Krieg als Struktur und Handlung

Der Begriff „Krieg“ bietet die nächste diskursive Falle. Er bezeichnet sowohl eine Struktur als auch eine Handlung. Strukturell meint er die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehr Kombattanten. Handlungstheoretisch aber muss unterschieden werden zwischen Angriff und Verteidigung. Allgemeinplätze wie „wir wollen keinen Krieg“ oder „Krieg ist keine Lösung“ beziehen sich auf die Struktur, die abgelehnt wird. Sie umgehen und verschleiern aber zugleich die eigentlichen Entscheidungsfragen, da sie zwischen den Handlungen „Angriff“ und „Verteidigung“ nicht kategorial unterscheiden. Beide Handlungen, die in derselben Struktur stattfinden, werden, was die Legalität angeht, unzulässig gleichgesetzt.

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Ein ähnlicher Fehler unterläuft der feministischen Kritik. Einen Krieg als Imponiergehabe testosterongesteuerter Machos zu interpretieren, die ihren Rangplatz auf dem Affenfelsen auskämpfen, drückt sich ebenfalls an der Unterscheidung zwischen Angriff und Abwehr vorbei. Beim Angreifer mag der Hormonstatus durchaus eine Rolle spielen, und er mag sich aus feministischer Sicht der Lächerlichkeit preisgeben. Aber daraus kann nicht die Lächerlichkeit der Selbstverteidigung abgeleitet werden. Frau müsste geradezu hoffen, dass der zu Unrecht angegriffene potenter ist als der Aggressor, wenn es ihr nicht gelingt, diesen durch Appelle an die Friedensliebe zu besänftigen.

Die traditionelle völkerrechtliche Diskussion unterschied das „Recht zum Krieg“ und das „Recht im Krieg“. Die doppelte Verwendung des Wortes „Krieg“ könnte suggerieren, dass es sich in beiden Formeln um denselben Begriff handelt. Dabei ist mit dem ersten Begriff ein Angriffskrieg gemeint. Bis in die Moderne galt er als legale und legitime Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Angriff ist eine Handlung eines politischen Subjektes. Der zweite Begriff jedoch bezeichnet eine Struktur, den Kampf zwischen zwei oder mehreren Parteien. Die handlungstheoretische und die strukturtheoretische Verwendung zu vermischen, führt theoretisch und praktisch in Teufels Küche.

Verträge können geändert werden

Ein „Recht zum Krieg“ ist heute völkerrechtlich nicht mehr existent. Angriffskriege sind per se geächtet. Über das Recht zur Verteidigung muss nicht mehr räsoniert werden; es ist naturrechtlich gegeben und in der VN-Charta fixiert. Kurz: Angriff ist immer illegal; Verteidigung ist immer legal. Das „Recht im Krieg“ jedoch bleibt eine relevante Kategorie. Es ist in mehreren vertraglich festgelegten internationalen Rechtsnormen zur „Humanisierung“ von Kampfhandlungen kodifiziert und bindet alle Kombattanten, auch Verteidiger. Daraus folgt: Auch wenn ein militärisches Eingreifen auf Seiten der Verteidiger zu Beginn legal war, kann es seine Legalität durch „unverhältnismäßige Mittel“ (teilweise) einbüßen. Dies bedeutet wiederum nicht rückbezüglich, dass eine Intervention von Beginn an illegal war.

Das Völkerrecht ist eigentlich kein Recht der und für Völker, sondern ein Staatenrecht. Es beruht nicht auf einer vom Volk beschlossenen Verfassung, sondern auf vertraglichen Übereinkommen von Staaten und ihrer „gewohnheitsmäßigen Praxis“. Verträge können geändert werden, wenn sie neue Realitäten nicht mehr erfassen; einem Gewohnheitsrecht kann die Aberkennung drohen. Wegen dieser Formen der Rechtssetzung ist es nicht illegal, einen formulierten Kodex in Zweifel zu ziehen, falls eine triftige Begründung vorliegt. Auch der Prozess der Rechtssetzung ist Teil des Rechts. Jeder Zweifel am bestehenden Recht aber muss zu neuem Recht führen und berechtigt nicht zur Selbstermächtigung, Wie bei der amerikanischen Verfassung und anders als beim deutschen Grundgesetz wird bei einer Rechtsreform die VN-Charta nicht im Wortlaut verändert, sondern erhält durch Resolutionen des VN-Sicherheitsrates und weitere universell gültige Vereinbarungen wie die Menschenrechtspakte oder die Völkermordkonvention eine zeitgemäß gültige Interpretation. Resolutionen der VN-Generalversammlung sind nicht bindend, aber geben die Tendenz der weltweiten Meinung wieder.

Die Konstruktion des VN-Sicherheitsrates mit ständigen Mitgliedern samt Vetorecht lässt Zweifel am Legalitätsprinzip selbst aufkommen. Legalität wird über das Verfahren der Abstimmung hergestellt. „Legitimation durch Verfahren“ aber besitzt eine nur schwache Plausibilität. Denn die Veto-Mächte nutzen ihr Recht nicht immer, um im Sinne globaler Verantwortung Gerechtigkeit und Wahrheit zu finden, sondern um eigene nationale Interessen durchzusetzen. So kann es geschehen, dass ein legitimes politisches Begehren keine legale Absicherung erhält.

1.2 Legitimität

Mit Legitimität ist die ethisch-moralische Dimension einer Entscheidung gemeint. Sie gibt darüber Auskunft, ob eine Intervention im nichtjuristischen Sinne berechtigt oder sogar verpflichtend ist. Nicht alles, was rechtlich möglich ist, muss auch praktiziert werden. Zudem gibt es rechtsfreie Räume, in denen der ethisch-moralische Kompass gefragt ist. Auch können Maßnahmen für legitim gehalten werden, für die es keine passende Rechtsnorm und keinen zustimmenden Beschluss des Sicherheitsrates gibt. Kurz: Legitimität kann in Widerspruch zur Legalität geraten, muss dann manchmal zurückstehen, kann sich aber auch durchsetzen und eine Neuformulierung von Rechtsstandards erwirken.

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Selbstverteidigung ist nicht nur legal, sie ist auch legitim, weil nach dem Naturrecht niemand einen Angriff auf sein Leben oder seine Gesundheit hinnehmen muss. Als Notwehrparagraf ist diese Figur in den meisten nationalen Gesetzgebungen fixiert wie im Bürgerlichen Gesetzbuch Deutschlands. Dieses geht über das Recht zur Notwehr hinaus und postuliert die Hilfe durch Dritte. Die Erlaubnis zur Nothilfe weitet sich unter Umständen zur Nothilfepflicht. Eine grobfahrlässig unterlassene Hilfeleistung kann strafrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Was im nationalen Rahmen gilt, erfasst zunehmend den internationalen Raum.

In der VN-Charta ist eine solche Verpflichtung im Begriff der kollektiven Verteidigung beinhaltet. Zahlreiche Beschlüsse des Sicherheitsrates und Resolutionen der Generalversammlung haben diese Verpflichtung spezifiziert, am deutlichsten im Postulat der „Schutzverantwortung“ („responsibility to protect“), das die VN zunächst an sich selbst richten. Im Kampf gegen den internationalen Terrorismus haben die VN durch ihren Generalsekretär sogar alle Staaten aufgerufen, auch eigenständig einen aktiven Beitrag zu leisten, „by any means“, d.h. auch militärisch.

Wenn die Staatsmacht das eigene Volk attackiert

Generell aber gilt die VN-Forderung nach einer „Kultur der Prävention“. Erst wenn alle verfügbaren Methoden und Mittel der Krisenverhütung und zivilen Konfliktbearbeitung, einschließlich robuster Diplomatie und wirtschaftlicher Sanktionen, nachweislich ausgeschöpft sind, ist ein Waffeneinsatz als „ultima ratio“ legitim. Die „prima ratio“ zu übergehen, um schnell militärisch eingreifen zu können, wäre illegitim. Auch gilt: Nicht alle legal möglichen Interventionen sind automatisch legitim. Wenn überwiegend negative Auswirkungen erwartbar sind, etwa hohe Kollateralschäden, die vertikale oder horizontale Eskalation des Konfliktes, kann es ethisch geboten sein, auf militärische Maßnahmen zu verzichten.

Die ethische Dimension ist nicht der VN-Charta nachgeordnet, sondern war Voraussetzung zu ihrer Formulierung und Verabschiedung. Sie führt deshalb immer wieder zur kritischen Frage, ob die juristischen Konstruktionen der VN einschließlich der Zusammensetzung und Kompetenz des Sicherheitsrates angesichts neuer Bedrohungen noch zeitgemäß sind. Sie motivierte zudem zur Ausarbeitung und Verabschiedung der Völkermordkonvention, der Menschenrechtskonvention und der Pakte für politische und soziale Menschenrechte. Mit diesen Konventionen werden nicht nur Rechte von Volksgruppen, Minderheiten und Individuen geschützt. Sie relativieren auch die in der VN-Charta formulierte Norm der „Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten“.

Die Charta ging vor der Fiktion aus, dass ein Staat seine Staatsmacht im Interesse seines gesamten Staatsvolkes nutzt. Die Realität aber sah anders aus. Es gab eine Reihe von innerstaatlichen Genoziden, Massenmorden, ethnischen Säuberungen, bei denen die Staatsmacht das eigene Staatsvolk attackierte. Es ist schon bemerkenswert, dass der Holocaust zwar einen Hintergrund für die Formulierung der VN-Charta bildete, der Umgang mit solchen Staatsverbrechen aber nicht besprochen wird. Erst die erwähnten Konventionen schafften hier Abhilfe. Heute darf und muss sich die internationale Staatengemeinschaft mit solchen Ereignissen befassen. Die Berufung eines Täterstaates auf die „inneren Angelegenheiten“ gilt immer weniger als legitim.

Bei den Nürnberger Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher des Nazi-Staates bestand eine Schwierigkeit darin, die Angriffskriege als Verbrechen im juristischen Sinne nachzuweisen. Die VN-Charta galt 1939 noch nicht. Der Briand-Kellogg-Pakt von 1928 ächtete Angriffskriege, seine Bindungswirkung aber blieb gering. Deshalb bemühten Ankläger und Gerichte in Nürnberg neben den knappen völkerrechtlichen auch überhistorisch-ethische Kategorien, zusammengefasst als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Auch hier zeigt sich, dass das Recht der Ethik folgen und modifiziert werden kann, wenn es aus der Zeit fällt. Ob Ethik eine Rolle spielt, ist wiederum eine Frage der Machtverhältnisse.

1.3 Effizienz

Eine Intervention mag legal und legitim sein, zu prüfen wäre zudem ihre Effizienz in mehrfacher Hinsicht: Können die politisch erwünschten Ziele realistischerweise praktisch erreicht werden? Wird das Problem beim Scheitern der Maßnahme noch schlimmer? Treten an anderer Stelle oder zu anderen Zeiten dadurch neue gravierende Probleme auf, für die sich keine Lösung abzeichnet? Es geht um Prognose, nicht um exaktes Wissen. Dieses Kriterium ist ex ante am schwersten kalkulierbar.

Nicht immer verfügt ein von der VN oder ihren regionalen Abmachungen mandatiertes Land oder Bündnis auf Dauer über ausreichende militärische, finanzielle, personelle und politische Ressourcen für eine Intervention. Vielleicht gibt es keine aussichtsreiche Strategie, massive logistische Probleme, unakzeptable Kollateralschäden. Auch kann die Gefahr für einen intervenierenden Staat selbst zu groß sein, weil er mit Angriffen der Gegenseite oder hohen eigenen Verlusten rechnen muss. Reale oder prognostizierte Misserfolge stellen auch die aktive Zustimmung in der eigenen Bevölkerung und im Parlament in Frage. Mut und Entschlossenheit mögen manches Defizit überwinden können, Hurrageschrei aber kann falsche Erwartungen wecken, unglaubwürdige Durchhalteparolen können die öffentliche Stimmung umschlagen lassen. Kriegspropaganda kann die ohnehin angeschlagene Glaubwürdigkeit von Medien weiter herabsetzen. Die gesamte demokratische Kultur kann Schaden nehmen.

Eine ineffiziente Intervention kann zum Sieg der Gegenseite und zur Verfestigung der Zustände führen, die beseitigt werden sollten. Die militärische Intervention kann das Fenster für diplomatische Bemühungen für eine unabsehbare Zeit schließen. Eingedenk der völkerrechtlich verlangten „Verhältnismäßigkeit der Mittel“ läuft eine Intervention Gefahr, zu zögerlich zu sein. Dabei muss gelten: Wer eine Intervention beginnt, muss sie auch gewinnen wollen. Diese Eskalationsgefahr ist ebenfalls zu kalkulieren. Wenn sich entgegen optimistischen Annahmen ein Scheitern einer Intervention abzeichnet, muss es eine Exit-Option geben, die ebenso durchkalkuliert ist wie die Entrance-Strategie.

Die letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass Konflikte, die per Intervention eingedämmt werden sollten, sich in andere Regionen verlagern können. Die horizontale Eskalation kann Staaten erfassen, die bis dahin als menschrechtlich schwierig, aber außenpolitisch friedlich galten. Sie kann neue Kombattanten auf den Plan rufen, die mit anderen Zielen und Mitteln den Ursprungskonflikt mutieren lassen. Es kommt zu einer überkomplexen Konfliktstruktur mit schwer durchschaubaren Akteuren und Interessen, auch mit privatisierter Gewalt, die dem Völkerrecht nicht zugänglich ist.

Ein nachteiliges Ergebnis kann auch eine legitime, aber in den Konsequenzen nicht durchdachte Menschenrechtspolitik bringen. Denn eine Despotie ist eine Ordnung, auch wenn sie Menschenrechte verletzt. Ihr Sturz aber muss nicht zwangsläufig zur Demokratie führen; es kann auch eine neue, vielleicht schlimmere Diktatur entstehen oder Staatszerfall, völliges Chaos und die Tyranei konkurrierender Warlords.

Wenn ein Staat aus triftigen und nachvollziehbaren Gründen keine Nothilfe durch die Beteiligung an einer legalen und legitimen Intervention leistet, macht er sich nicht mitschuldig am Elend derer, denen geholfen werden soll. Für deren Elend ist einzig und allein der Aggressor verantwortlich. Ein Helfer der ohnmächtig ist, steht nicht auf derselben niedrigen ethisch-moralischen Stufe wie ein Aggressor, der mächtig ist.

Der Text steht unter dem Titel „Legalität, Legitimität, Effizienz – Eine Methodik zur Entscheidung über militärische Interventionen“ (mit Fußnoten und Literaturhinweisen) auch auf Ludger Volmers Website.

Ludger Volmer
Ludger Volmer war von 1991 bis 1994 Sprecher des Bundesvorstandes der Partei “Die Grünen”, von 1998 bis 2002 Staatsminister im Auswärtigen Amt. Heute ist Volmer freiberuflicher Publizist, Dozent und Politikberater.

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