
Ist Deutschland atomar gefährdet? Wer so fragt, erhält oft Antworten der Erleichterung: Nein, denn es seien doch fünf der sieben belgischen Reaktoren in Doel und Tihange geschlossen worden, das AKW Fessenheim in Frankreich ja auch. Andere erinnern an die einstigen angeblich so sicheren deutschen Reaktoren — was von tiefer Unkenntnis über deren zuletzt gegebenen technischen Zustand zeugt. Manche verweisen allerdings auf das von Russland besetzte ukrainische AKW Saporischschja, das — trotz der Entfernung von 2000 Kilometern — wegen der immer wieder unterbrochenen externen Stromversorgung eine echte nukleare Sicherheits-Bedrohung ist. Jedoch: Welche Gefahren für ganz Deutschland an der Grenze zur Schweiz lauern, in Form von schweizerischen AKW‘ s, das hat kaum jemand auf dem Zettel.
Direkt auf der Grenze steht das Schweizer AKW Leibstadt. Beznau, das älteste AKW der Welt, steht mit seinen beiden Methusalem-Blöcken zehn Kilometer hinter der Grenze auf einer Insel im Rheinzufluss Aare. Der vierte Schweizer Block steht in Gösgen, 20 Kilometer vom Grenzort Bad-Säckingen entfernt. Das AKW Gösgen ist selbst in Südbaden kaum bekannt, aber ein echtes Problem. „Die Sperrzone könnte vom Unfall-AKW in der Schweiz bis kurz vor Passau, Leipzig oder Hannover reichen. Millionen Menschen in Deutschland könnten infolge eines solchen Unfalls dauerhaft Wohnung, Arbeitsplatz oder Existenz, Heimat und soziales Umfeld verlieren“ skizziert Armin Simon, Co-Autor einer aktuellen Studie (s.u.) mögliche Katastrophen-Szenarien.
Schwachstelle identifiziert, aber nicht behoben
Der Reaktor in Gösgen steht seit seiner letzten Revision im Mai 2025 still und zieht, um seine Kühlung aufrecht zu erhalten, voraussichtlich bis Februar 2026 Strom aus dem Netz, anstatt welchen zu produzieren. Grund für den neun-monatigen Atomausfall ist ein Sicherheitsrisiko im Kühlkreislauf, das — man muss es so sagen — alt ist, aber erst jüngst wieder entdeckt wurde. Aus einem Schreiben der Schweizer Atomaufsicht ENSI geht hervor, dass diese Sicherheitslücke seit 46 Jahren, seit der Inbetriebnahme im Jahr 1979, übersehen wurde. Und als ob das nicht irre genug ist, kommt nun heraus, dass die Schwachstelle in den 1990er Jahren zwar identifiziert — aber nie behoben wurde. Die Atomaufsicht gibt an, das Sicherheitsdefizit sei bereits im März 2025 gemeldet worden, trotzdem ließ die Schweiz das AKW noch bis Ende Mai weiterlaufen. „Das Beispiel Gösgen spricht Bände. Während andere Länder bei diesem Reaktortyp die Speisewasserpumpen nachrüsteten, schaute die Schweizer Atomaufsicht ENSI viele Jahre einfach darüber hinweg», so die Kritik von Rudolf Rechsteiner, Vorstand des Trinationalen Atomschutzverbands, TRAS. „Das ENSI schützt die Betreiber, nicht die Bevölkerung, es war stets Erfüllungsgehilfe der Atomkonzerne.»
Obwohl der AKW-Betreiber gesetzlich verpflichtet ist, in einem solchen Fall den Betrieb der Anlage sofort einzustellen, sah das ENSI offenbar weg, als der Betreiber die Abschaltung noch bis zur Jahresrevision Ende Mai hinauszögerte. Greenpeace Schweiz fragt, ob der Atomkonzern, der mit seinem AKW sonst zwölf Prozent zur Schweizer Stromproduktion beiträgt, „unter wirtschaftlichem Druck seine gesetzlichen Verpflichtungen missachtet“. Die Atomaufsicht, deren Rolle in diesem Fall zumindest fragwürdig erscheine, müsse Transparenz herstellen. Die Organisation stellt weiter fest: «Greenpeace ist erleichtert, dass die Schwachstelle in Gösgen entdeckt wurde, bevor sich ein schwerer Unfall ereignete. Wir fragen uns jedoch, wie viele Mängel in den Schweizer AKW‘s bisher unentdeckt geblieben sind.“
Das Problem mit dem Wasserhammer
Wasserschadens-geplagte Hausbewohner:innen kennen das Problem unkontrollierter Druckstöße in wasserführenden Leitungen. Man spricht auch vom Druckschlag oder vom Wasserhammer, der entsteht, wenn sich die Fließgeschwindigkeit einer nicht komprimierbaren Flüssigkeit in einem Rohr abrupt ändert, also bei Beschleunigung oder bei Verzögerung, wenn sich beispielsweise Rückschlagklappen schließen. Als besonders prominentes Druckschlag-Beispiel gilt der Bruch einer Wasserleitung unter der Fifth Avenue in New York City im Januar 1998. Die Anwohner:innen wurden durch einen lauten Knall in den Rohren aus dem Schlaf gerissen. Mehrere Hunderttausend Liter Wasser unterspülten in kürzester Zeit die Straße und verursachten gewaltige Schäden.

Das Sicherheits-Problem von Gösgen hat mit den Rückschlagklappen in seinen Speisewasserleitungen zu tun, die eigentlich dafür da sind, dass sie schnell schließen, falls es irgendwo im System zu einem Rohrbruch kommt. Sie sollen verhindern, dass das System zu viel Wasser verliert. Schnappen diese Klappen abrupt zu, entsteht allerdings ein Druckschlag, der die Halterungen der Rohre massiv belastet. Im schlimmsten Fall könnte dadurch „die Kühlung des Reaktors und damit die Beherrschung des Auslegungsstörfalls ‚Brüche einer Speisewasserleitung‘ in Frage gestellt sein“, wie die Atomaufsicht ENSI feststellt. Genauso alarmierend liest sich die Klartext-Übersetzung der entsprechenden Aussage des Betreibers: „Aufgrund von Berechnungen und des aktuellen Zustandes der Rohrleitungen kann ein solcher Rohrbruch für die kommenden Jahrzehnte nahezu ausgeschlossen werden.“ Klartext: Ein Rohrbruch kann NICHT ausgeschlossen werden.
Um die Schwachstelle zu entschärfen, gibt es zwei Möglichkeiten: entweder man verstärkt die Halterungen der Rohrleitung, damit sie dem Druckschlag standhalten. Oder man installiert gedämpfte Rückschlagklappen. Die Kosten für Letzteres liegen im einstelligen Millionenbereich. Die Speisewasserleitungen sind entscheidend für die Kühlung eines Reaktors. Und in diesem Kreislauf liegt das potenzielle Sicherheitsrisiko von Gösgen. Hinweise darauf gab es, wie oben erwähnt, schon Ende der 1990er Jahre. Die atomkritische NGO „ausgestrahlt.de“ schreibt dazu:
Die Schweizer Atomaufsicht ließ sich damals mit alten, vereinfachten Berechnungen und falschen Behauptungen des Betreibers zur angeblichen Stabilität der Rohre abspeisen. Jetzt stellt sich heraus, dass die entscheidenden Annahmen damals grundfalsch waren: Die Rohre sind nicht etwa stabiler, sondern deutlich instabiler als einst mit simplen Methoden grob berechnet.
In einem aktuellen Gutachten im Auftrag der Schweizer Energiestiftung nimmt der Reaktorsicherheitsexperte Prof. Dr.-Ing. habil. Manfred Mertins zum AKW Gösgen Stellung:
„Im Unterschied zu baugleichen Anlagen, z.B. den in Deutschland bereits stillgelegten, sind im KKW Gösgen keine gedämpft wirkenden Rückschlagklappen im Speisewassersystem eingebaut worden. Durch das abrupte Abbremsen der Strömung durch ungedämpfte Rückschlagklappen wird für Sekundenbruchteile ein Druckstoß in den intakten Teilen der Rohrleitungen verursacht, der zu Überlastungen und damit zu Schäden an einzelnen Rohrleitungshalterungen führen kann. Die Nichtbeherrschbarkeit des Auslegungsstörfalles (Rohrleitungsbrüche im Speisewassersystem) wäre damit die Folge. Schäden am Reaktorkern bis hin zur Kernschmelze sind in einem solchen Ereignis zu erwarten.“
Gösgen zeigt, wie wichtig eine informierte Zivilgesellschaft ist
So wenig das AKW Gösgen, seine gefährlichen Schwächen, und auch die Probleme der anderen drei Schweizer Atomreaktoren (Leibstadt, Beznau 1 und 2) hierzulande bekannt sind, so schlecht sind Bevölkerung, Behörden und Katastrophenschutz auf einen möglichen schweren Unfall in unmittelbarer Nähe zur Landesgrenze vorbereitet. Selbst die 2015 auf Empfehlung der deutschen Strahlenschutzkommission, als Konsequenz aus der Atomkatastrophe von Fukushima, beschlossene „Ausweitung der Katastropheneinsatzpläne ist in Südbaden bis heute nicht umgesetzt“, stellt der Trinationale Atomschutzverband TRAS in seiner aktuellen Studie „Grenzenloses Risiko – Gefährdung Deutschlands durch schwere Unfälle in Schweizer Atomkraftwerken“ fest.
Das betrifft die beschlossene Vervierfachung der Evakuierungszonen, aber auch die Ausweitung der Außenzonen auf 100 Kilometer um das jeweils havarierte AKW. Und: Die Bevölkerung ist vollständig uninformiert, obgleich die Strahlenschutzverordnung (StrSchV) vorschreibt, dass „die Bevölkerung, die bei einem Notfall betroffen sein könnte, in geeigneter Weise und unaufgefordert mindestens alle fünf Jahre über die Sicherheitsmaßnahmen, geplante Maßnahmen zur Warnung und zum Schutz der Bevölkerung sowie Empfehlungen für das Verhalten bei möglichen Notfällen informiert“ werden muss. In der – gemäß Strahlenschutzverordnung längst veralteten – „Notfallschutzbroschüre – Ein Ratgeber für die Bevölkerung in der deutschen Umgebung der schweizerischen Kernkraftwerke Beznau und Leibstadt“ aus dem Jahr 2012 (!) stehen noch die alten Katastrophenschutz-Zonen und erwecken den Anschein, die 233.000-Einwohner-Stadt Freiburg läge nicht in der Außenzone und das lediglich 20 Kilometer von der Grenze entfernte AKW Gösgen habe keine Relevanz. Nun kann man entweder monieren, dass die deutsche Seite nicht auf jeden möglichen Katastrophenfall vorbereitet ist. Oder alle Verantwortlichen stellen gemeinsam die Gefahren ab.
Mit 39 Ja-Stimmen quer durch alle Fraktionen (1 Nein AfD, 2 Enthaltungen Freie Wähler) hat der Freiburger Gemeinderat eine Erklärung zur Gefährdung der Stadt Freiburg durch die Schweizer Atomkraftwerke verabschiedet (Tagesordnungspunkt 9 am 25. November 2025). Darin werden Bund und Land aufgefordert, Druck auszuüben, um den Überzeitbetrieb der AKWs zu beenden und stattdessen den Ausbau der notwendigen Infrastruktur für den ergänzenden Handel mit erneuerbaren Energien voranzutreiben.
Die TRAS-Studie, die sich auf Untersuchungen deutscher, österreichischer und schweizerischer Institute, Organisationen und Behörden stützt, zeigt, dass ein Kernschmelzunfall im AKW Gösgen weite Teile Deutschlands radioaktiv kontaminieren könnte. «Unter Umständen müsste eine Zone bis weit über Stuttgart hinaus binnen weniger Stunden evakuiert werden. Große Gebiete bis in mehrere Hundert Kilometer Entfernung könnten langfristig unbewohnbar werden. Gösgen zeigt: Das Risiko eines schweren Unfalls ist deutlich höher als behauptet.»
Wolfgang Renneberg, Physiker, Jurist und einer der angesehensten Experten für Reaktor-Sicherheit, berichtete kürzlich auf einer Informationsveranstaltung über seine Zeit als Leiter der Atomaufsicht im Bundes-Umweltministerium BMU (1998 bis 2009). Dort gab es einen regelmäßigen Austausch mit den Kolleg:innen der Schweizer Atomaufsicht ENSI, so dass die Fachabteilungen im BMU einen gewissen Überblick über den technischen Zustand der Schweizer Anlagen bekommen haben. Renneberg fasste zusammen, „dass die Schweizer Kernkraftwerke grundlegende Sicherheitsanforderungen, die heute Standard sein müssten, nicht erfüllen“. Der Reaktordruckbehälter sei dabei nur ein Teil des Problems. Aus diesem zentralen Bauteil heraus führen Leitungen, die regelmäßig auf Materialermüdung und Versprödung geprüft werden müssten. Die Konstruktionsweise der Altmeiler ließen die entsprechende Platzierung der Messgeräte aber gar nicht zu: „Das ist teilweise so eng, dass man das gar nicht prüfen kann.“
Siehe auch den Seemoz-Beitrag „Gefährliche Ruhe: Die Risiken der Schweizer AKWs„