Gratis oder billig, unsichtbar: Frauenarbeit in der Männerwirtschaft

„Das Patriarchat hat seinen Meister gefunden“. Kundgebung und Demonstration zum Internationalen Frauentag 2022 in Melbourne. (Foto: Matt Hrkac auf wikimedia commons)

Die androzentrische Mainstream-Ökonomie macht (Frauen-)Arbeit des Alltags unsichtbar (und gratis oder billig), Gedanken an Geschlechtergerechtigkeit lässt sie gar nicht erst aufkommen. Frauen* wird das ganze Ausmaß der systematischen Ausgrenzung ihrer Bedürfnisse und Belange aus der Matrix relevanter Entscheidungsprozesse oft erst vollumfänglich bewusst, wenn sie sich Zugänge zu den Institutionen von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik erkämpft haben.

So erging es in den 1980er Jahren der US-amerikanischen Psychologin und feministischen Ethikerin Carol Gilligan. Als Mitarbeiterin von Lawrence Kohlberg befasste sie sich mit seinem Stufenmodell moralischer Entwicklung. Kohlberg hatte Frauen auf der Basis seiner Forschungen einen geringeren »moralischen Reifegrad« bescheinigt. Das veranlasste Gilligan dazu, die Grundannahmen des Kohlberg‘schen Modells in den Fokus zu nehmen. Sie entdeckte, dass die vermeintlich geschlechtsneutralen, am männlichen Geschlecht orientierten Moralvorstellungen, wie z. B. individuelle Autonomie und abstrakte Gerechtigkeitsprinzipien – die jedoch als allgemeingültig ausgegeben wurden –, ungeeignet waren, die Entwicklung der moralischen Urteilsbildung von Mädchen und Frauen angemessen zu erfassen. In ihrem Buch »In a Different Voice« (1982) entwickelte sie ein anderes Modell, das die Verantwortung für konkrete zwischenmenschliche Beziehungen, soziale Netzwerke und das Ausbalancieren von Sorge und Fürsorge für andere Personen im Sinne einer Care-Ethik in den Mittelpunkt stellt. Gilligan dechiffrierte den traditionellen Universalismus und hat mit ihrem Ansatz den Weg frei gemacht für die Anerkennung von geschlechtlicher und kultureller Pluralität von Moralkonzeptionen.

„Brutales Erwachen“

Hausarbeit als Männerphantasie
(Bild: Victoria_rt auf pixabay)

Zugleich war damit eine wegweisende Kritik an diskriminierenden Ausschlussmechanismen und intersektionalen Ungleichheitsdimensionen formuliert, wie sie für androzentrisches Denken bis heute in unterschiedlichen gesellschaftlichen Handlungsfeldern charakteristisch ist.
Zunächst bezog sich die durch Gilligan inspirierte frauenbewegte Reflexion vor allem auf ethische Fragestellungen, die den weiblichen Körper und die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen betrafen. Ein Thema, das durch das jüngste Grundsatzurteil des Supreme Court in den USA vom 26. Juni 2022 gegen legale Schwangerschaftsabbrüche erneut hochaktuell ist.

Doch auch wirtschaftswissenschaftliche Theoriemodelle gerieten fortan in die Kritik. So machte die neuseeländische Ökonomin und Politikerin Marilyn Waring als junge Abgeordnete und Vorsitzende der Revision der Nationalen Buchhaltung – vergleichbar mit der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) in Deutschland – eine unerwartete und prägende Erfahrung, die sie in ihrem Buch »If Women Counted. A New Feminist Economics« (1988) als »brutales Erwachen« beschrieb. Alle Dinge, die ihr politisch wichtig waren, kamen in diesen Rechnungen und statistischen Analysen schlicht nicht vor: weder Nationalparks noch die gesellschaftlich notwendige Care-Arbeit, die Frauen unsichtbar und folglich unbezahlt leisten. Diese Arbeit wird in der Mainstream-Ökonomie nicht als Teil des Wirtschaftskreislaufs wahrgenommen und findet folglich auch keine Berücksichtigung bei finanz- und wirtschaftspolitischen Entscheidungen. Diese Verzerrungen, so Waring, machen deutlich, wie mit Statistik Politik gemacht wird. Anders gesagt: Politik ist bereits die Entscheidung, was erhoben wird und was nicht und wie und ob es überhaupt verbucht wird. Ihr Buch wurde zu einem Gründungsdokument der feministischen Ökonomie, die von Anfang an mit dem ethischen Anspruch verbunden wurde, Geschlechtergerechtigkeit herzustellen.

Zugriff auf eine scheinbar unerschöpfliche Quelle

Die Standardökonomik in Gestalt der klassischen und neoklassischen Theorie beruht dagegen auf dem Menschenbild des geschlechtslos konstruierten Homo oeconomicus. Geschlechtsneutrale Entscheidungen, wie sie diese Kunstfigur unterstellt, kann es jedoch in einer geschlechterasymmetrischen und hierarchisch strukturierten Gesellschaft nicht geben. Die feministische Ökonomik weist nach, dass das Ideal des sorglosen Homo oeconomicus sehr wohl ein Geschlecht hat und das »Stereotyp des weißen, männlichen Bürgers abbildet [und zugleich] diskursiv mit ihm verknüpft entstand« (Friederike Habermann 2010). Zudem existiert er mitnichten isoliert von gesellschaftlichen Bezügen und Einbettungen, sondern agiert zum Beispiel im Kontext von Familie und Partnerschaft, wo weibliche Angehörige und/oder Dienstboten für die Care-Arbeit zuständig sind. Darauf greifen der Homo oeconomicus ebenso wie Unternehmen wie auf eine scheinbar unerschöpfliche Quelle zu, ohne sich jedoch angemessen an den Kosten zu beteiligen. Auch die Annahme der Standardökonomie, monetäre Ressourcen innerhalb der Privathaushalte würden per se bedürfnisgerecht verteilt, geht vollkommen an der Realität vorbei. Der Privathaushalt ist keine Blackbox mit einer ebenbürtigen Verhandlungsmacht und identischen Interessen ihrer Mitglieder. Vielmehr müssen diese ausgehandelt werden, was oftmals zuungunsten von Frauen ausfällt.

Eine von feministischer Ethik geleitete Ökonomie setzt die Care-Arbeit von weiblich gelesenen Menschen nicht länger stillschweigend und abgewertet voraus. Vielmehr thematisiert sie, was das Aussparen von nicht marktvermittelten Aktivitäten in der Standardökonomie in der Konsequenz bedeutet: die dafür ganz überwiegend von Frauen* aufgewendete Zeit wird ignoriert oder als »Freizeit« betrachtet, ohne anzuerkennen, dass Zeit für Sorgearbeit eben nicht am Markt oder für andere Aktivitäten eingesetzt werden kann und so zu pfadabhängigen geschlechtsbezogenen Formen von Benachteiligung führt, die sich im Lebensverlauf kumulieren (Gender Pension Gap).

Fundament allen Wirtschaftens

Feministische Gegenentwürfe konzeptualisieren die Arbeit des Alltags von Frauen als Grundvoraussetzung allen Wirtschaftens: Nicht das egozentrische, unabhängige Individuum, das seine Nutzenmaximierung über rationale Entscheidungen in Marktbeziehungen erreicht, steht im Fokus. Vielmehr sind es die vielfältigen wechselseitigen Abhängigkeiten von Menschen – auch jenseits von Marktbeziehungen. Dieser Perspektivwechsel ist verbunden mit der Sinnfrage wirtschaftlichen Handelns, die das Fundament und die normative Voraussetzung allen Wirtschaftens transparent machen will. Damit wird der Gegenstandsbereich der Ökonomie nicht nur um sämtliche ökonomische Aktivitäten des Erhaltens und Unterhaltens, wie sie in privaten Haushalten vollzogen werden, erweitert: Sie bilden den Ausgangs- und Mittelpunkt allen wirtschaftlichen Tuns, wie die Schweizer Theologin Ina Praetorius schreibt. Die dadurch erreichte Aufwertung von Care-Tätigkeiten unter Einschluss eines sorgsamen und nachhaltigen Umgangs mit begrenzten Naturressourcen eröffnet neue und innovative Perspektiven für attraktive Lebensmodelle in planetaren Grenzen, die sich an grundlegenden Bedürfnissen des Menschen statt an seiner individuellen Nutzenmaximierung orientieren.

Feministische Ökonominnen haben schließlich herausgearbeitet, wie problematisch und ethisch fragwürdig die Behandlung von Care-Arbeit als Ware ist. Dennoch wurde das industrielle Produktionsmodell mit seinen Analyseinstrumenten umstandslos auf personenbezogene Dienstleistungsarbeit übertragen, wie die folgenden Interviewausschnitte, veröffentlicht 2014 in »Prokla«, Heft 174, aus dem Arbeitsbereich der ambulanten Pflege verdeutlichen: 

[…] wir haben so kleine Computer, mit denen wir überwacht werden, da müssen wir dann immer anklicken, wann wir den Fuß in die Wohnung setzen, und wenn wir den Fuß wieder raussetzen, so wird die Zeit gestoppt. Und darin haben wir dann unsere Leistungen aufgeschrieben, Strümpfe ausziehen: 2 Minuten, Strümpfe anziehen: 4 Minuten und so. […] Und das piepst ganz laut, wenn diese Zeit ablaufen ist.« In der Praxis ist es allerdings überhaupt nicht möglich, Care-Arbeit in diesem taylorisierten Zeittakt menschenwürdig zu leisten und lediglich auf medizinisch-technische Arbeitsanteile zu beschränken: »[…] ich schaffe es nicht immer zu sagen: Ich habe keine Zeit. Das kriege ich einfach nicht hin. […] Also, die freuen sich, dass wir kommen, die warten die ganze Zeit, dass wir endlich da sind und dann stürme ich da rein, mache zack, zack, zack und gehe wieder raus – das ist schon heftig und viele Alte, […] die haben sonst nichts. Das ist Lebensinhalt. Auf die Schwester warten.

Diese interaktive Fürsorgearbeit wird also oftmals von den Pfleger:innen dennoch geleistet – meist jedoch als zusätzliche und unbezahlte Arbeit unter erheblichem Zeitdruck. Gegenwärtig befinden wir uns in einem globalen »Transformationsprozess des Sorgens«, wie es die österreichische Soziologin Brigitte Aulenbacher formuliert hat. Ethisch geleitete feministische Ökonomieansätze und care-politische Gegenbewegungen, die seit der Corona-Pandemie weltweit einen deutlichen Aufschwung erleben, befruchten sich wechselseitig. Sie stellen sich der zunehmenden renditeorientierten Vermarktlichung von Care-Leistungen im globalisierten Kapitalismus bzw. ihrer Re-Privatisierung immer lauter entgegen und suchen nach alternativen und gemeinschaftlichen Sorgearrangements.

Unter dem Titel „Transformationsprozess des Sorgens“ erschien der Beitrag zuerst in der September-Ausgabe (Schwerpunkt Wirtschafts-Ethik) von OXI. Wirtschaft anders denken sowie auf oxiblog.

Uta Meier-Gräwe
Prof. Dr. Uta Meier-Gräwe ist Soziologin und Ökonomin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Familien-, sozio-ökonomische Haushalts- und Geschlechtersoziologie, Armuts-, Zeit- und Dienstleistungsforschung. Sie ist Vorstandsmitglied im Verein „Wirtschaft ist Care“ e.V. Deutschland. Für den Ersten und Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung (2011–2017) war sie Mitglied in der Sachverständigenkommission .

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