Der 9. Dezember 2022 ist ein historisches Datum. Zum ersten Mal in der Geschichte der internationalen Gewerkschaftsbewegung wurde ihr höchster Vertreter, der Generalsekretär des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB), in Brüssel von der Polizei im Rahmen von Ermittlungen wegen Korruptionsverdachts verhaftet. Die Ermittler „verdächtigten einen (Golfstaat), die wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen des Europäischen Parlaments zu beeinflussen…., indem er einflussreichen Persönlichkeiten im Europäischen Parlament große Geldsummen zahlte oder ihnen große Geschenke machte.“ Luca Visentini, der im November neu gewählte Generalsekretär des IGB, wurde nach zwei Tagen aus der Haft entlassen, aber der moralische Schaden ist unvorstellbar groß: Medien in aller Welt berichten, dass der IGB-Generalsekretär zusammen mit anderen verdächtigt wird, an Korruptionsbemühungen einer repressiven Petro-Monarchie beteiligt gewesen zu sein, um europäische politische Entscheidungen zu beeinflussen und das Image eines Landes zu verbessern, das weder Vereinigungsfreiheit noch Meinungsfreiheit und andere Menschenrechte zulässt.
Wenn an diesen Anschuldigungen etwas dran ist, darf Luca Visentini keinen Tag länger im Amt bleiben. Oder aber – wenn sich dieser Verdacht als unbegründet erweist, handelt es sich um einen Justizskandal ersten Ranges. Eine schlampig ermittelnde Staatsanwaltschaft nimmt den Vertreter der größten Nichtregierungsorganisation der Welt zu Unrecht in Haft und fügt seinem persönlichen Ruf und dem der Organisation schweren Schaden zu.
„Derzeit kein Kommentar…“
In dieser Situation ist sowohl die Reaktion des IGB als auch von Luca Vinsentini persönlich nur schwer nachvollziehbar. Während das EU-Parlament und die griechische sozialdemokratische Partei Pasok sofort handelten, indem sie die stellvertretende Parlamentsvorsitzende ablösten, Funktionäre suspendierten bzw. Parteimitglieder ausschlossen, erscheint auf der Website des IGB eine eher kryptische Nachricht: „Der IGB hat Kenntnis von Medienberichten über Anschuldigungen, die Personen betreffen, die mit dem Europäischen Parlament in Verbindung gebracht werden. Der IGB hat derzeit keinen weiteren Kommentar zu diesem Thema.“
So reagiert eine Organisation auf die Verhaftung ihres Generalsekretärs!
Der IGB hätte stattdessen eine Erklärung abgeben können, um seinen Generalsekretär entschieden zu verteidigen. Zum Beispiel mit den Worten. ‚Wir haben keine Zweifel an der persönlichen Integrität unseres Generalsekretärs und fordern seine sofortige Freilassung.“
Am 13. Dezember wurde eine zweite Erklärung abgegeben, in der eine Anschuldigung zurückgewiesen wurde, die gar nicht gemacht wurde. „Zu keinem Zeitpunkt haben die Behörden angedeutet, dass gegen den IGB ermittelt wird oder er verdächtigt wird.“ Die Staatsanwaltschaft hat nie gesagt, dass sich die Ermittlungen gegen irgendeine Organisation richten. Aus den Medienberichten ergeben sich Korruptionsuntersuchungen gegen bestimmte Personen, zu denen auch Luca Visentini gehörte.
Luca Visentini selbst wird mit den Worten zitiert: „Ich bin froh, dass die Befragung abgeschlossen ist und ich in der Lage war alle Fragen vollständig zu beantworten. Sollten weitere Vorwürfe erhoben werden, freue ich mich darauf diese widerlegen zu können, da ich mir nichts vorzuwerfen habe.“
Es sei daran erinnert, dass er nicht als Zeuge befragt wurde, sondern als jemand, der im Rahmen einer Korruptionsermittlungen in Haft genommen worden war. Natürlich ist er bis zum Beweis des Gegenteils unschuldig, und während andere noch in Haft sind und angeklagt wurden, wurde Luca Visentini freigelassen und nicht angeklagt. Wie dem auch sei, im Sinne von Transparenz und Offenheit sollten Gewerkschafter:innen in aller Welt von ihrem Generalsekretär nicht vage Formulierungen hören, dass er sich darauf freue, die Anschuldigungen zu entkräften, sondern Klarheit darüber bekommen, was ihm vorgeworfen wurde und wie er es entkräftet hat. Wenn die Anschuldigungen völlig unbegründet sind, sollte eine Entschuldigung von der belgischen Staatsanwaltschaft verlangt werden und vor allem eine öffentliche Erklärung, dass die Inhaftierung eine ungerechtfertigte Maßnahme war und dass keinerlei Anschuldigungen gegen Luca bestehen.
Vorläufig hat Luca Visentini die einzig mögliche Entscheidung getroffen und lässt seine Funktion als Generalsekretär ruhen, bis die IGB Führungsgremien weitere Entscheidungen treffen.
Visentinis Lobreden über Katar
Abgesehen von den Ermittlungen gegen Luca Visentini stellt sich die Frage, warum es jemand für nötig hält, EU-Parlamentarier zu bestechen, um die Arbeitsrechtsreformen in Katar zu loben. Wenn man dem öffentliche Lob über die Verbesserungen der Arbeitnehmerrechte in Katar durch Luca Visentini und seine Vorgängerin Sharan Burrow Glauben schenkt, wären Abgeordnete des Europäischen Parlaments bestochen worden, um die Wahrheit über Katar zu sagen.
Während seines Besuchs in Katar im Oktober 2022 sagte Luca Visentini, dass noch mehr zur Umsetzung der Reformen getan werden müsse, aber Katar sollte als „eine Erfolgsgeschichte angesehen werden. […] Die Weltmeisterschaft war eine Gelegenheit, den Wandel zu beschleunigen, und diese Reformen können ein gutes Beispiel sein, das auf andere Länder, die große Sportereignisse ausrichten, übertragen werden kann“.
Sharan Burrow lobte die katarische Regierung in Interviews und in einem Video auf der Website des katarischen Arbeitsministeriums. Sie betonte, dass die katarische Regierung und der IGB „wertvolle Freunde“ geworden seien. Wer auch immer EU-Beamte oder Parlamentarier bestochen hat, war offensichtlich davon überzeugt, dass zusätzliche Anstrengungen erforderlich sind, damit andere diese eher unkritische Zustimmung der beiden Gewerkschaftsführer teilen.
95 % aller Arbeitskräfte in Katar sind Migranten, die keinerlei Bürgerrechte haben. Es gibt keine Vereinigungs- und Redefreiheit in Katar. Reicht es, dass die Situation der Migranten in Katar heute nicht mehr ganz so schlimm ist wie vor zehn Jahren, damit das Land schon ein gutes Beispiel ist, das auf andere Länder übertragen werden sollte?
Welche Motive stecken hinter dem Lob?
Die üblichen Verbündeten der internationalen Gewerkschaftsbewegung in Sachen Arbeitnehmerrechte wie Amnesty International oder Human Rights Watch, aber auch die Internationale Föderation der Bau- und Holzarbeiter sind weitaus vorsichtiger, was praktische Fortschritte in Katar angeht, als die alte und neue IGB-Führung.
Seit Jahrhunderten ist es ein Grundpfeiler der Gewerkschaftsbewegung, dass Rechte nur Realität werden, wenn die Arbeitnehmer das Recht haben, sich zu organisieren und sich kollektiv zu verteidigen. Für Katar scheint dagegen das Vertrauen in wohlwollende Gesetze und Entscheidungen eines autoritären Regimes hinreichend. Das überschwängliche Lob für Katar ignoriert völlig das Fehlen jeglichen rechtlichen Schutzes für Arbeitnehmer, die eine Gewerkschaft gründen wollen.
Über die Motivation für diese eher unkritische Befürwortung der Veränderungen in Kata, kann mensch nur spekulieren:
- Sharan Burrow und Luca Visentini glauben wirklich, dass es in Katar einen Umschwung gibt. Sie sehen dies als einen großen Erfolg der Arbeiterbewegung und ihrer Person. Sie sind stolz auf die Erfolge ihrer Kampagne und darauf, dass ihr Verhandlungsgeschick dazu beigetragen hat, diesen Wandel zu bewirken. Sie sind bereit, diese Fortschritte öffentlich zu verteidigen, und sind der Meinung, dass weitere Fortschritte am besten durch die Anerkennung und das Lob der Bemühungen der katarischen Regierung erreicht werden können.
- Sie sind so glücklich, mit am Verhandlungstisch zu sitzen und mit all diesen wichtigen Menschen zu sprechen, dass sie an ihre eigenen Erfolge glauben wollen. Sie wollen weiterhin an hochrangigen Treffen und Konsultationen teilnehmen und müssen daher glauben, dass sie auf dem richtigen Weg sind, Katar zu verändern. Ein solches (Wunsch-)Denken neigt dazu, das, was auf dem Papier steht, über zu bewerten und das massive Umsetzungsdefizit zu unterschätzen.
- Sie werden korrumpiert, indem sie Geld oder Geschenke erhalten oder durch verdeckte Formen der Korruption wie z. B. Einladungen zu hochkarätigen Konferenzen oder Sitze in Gremien, die von der katarischen Regierung finanziert werden usw.
Ein „wertvoller Freund“?
Was auch immer die Antwort ist, die Dinge müssen sich ändern, wenn der IGB seine Integrität zurückgewinnen und eine Organisation sein will, der die Wanderarbeitnehmer:innen in Katar und auch anderswo vertrauen. Ihre politischen Führer müssen über jeden Zweifel der Bestechlichkeit erhaben sein. Das wichtigste Kapital der Gewerkschaften ist ihre Integrität und moralische Glaubwürdigkeit. Die Gewerkschaftsbewegung muss jedoch auch eine kritische Bewertung vornehmen, wie es kommen konnte, dass ihre Führer diese Erklärungen über Katar abgegeben haben und niemand in der Organisation ihr Urteil in Frage gestellt hat. Die unkritische Preisung der katarischen Regierung nährt nun den Korruptionsverdacht. Aber was noch wichtiger ist, es ist ein politischer Fehler, denn es beschönigt ein Regime, das dem Recht der Arbeitnehmer, sich zu organisieren, feindlich gegenübersteht. Kann ein unterdrückerisches Regime wirklich ein „wertvoller Freund“ der Gewerkschaftsbewegung und eine „Erfolgsgeschichte“ sein?
Wichtige Positionen und Politiken, die von der IGB-Führung vertreten wurden, haben in der Vergangenheit oft zu wenig oder gar keine Debatte ausgelöst. Wenn die Aktion der belgischen Polizei zu einer gründlichen Debatte über die Gewerkschaftspolitik in Bezug auf autoritäre Regime und deren Unterdrückung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern befördert und die politische Rechenschaftspflicht der Gewerkschaftsführung gegenüber ihren Mitgliedern stärkt, wird die Katastrophe zumindest einige positive Veränderungen ausgelöst haben.
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