- Olaf „bitte gib mir ein Oh“
- Sucht nach Inszenierung, Sehnsucht nach Authentizität
- 100 Millionen Dollar, 100 Peitschenhiebe und andere Haarsträubereien
- Ein Leben im Licht von Warnlampen
Olaf „bitte gib mir ein Oh“
Textilfabriken produzieren unter anderem Kleidung, Verlage Bücher, Baufirmen Häuser. Was stellt die Politik her? Die Politik produziert Entscheidungen, die für alle Einwohner des Landes verbindlich sind.
Entscheidungen haben die Eigenschaft, dass sie so oder so oder auch anders ausfallen können. Wird eine politische Entscheidung getroffen, herrscht in der zivilisierten Welt die Erwartung und in der Demokratie die Verpflichtung, dass eine gute Begründung mitgeliefert wird; dass Argumente vorgetragen werden, warum diese Entscheidung in der gegenwärtigen Lage so getroffen wurde. Der amtierende deutsche Bundeskanzler unterschreitet zu oft das zivilisatorische Minimum, glänzt mit lautem Schweigen oder leeren Worten.
Ob die Ampelregierung in der Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine richtige oder falsche Entscheidungen trifft, lassen wir außer Acht. Die Sache und den Stil durcheinander zu werfen, ist zwar üblich, aber irreführend. In der Sache bleibt keine Regierungsentscheidung ohne Widerspruch. Das gehört zur Demokratie, dafür gibt es die Opposition und die kritische Öffentlichkeit. Stilfragen sind von anderer Qualität, im Stil drückt sich Kultur aus.
Der Kommunikationsstil sagt etwas aus über Achtung und Missachtung. Zeige mir, wie du mit mir redest, und ich weiß, was du von mir hältst. Scholz missachtet die Öffentlichkeit. Er hat einen Beruf gewählt, bei dem sich öffentliche Auftritte nicht vermeiden lassen und er hat es darin weit gebracht. Aber er will sich von der Öffentlichkeit – jenseits von Wahlkämpfen – möglichst wenig stören lassen. Olaf Scholz hat Karriere gemacht, allerdings im falschen Beruf, denn seine Auftritte drücken aus: Öffentlichkeit bringt mir nichts, sie behindert meine Amtsgeschäfte, ich habe einfach Wichtigeres zu tun und ich weiß es sowieso immer schon besser.
Man kann für ein solches Verhalten ein gewisses Verständnis aufbringen, wenn man sich vor Augen hält, wie in Boulevardmedien und in sozialen Netzwerken mit Politikerinnen und Politikern umgegangen wird.
Aber die Öffentlichkeit, das sind auch die Millionen Bürgerinnen und Bürger, die Anteil nehmen, die mitdenken, die sich engagieren, die verantwortungsbereit fragen, wie bessere Lösungen aussehen könnten. Was sollen sie von einem demokratisch gewählten Bundeskanzler halten, der mit den Bürgerinnen und Bürgern ganz offensichtlich nicht reden will; der aus öffentlichen Auftritten Raritäten und aus seinen öffentlichen Erklärungen häufig Luftnummern macht?
„Bitte, bitte gib mir nur ein Wort“ glaubt man die Band „Wir sind Helden“ singen zu hören, wenn sich Olaf mal wieder in trotziges Schweigen hüllt wie ein ungezogenes Kind, das von der Super-Nanny auf die stille Treppe geschickt wurde.
„Der Herr Bundeskanzler hat das Wort“ und wenn er es ergreift, flüchtet er in Floskeln wie „alle Optionen liegen auf dem Tisch“ und „wir machen das, was möglich ist“. Er kleidet seine Sätze in Schafspelze, damit die Lämmer, die alle vier Jahre wählen dürfen, nicht unruhig werden. Ach Schweigescholz, denkt man dann, hättest du doch weiter geschwiegen.
Der Amtsträger Scholz geht, unbestritten, mit Ausdauer und Fleiß seinen politischen Geschäften nach. Sobald die Türen zu sind, legt er los; in geschlossenen Gesellschaften schwingt er sich zum Wortführer auf. Im Licht der Öffentlichkeit wird er zur Sprechpuppe, die vorher aufgezogen werden muss, damit sie etwas abspult. Hin und wieder gelingt es Journalisten, in sein Sprachzentrum vorzudringen und ihm seine Argumente aus der Nase zu ziehen. Es ist ja nicht so, dass er keine hätte.
Hat ihm niemand gesagt, dass der Regierungsauftrag auch einen Informations- und Erklärungsauftrag beinhaltet? „Wer Führung bestellt, der kriegt sie auch“, brüstet er sich gerne. Aber Führung ohne Kommunikation ist wie ein Konzert der Berliner Philharmoniker ohne Instrumente.
Sucht nach Inszenierung, Sehnsucht nach Authentizität
Moderne Philosophie landet am Ende bei dem Urteil, dass Wahrheit die Erfindung eines Lügners sei. Der moderne Alltag ist hin und hergerissen zwischen der Sucht nach Inszenierung und der Sehnsucht nach Authentizität. Was Fakt und was Fake ist, was wahr und was gelogen, was inszeniert und was authentisch ist, wer wagt es zu entscheiden und wer will es überhaupt noch wissen? Welcher Information kann man trauen, was verschweigt die Präsentation, was verschleiert die Bilanz, wie frisiert ist der Lebenslauf? Schönheitsoperation oder doch nur Photoshop, was darf’s sein?
Dass es hinter den Kulissen anders aussieht als davor, dass es den Unterschied zwischen Vorderbühne und Hinterbühne gibt, sind jetzt nicht gerade big news. Die Modewelt und die Kosmetikindustrie, Dekoration und Design, Marketing, PR und Werbung, sie alle hatten schon lange vor der Digitalisierung nur das eine Ziel, schönen Schein so zu produzieren, dass ihn die Realitäten möglichst nicht blamieren. Die virtuelle Wirklichkeit der digitalisierten Kommunikation ist ein Paradies der Inszenierung, in dem Weihnachtsmänner und Osterhasen nur altertümliche Randfiguren sind.
Mit den Inszenierungen will BeReal aufräumen. Die französische App preist sich an als „die erste ungesteuerte Plattform, mit der ihr einmal am Tag authentische Momente in Form eines Fotos mit euren Freunden teilen könnt“. Sie profiliert sich als Alternative zu Instagram, Snapchat und anderen sozialen Netzwerken, die als Showrooms des Lebens alle einladen, sich so perfektioniert zu präsentieren, wie sie gerne gesehen werden möchten.
Bad Hair Day oder doch zu dick? Kein Problem, we got you … sagen die Apps mit ihren mannigfaltigen Filtern. Im Handumdrehen verwandeln wir uns alle in Models, die für ihre Follower und Fans topgestylt und hochmotiviert morgens aus dem Bett springen. Klar hab ich mein Leben im Griff – auf Social Media sowieso. Der schicke Maybach auf dem Foto, für zwei Stunden geleast.
Das selbstgekochte Abendessen im Kerzenlicht gepostet, der Lieferservice fährt gerade aus der Parklücke.
Die Literaturwissenschaft kennt für das, was hier passiert, die schöne Formulierung „the willing suspension of disbelieve“, die willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit. Alle ahnen die Inszenierung, aber sie willigen ein, sich auf die Illusion einzulassen, um dafür gut unterhalten zu werden.
Die App BeReal versucht, Aufmerksamkeit zu gewinnen, indem sie gegen den Strom schwimmt. Sie profiliert sich als Retterin der Realität und hat zur Zeit in Frankreich, Großbritannien und den USA einigen Erfolg damit. Einmal am Tag, und zwar irgendwann wie es der Zufallsgenerator will, haben die User die Möglichkeit, innerhalb von zwei Minuten ein Foto zu machen. Dabei funktioniert die Kamera von BeReal als Front- und als Backkamera gleichzeitig, sie macht nicht nur ein Selfie, sondern auch ein normales, nach vorne gerichtetes Foto. Wer ein solches Bild postet, kann dann auch die Bilder seiner Freunde anschauen.
Im Prinzip machen die Betreiber von BeReal genau dasselbe wie alle anderen. Sie erfinden einen Markt, legen die Regeln fest und versuchen sowohl Angebote anzulocken als auch die Nachfrage anzuheizen. Auf dem Geldmarkt kassiert die Bank, im Wettgeschäft gewinnen die Wettbüros und im Internet, der globalen Plattform für Märkte aller Art, kassieren die Marktbetreiber wie Amazon, Ebay oder soziale Netzwerke, die ihre Anbieter und ihre Konsumenten an die Werbeindustrie verkaufen.
Den digital natives, der sogenannten Generation Z, wird weisgemacht, dass sie sich selbst verwirklichen, indem sie sich anbieten und die Angebote der anderen konsumieren. Von welchem Selbst und von welcher Wirklichkeit bei dieser Selbstverwirklichung die Rede ist, weiß die Generation Z leider nicht; und auch sonst niemand.
„Scheiß auf Authentizität, ich will einfach nur ich selbst sein“, singt das Rapper Duo Fatoni & Dexter. Wie soll das gehen, wenn man, um Erfolg zu haben, auf jedem Markt eine andere beziehungsweise ein anderer sein muss und sich dabei nicht einmal mehr sicher sein kann, ob man nun eine oder ein anderer ist?
100 Millionen Dollar, 100 Peitschenhiebe und andere Haarsträubereien
Immer sonntags zwischen 11 und 12 Uhr sendet das deutschsprachigen Schweizer Radio seit mehr als dreißig Jahren das Kurz-Hörspiel „Die haarsträubenden Fälle des Philip Maloney “. Eine der Hauptfiguren der Kultsendung ist ein schusseliger Polizist, dessen Mantra lautet: „Die Welt ist aus den Fugen, Maloney!“ Womit er recht hat.
Reden wir über einige Wunderlichkeiten der Woche, sozusagen über haarsträubende Fälle, die den Seufzer „auch das noch“ auslösen.
In den sozialen Medien macht der Hashtag #ByeByeChanel die Runde. Aus Protest gegen den sanktionsbedingten Mangel an Luxuswaren zerschneiden russische Influencerinnen, mit Wohnsitz in Monaco, vor laufender Videokamera Chanel-Handtaschen mit Küchen- und Heckenscheren. Ihre Wut gilt Chanel, ihr Mitleid den Oligarchenfrauen. Mitgefühl für die Kriegsopfer in der Ukraine scheint bei ihnen Mangelware zu sein.
Über den Papiermangel, der nach Auskunft deutscher Krankenkassen einer allgemeinen Impfpflicht im Wege steht, haben sich schon viele hinreichend gewundert. Inzwischen ist klar, an Stimmen im Parlament mangelt es auch. Das alles lässt sich toppen. Popsänger Markus kann die FDP-Hymne weiter trällern: „Mein Maserati fährt 210. Schwupp, die Polizei hat’s nicht geseh’n. Ich will Spaß, ich geb Gas.“ Denn ein allgemeines Tempolimit auf deutschen Autobahnen wird nach Aussage des Bundesverkehrsministers schon an einem Mangel an Verkehrsschildern scheitern.
Mangel an Impfstoff scheint es in Sachsen nicht zu geben. Ein 60jähriger Mann hat die sächsische Impfquote wesentlich verbessert, indem er sich – nach dem bisherigen Stand der Ermittlungen – unter wechselnden Namen 87 Mal gegen Corona impfen ließ und die Impfpässe dann an Impfgegner verkaufte. Er hat die Massenimpfung offenbar gut vertragen. Das könnte doch eigentlich die ganzen Schwurbler und Verschwörungsgläubigen zu der Überlegung veranlassen, sich selbst impfen zu lassen und das Geld für gefälschte Impfpässe zu sparen.
Geld gespart haben Studierende aus Erlangen und Nürnberg. Ihr Semesterticket für den Öffentlichen Personennahverkehr, gültig für ein halbes Jahr, war vorübergehend mit 99 Prozent Rabatt zu bekommen. Für 2 Euro und 7 Cent haben Automaten der Deutschen Bundesbahn das 207 Euro teure Ticket ausgespuckt. Ist so etwas gemeint, wenn Computerexperten von künstlicher Intelligenz sprechen? Dann gerne mehr davon.
Nicht sparen müssen die Chefs der Impfstoff-Entwickler Biontech, Pfizer und Moderna. Während der beiden Pandemie-Jahre 2020 und 2021 kassierten die ruhmreichen Drei zusammen mehr als 100 Millionen US Dollar, weiß die Financial Times zu berichten.
Die Beschäftigten bei Amazon verdienen nicht ganz so gut. Der Online-Versandhändler ist berühmt sowohl für sein Ausbeutungs- als auch für sein Vertriebssystem. Nach Medienberichten feilt Amazon an einer Social-Media-App für die Belegschaft, einem internen sozialen Netzwerk, in dem sich Mitarbeiter – zur Verbesserung des Betriebsklimas – gegenseitig für besondere Leistungen im Sinne der Firma loben können. Automatisch gesperrt werden sollen für das Netzwerk Begriffe wie „Gewerkschaft“, „Gehaltserhöhung“ und „ungerecht“. Nicht bekannt ist, welche Strafe Verstöße nach sich ziehen werden.
Die Prügelstrafe gibt es noch am Austragungsort der diesjährigen Fußballweltmeisterschaft. Eine Mitarbeiterin des WM-Organisationskomitees zeigte in Katar eine Vergewaltigung an und stand anschließend unter Anklage wegen außerehelichen Geschlechtsverkehrs. Der Frau drohten 100 Peitschenhiebe und sieben Jahre Haft. Ein Gericht in Katar hat das Verfahren jetzt eingestellt.
Es reicht für diese Woche mit den haarsträubenden Fällen. Mein Namensvetter – der Joker – stellt im gleichnamigen Film die rhetorische Frage: „ Bilde ich mir das nur ein, oder wird die Welt immer verrückter?“ Das stimmt, mein Lieber, die Welt ist aus den Fugen – aber vielleicht war sie das schon immer.
Ein Leben im Licht von Warnlampen
Die Weltkulturerbe-Stadt Lwiw, früher Lemberg, ist seit langen Kriegswochen für Hunderttausende von Ukrainern ein Zufluchtsort, der letzte Vorposten rund 70 Kilometer vor der polnischen Grenze. Der Pianist Oleksii Karpenko spielte vor dem Bahnhof der Stadt für die Geflüchteten und spielte auch weiter, als Sirenen vor einem Bombenangriff warnten.
Der Wahnsinn des Krieges sensibilisiert manchmal für den Wahnwitz des Alltags. Warnungen prasseln auf uns herab wie Starkregen – meistens ohne dass wir beurteilen können, wie ernst sie genommen werden sollten.
Denn … irgendwer warnt immer: Der Automobilclub vor Staus, die Polizei vor Trickbetrügern, die Opposition vor den Plänen der Regierung, die Europäische Zentralbank vor noch mehr Inflation , die Bergwacht vor Lawinen, der Hautarzt vor der Sonne, die Kirche vor außerehelichem Geschlechtsverkehr, die Sekte vor dem Weltuntergang.
Während in der Ukraine die Sirenen heulen und vor russischen Bomben warnen, während ukrainische Politiker davor warnen, dass das Schicksal ihres Landes erst der Anfang einer drohenden europäischen Katastrophe sein könnte, merkt man plötzlich: Unser Alltag ist eine einzige Warnorgie.
Das kann kein Zufall sein. Es hängt direkt damit zusammen, dass unsere Gesellschaft aus guten Gründen eine Risikogesellschaft genannt wird. Die Warnung ist das Passepartout der Risikogesellschaft. Selbst die Beipackzettel der Medikamente, die doch helfen und heilen sollen, sind ellenlange Warnlisten.
Warnungen meinen es ja nur gut und versichern, dein Bestes zu wollen. Das trifft manchmal auch zu, aber tatsächlich ist die Warnung vor allem eine Verladestation für Verantwortung. Wer warnt, hat seine Schuldigkeit getan und kann seine Hände in Unschuld waschen. Alles Risiko liegt jetzt bei den Gewarnten. Sie müssen entscheiden, wie ernst sie die Warnung nehmen.
Wer warnt, hat immer recht. Bleibt der Schaden aus, ist es den Warnungen zu verdanken. Tritt der Schaden ein, sind die Gewarnten zu leichtsinnig gewesen.
Lieber lauter und früher warnen als zu leise und zu spät. Im Katastrophenfall schauen manche Politiker sorgenvoll in den Spiegel und fragen sich als erstes – nein, nicht was muss jetzt sofort für die Betroffenen getan werden, sondern: Wie kann ich sicherstellen, dass alle glauben, ich hätte rechtzeitig gewarnt, auch wenn ich stattdessen mit abgeschaltetem Handy selig gepennt habe.
Nicht immer werden wichtige Warnungen ernst genommen. Allzu oft wird der Bote für seine Botschaft bestraft. So wurde Brett Crozier, der Kapitän eines US Flugzeugträgers, seines Postens enthoben, als er es wagte, darauf hinzuweisen, dass sein Schiff innerhalb weniger Tage zu einem Corona-Hotspot werden könnte. Und dem chinesischen Arzt Li Wenliang wurden seine Hellsichtigkeit und sein Mut zum Verhängnis. Als er vor den fürchterlichen Folgen des Virus warnte, wurde er mundtot gemacht.
Die große Politik spielt Warnung im Kreisverkehr: China warnt die USA, die USA warnen Russland, , Russland warnt die EU, die EU warnt Russland und China und keiner findet eine Ausfahrt.
Am Ende bleiben eigentlich nur drei Möglichkeiten: In permanenter Alarmbereitschaft leben und sich verrückt machen. Sich an das kölsche Grundgesetz zu halten: Et kütt, wie et kütt und et hätt noch immer jot jejange. Oder sich dort, wo die Gefahr am größten scheint, für Rettung zu engagieren.