AUCH DAS NOCH! | Dezember 2021

  • „Wo die Liebe hinfällt, bleibt sie eben nicht einfach liegen“
  • I’m sexy, but I fake it – über Kamele und andere Schönheiten
  • Boris Johnson: „Ich glaube, es lief ziemlich gut“
  • Kulturkampf um Mohren und Möhren

„Wo die Liebe hinfällt, bleibt sie eben nicht einfach liegen“

Love is all around me. Werfen wir an Weihnachten, dem Fest der Liebe, einen Blick auf den öffentlichen Alltag der Liebe. Unsere Wahrnehmung, das ist bekannt, interessiert sich für die Veränderung, nicht für das Bleibende. Der Anfang und das Ende ziehen alle Aufmerksamkeit auf sich, dazwischen, das wusste schon Kurt Tucholsky , dominiert verbrühte Milch und Langeweile.

Die bunten Blätter arbeiten mit der vorgestanzten Überschrift „Liebesaus bei…“ – mit Leerraum zum Ausfüllen für den konkreten Fall. Sie versprechen die ganze Wahrheit: “Ihre Brüste sind Schuld am Liebesaus!” “Waren ihre Haare schuld am Liebesaus?” Oder es hat “einfach nicht funktioniert”. Heiß entflammt und eiskalt abserviert, wieder nichts mit der Liebe des Lebens, zum xten Mal nur die Affäre der Woche. „Hochzeit auf den ersten Blick“ und Trennung auf den zweiten. Die Bunte meldet, Lothar habe sich klammheimlich zum fünften Mal scheiden lassen, von Ex-Frau Anastasia. Sich scheiden lassen von der Ex-Frau, die Bunte wird schon wissen, wie das geht.

Trotz so viel prallen Lebens sind die bunten Blätter irgendwie von gestern. Sie wirken ähnlich zurückgeblieben wie Heiratsanzeigen. Mit der Digitalisierung entwickeln sich alle Märkte, auch die Kontakthöfe für bezahlte und unbezahlte Liebe, zu Weltmärkten mit unzähligen virtuell abrufbaren Angeboten. Auf Smartphones und Laptops präsentieren sich optimierte Fotos Kontaktsuchender mit gefakten Lebensläufen und geschönten Körpermaßen in Endlosschleifen. Darunter übrigens sehr viele bereits Verheiratete. Eine App wie Tinder liefert vor allem auch Trennungsgründe.

„Einfach mal den Marktwert testen, schauen, was so geht“, sagt einer. Erstmal geht wenig, das Schicksal der Normalos ist es, nach links gewischt zu werden. „Du kannst wischen, wischen, wischen, es kommen immer Leute nach. Es ist so furchtbar, aber es ist auch lustig“, sagt eine andere. Für „Online-Dating Tips and No Gos“ liefern Suchmaschinen Milliarden Treffer. Mit denselben Erfolgsrezepten für alle, soll jede und jeder zum Traumpartner werden. Gäbe es die eine Antwort, wäre das Spiel aus, bevor es begonnen hat.

Ein seltsames Spiel war es schon immer. Noch im 20. Jahrhundert war auf dem Land die Kirmes im Nachbardorf ein Hotspot der Brautschau. Heute hypen selbsternannte Singlebörsen-Experten Datingseiten wie zum Beispiel „Shop a Man“. Dieses Portal spricht weibliche Kunden an, die – O-Ton – „den passenden Mann zur neuen Handtasche suchen“. Hier können Frauen Männer in den Warenkorb legen und Männer sich auf die Einkaufsliste der Frau ihrer momentanen Wahl setzen lassen. Die Konsum- und Erlebnisgesellschaft macht vor nichts und niemandem halt. Hey, endlich Gleichberechtigung, wenn auch nur als Warenobjekt der Begierde.

In der modernen Wirtschaft streben alle nach Geld und entscheiden später, was sie damit machen wollen. In der modernen Liebe streben alle nach Sex, um danach zu überlegen, ob sie etwas miteinander zu tun haben wollen. Dank der Digitalisierung sind auch die Liebesbeziehungen auf der Höhe einer Zeit, die Mobilität zur Bedingung und Beschleunigung zur Tugend macht. Denkt immer daran, die nächste Lebensabschnittsliebe ist nur ein paar Swipes entfernt.

Oder wie es die Poetry Slammerin Jule Weber zusammenfasst: „Wo die Liebe hinfällt, bleibt sie eben nicht einfach liegen.“


I’m sexy, but I fake it – über Kamele und andere Schönheiten

Wettbewerbe scheinen eine Lieblingsbeschäftigung der Zweibeiner zu sein. Von der Musik über Wirtschaft und Sport bis zur Schönheit, eigentlich bleibt nichts verschont. Am Ende eines Wettbewerbs gibt es Sieger, die gefeiert, und Verlierer, die vergessen werden. Weil niemand verlieren, aber jeder gewinnen möchte, sind die Verlockungen des unlauteren Wettbewerbs groß. Das ist die allgemeine Ausgangslage, kommen wir zum besonderen Fall, einem Beauty-Contest für Kamele.

In Europa kennen wir Schönheitswettbewerbe für Hunde, Katzen, Kaninchen und Frauen, in arabischen Ländern gibt es auch Schönheitswettbewerbe für Kamele. So werden auf dem „König-Abdulaziz-Kamelfestival“ in Saudi-Arabien jedes Jahr nicht nur Akrobatikshows und Kamelrennen veranstaltet. Auch das schönste Kamel wird gekrönt. Das Preisgeld beträgt stolze 58 Millionen Euro.

Kamele haben vier Beine und einen Höcker oder auch zwei. Die größten Kamele, sagt der Volksmund, haben nur zwei Beine und keinen Höcker. Die Kamele scheinen im Arsenal billiger Witze die Blondinen unter den Tieren zu sein.

Die Zweibeiner fanden jahrzehntelang nichts dabei, bei Misswahlen Schönheit in Zentimetern zu messen. „Jede Frau träumt von 90-60-90“ lese ich noch heute auf helpster.de, der Ratgeber-Redaktion, die auch gleich noch Tipps für das Erreichen von Idealmaßen gibt. Der Geschäftsführer der Miss Germany Corporation betont dagegen, dass der Fokus nicht mehr auf körperlichen Merkmalen, sondern auf inspirierenden Persönlichkeiten und deren Geschichten läge. Ob er das wohl selbst glaubt? 

In Frankreich klagen gerade Feministinnen vor dem Arbeitsgericht gegen Miss-Wahlen. Miss France kann bis heute nur werden, wer unverheiratet, kinderlos und unter 25 ist. Die Klage hat Aussicht auf Erfolg: Das französische Arbeitsrecht verbietet es nämlich, Menschen aufgrund von „Moral, Alter, Familienstand oder körperlicher Erscheinung“ zu diskriminieren.

Bei den Vierbeinern wiederum heißt das Erfolgsrezept weiterhin Botox statt Persönlichkeit. Botox, von der modernen Schönheitsindustrie in zahlreichen Menschenversuchen erfolgreich getestet, wird jetzt auch für Kamele eingesetzt.

Weil Kamel-Besitzer beim guten Aussehen ihrer Tiere mit kosmetischen Eingriffen nachgeholfen haben, sind 43 Kamele von dem diesjährigen Schönheitswettbewerb in Saudi-Arabien ausgeschlossen worden, berichtet die staatliche Nachrichtenagentur. Den Tieren sei Botox gespritzt und die Haut gestrafft worden, um den „gängigen Schönheitsstandards“ zu entsprechen. Andere hätten Hormone bekommen, um ihr Muskelwachstum zu stärken. Einige Kamele traten mit aufgespritzten Lippen an oder hatten Gummibänder implantiert, um bestimmte Körperteile hervorzuheben. So seien wohlgeformte Höcker erzeugt worden – neben den schönsten Köpfen, Hälsen und einer makellosen Körperhaltung eine der Kategorien im Contest.

Offiziell dient die ganze Veranstaltung dazu, die unersetzliche Rolle der Kamele in der Beduinentradition ins Gedächtnis zu rufen und das Kulturerbe zu erhalten. Kamele sind übrigens die Tiere, auf denen die heiligen Drei Könige aus dem Morgenland mit Weihrauch, Gold und Myrrhe zu Christi Geburt angereist sind. Hier hätten aufgepolsterte Höcker und Anabolika wenigstens noch einen praktischen Nutzen gehabt.

Es gibt allerdings keinen Grund, im Protokoll Heiterkeit zu verzeichnen. Denn schaut man sich in der Tierwelt um, bleibt einem das Lachen im Hals stecken. Der Wahnsinn ist längst Methode. Die Zweibeiner machen mit den Tieren, was sie wollen. Als Qualzuchten kritisieren zum Beispiel Tierschützer beliebte Haustiere wie den Mops oder die Französische und Englische Bulldogge. Die Überzüchtung verursacht Atemprobleme, tränende Augen und Gelenkschädigungen. Die Käufer halten jedoch oft gezielt Ausschau nach diesen „glänzen Kulleraugen“ oder den „niedlichen“ Stummelbeinen.

Von Tierversuchen und Massentierhaltung ganz zu schweigen. Im Wettbewerb um den Geldbeutel der Verbraucher gibt es für Tiere keine Gnade. Die gemästete Weihnachtsgans im Backofen lässt grüßen. Frohes Fest.


Boris Johnson: „Ich glaube, es lief ziemlich gut“

„Liar, liar, pants on fire!“ die meisten englischsprachigen Kinder kennen diesen einfachen Reim und sagen ihn auf, wenn jemand bei einer Lüge erwischt wird. die Suche nach „Boris Johnson lügt“ auf diese Eingabe liefert Google gegenwärtig 453.000 Treffer aus. Auf englisch – Boris Johnson lies – bekommt man 29 Millionen 400.000 Treffer.

Nun ist es nicht so, dass die Briten nicht gewusst hätten, wenn sie da wählen, als sie Alexander Boris de Pfeffel Johnson, besser bekannt als BoJo, zum Amt des Premierministers verhalfen. Unter der Überschrift „Boris Johnson – Londons wilder Bürgermeister“ stellten Medien schon 2015 ein Worst-of skuriller Auftritte und Peinlichkeiten zusammen. Drei Jahre später las es sich so: „Johnson ist eine der kuriosesten Gestalten der britischen Politik. Der Tory-Politiker […] scheint Skandale und Pannen geradezu anzuziehen.“  

Die aktuelle Geschichte ist so recht aus dem Stoff, aus dem die Alpträume aller Menschen sind, die noch verzweifelt und blauäugig hoffen, dass das politisch Geschäft einen Rest Würde bewahren möge. Vor knapp einem Jahr war die Seuchen-Lage in London dramatisch, die Impfkampagnewar gerade erst angelaufen und an dem 18. Dezember 2021, um den es geht, meldeten die Behörden über 500 Corona-Tote . Im Amtssitz des Premierministers in Downing Street wird an diesem Tag offenbar eine ausgelassene Party mit Häppchen, Alkoholika und Gesellschaftsspielen gefeiert jenseits aller Pandemiebeschränkungen .

Ein aufgetauchtes Video scheint es zu belegen. Darin ist zu sehen, wie Johnsons Berater Ed Oldfield und seine damalige Sprecherin Allegra Stratton mehrere Tage nach der Feier in einer Probe für eine Pressekonferenz über die Antwort auf eine mögliche Frage nach einer solchen Party witzeln. „Bei dieser fiktionalen Party hat es sich um ein Geschäftstreffen gehandelt, und es gab keine sozialen Abstandsregeln“, sagt Stratton lachend. Der britische Gesundheitsminister cancelte nach der Veröffentlichung des Videos Interviews zum Thema „Ein Jahr Impfprogramm“; offenbar aus Angst, gegrillt zu werden.

Für die Witzeleien auf dem Band hat sich Boris Johnson zwar entschuldigt, aber er bleibt bei seiner Aussage, dass keine Party stattgefunden habe und keine Covidregeln gebrochen worden seien. Also in anderen Worten: I am sorry for the party… but … there was no party!

Ein bisschen erinnert die Situation an die berühmte Löffelszene aus dem Film Matrix:
Der Junge bietet Neo einen Löffel an mit den Worten:
„Versuche nicht, den Löffel zu biegen. Das ist nicht möglich. Stattdessen … versuche nur, die Wahrheit zu erkennen.
Neo: Welche Wahrheit?
Der Junge: Es gibt keinen Löffel.“

Boris Johnson und seine Regierung scheinen sich diese Weisheit zu Herzen genommen, allerdings falsch interpretiert haben: Versuche die Wahrheit zu erkennen, damit du sie besser verbiegen kannst.

Wenige Wochen vorher wurde über eine bizarre Ansprache Johnsons vor Wirtschaftsvertretern seines Landes berichtet. In dieser Rede versuchte er sich mit brumm-brumm-raaraa Geräuschen an der Nachahmung eines herkömmlichen Benzinmotors , schwärmte von einem Peppa-Wutz Freizeitpark und verstummte 20 Sekunden lang, weil er die passende Manuskriptseite nicht fand.

Nach seiner Rede wurde der Premierminister von einem Reporter zu seinem Auftritt befragt: »Sie haben während Ihres Vortrags Ihre Notizen verlegt, den Faden verloren, über Peppa Wutz gesprochen – ist bei Ihnen alles okay?« Johnsons Antwort: »Ich glaube, es lief ziemlich gut.«
Ob diese Antwort etwas mit dem Drogenproblem des britischen Parlaments zu tun hat, über das die Sunday Times unlängst berichtete? Ihren Recherche zufolge fanden sich in elf der zwölf Toilettenräume Kokainspuren. Ich weiß es nicht, aber ich habe einen Verdacht:

„Ich glaube, es lief ziemlich gut.“ Hier dürften wir dem Geheimnis der Politiker solchen Kalibers auf der Spur sein. Sie glauben immer, auch wenn um sie herum die Welt zu Grunde geht, dass es ziemlich gut lief, und überlassen es anderen, die Scherben aufzukehren.


Kulturkampf um Mohren und Möhren

Weltweit bereiten sich gerade Theaterbühnen auf den großen Kampf zwischen Nussknacker und Mausekönig vor, entstauben die Barthaare und schleifen die Degen für das Ereignis, das den halben Jahresetat einspielt.
Weltweit? Stimmt nicht ganz … in Berlin muss man dieses Jahr auf die traditionelle Ballett-Vorführung von E.T.A Hoffmanns Märchen „Nussknacker und Mausekönig“ verzichten. Die Inszenierung aus dem Jahre 1892, die 2013 mit einem siebenstelligen Etat neu herausgebracht wurde, kann so nicht mehr gezeigt werden, sagt das Berliner Staatsballett.

Womöglich ist der Nussknacker in veränderter Form bald wieder zu sehen. Dafür müsse das Ensemble jedoch erst Sonderveranstaltungen einberufen und Wissenschaftler zu Rate ziehen, um Diskriminierung und Rassismus künftig zu vermeiden. Denn die Aufregung entzündet sich an Blackfacing, einem chinesischen Tanz mit dem Stereotyp kleiner Trippelschrittchen sowie einem orientalischen Tanz, vorgeführt von Haremsdamen. Es gibt übrigens auch noch einen spanischen und einen russischen Tanz im Nussknacker, aber die sind offenbar nicht so das Problem.

Die Kunstwelt spaltet sich in Freund und Feind, Rächer und Rechthaber. Die einen regen sich darüber auf, dass hier Kolonialismus und Chauvinismus zum Ausdruck kommen. Die anderen sehen Cancelculture am Werk, den gesunden Menschenverstand in Gefahr und empören sich über – Zitat – „diese Säuberungsaktion“.

Um Sauberkeit, heile Welt und Ordnung geht es gerade auch in der Konsumwelt, aber nicht um Mohren, sondern um Möhren. Von Süd bis Nord hat Aldi, so der Vorwurf, „seine Chance zur Integration verpasst.“ Aldis Maskottchen für das Weihnachtsgeschäft sind Karotten. Kai, die Karotte, führt ein beschauliches Leben mit seiner Karotten-Frau Karla und den Karotten-Kindern Michel, Mia und Merle. Kurz gesagt, das traditionelle Bild einer glücklichen Familie mit einem Vater, einer Mutter und drei wohlerzogenen Kindern.

‚Morgen, Kinder, wird’s was geben, morgen werden wir uns freun‘, hat Aldi gehofft, stattdessen aber einen Shitstorm bekommen. So viel heile Welt zur heiligen Weihnachszeit, wie sie der Discounter anbietet, halten die Jungen und Hippen nicht aus. Wer hat in heutiger Zeit noch drei Kinder? Hierzulande weniger als zehn Prozent der Familien. Glückliche Ehe? Ehen können scheitern; um genau zu sein, in Deutschland derzeit 38% Prozent. Und heterosexuell sind auch nur 85 Prozent, die übrigen, fast jeder sechste, zählen zur queeren Bevölkerung.

Die Schlussfolgerung liegt für Spacig-Progressive auf der Hand: Die Möhren Kai und Karla diskriminieren Lesben und Schwule und das in einer Zeit, in einem Land, in dem jeder sein und jede ihr Geschlecht selbst bestimmen kann. Darüber empört sich wiederum die Facebookgruppe „AfD gegen Gender Mainstreaming“ und gibt zum Besten: „Deutschland 2022 unter der Ampel. Das Land, in dem jeder sein Geschlecht selbst bestimmen kann. Aber nicht seinen Impfstatus. Und wenn einen das wundert, ist man Aluhut. Oder gleich ‚Nazi‘.“

Vielleicht muss man einfach mal zur Kenntnis nehmen: Deutschland ist – völlig unabhängig von ethnischer Zuwanderung und Migrationsproblemen – zu einem Multikulti-Land geworden, in dem sich höchst unterschiedliche Milieus, Subkulturen und Szenetrends gegenüber stehen. Jetzt müssten wir nur noch lernen, das auszuhalten, statt uns gegenseitig für blöd zu halten.

Ob die Karottenfamilie am Ende die Scheidungsrate erhöhen wird und wie die selbstbestimmte sexuelle und politische Identität von Vater, Mutter und Kindern Karotte sich weiter entwickeln werden, schau wir mal, dann sehen wir schon.

bruchstücke