AUCH DAS NOCH! | Januar 2022

  • Einmal waschen, schneiden, Mozart bitte
  • Die große Rat-Schlägerei: Sind wir zu blöd zu allem?
  • Unwörter und Undinge: Zu Gast in Teufels Küche
  • Die Abenteuer des Tenniskönigs Djokovic
  • Alles wie immer, nur schlimmer – auf ins nächste Krisenjahr

Die Folgen von Auch das noch gibt es nicht nur sonntags als Podcast,
sondern auch in einer monatlichen Zusammenschau als Lesestücke.

Einmal waschen, schneiden, Mozart bitte

Ein Buchtitel der Musikkritikerin Eleonore Büning fragt: „Warum gehen Dirigenten so oft zum Friseur?“ Kürzlich gingen in Holland die Friseure zu den Dirigenten – auf besonderen Wunsch der Kulturbranche. Wie einst die Mühle am rauschenden Bach klapperte die Schere im lauschenden Saal. Seit mehr als 200 Jahren ist bekannt, dass Figaros gelegentlich in Operhäusern Hochzeit feiern. Dass Friseusen und Friseure in Konzertsälen ihrem Handwerk nachgehen, ist ein aktuelles kulturelles Highlight, bisher freilich nur als einmaliges Event und beschränkt auf die Niederlande.

Wir erleben seit Monaten die Quadratur des Kreises, nämlich den Versuch, in der Pandemie Regeln aufzustellen. Diese Verhaltensegeln sollenerstens gegen die Ausbreitung der Viren helfen und die Überlastung des Gesundheitssystems verhindern, zweitens das normale Leben in Familien, Betrieben, Schulen, Kultur und Freizeit möglichst wenig einschränken – und es dabei drittens auch noch allen recht machen.

Das kann eigentlich nur schiefgehen und es geht ja auch gründlich schief. Mehr Verständnislosigkeit, Verachtung und Realitätsverleugnung als in diesen Wochen ist lange nicht mehr in der Öffentlichkeit herumspaziert. Verantwortung zu verweigern, nennt sich jetzt Freiheit; zuerst an sich zu denken, heißt jetzt querdenken. Der Krisen-Karren steckt gründlich im Dreck, nicht nur in Deutschland, auch in den Niederlanden. Gewalttätigkeiten gegen Hilfs- und Einsatzkräfte, braune Brüller vor Privatwohnungen von Politikern haben mit Zivilcourage und demokratischem Engagement so viel zu tun wie ein Sonntagsspaziergang mit einem Gewaltmarsch.

Wie es auch anders geht, wie man kreativ und mit Charme protestieren kann, haben holländische Künstlerinnen und Künstler gezeigt. Unter der Überschrift „Friseursalon Theater“ verwandelten sie Kunst in eine „körpernahe Dienstleistung“. Haareschneiden im Konzertsaal, Föhnen auf den Brettern, die die Welt bedeuten, Färben zu Klängen der Klassik, das ist gut angekommen. Ein Museum in Limburg lud zum Yoga-Kurs ein, die Burg Loevestein bat zum Bootcampen und das Städtische Museum Arnheim wurde zum Fitness-Studio.In einem Amsterdamer Theater waren die 200 Friseur-Termine innerhalb weniger Minuten ausverkauft.

Holland befand sich seit Mitte Dezember in einem strengen Lockdown. Dann hatte die Regierung Erleichterungen für Unternehmen wie Friseure, Fitnessstudios und eine Reihe von Geschäften bekanntgegeben, während Museen, Theater, Kinos sowie Bars und Restaurants weiter geschlossen bleiben mussten. Dagegen richtete sich die Protestaktion der Künstler.

Diederik Ebbinge niederländischer Schauspieler, Komiker und Regisseur beschreibt die einmalige Aktion in der der Kleinen Komödie in Amsterdam. „Hier steht ein Friseurstuhl mit einem professionellen Friseur und hier vorne ein zweiter. Da werden die Kunden frisiert. Und im Saal warten die Leute, die ebenfalls einen Termin haben. Und mitten auf der Bühne steht ein Kabarettist, um die Kunden zu unterhalten. Hier ist Platz für 500 Menschen“, sagt Ebbinge, „wir belassen es aber bei 50, denn wir wollen uns an die Regeln halten.“

„Warum dürfen Geschäfte öffnen, aber der Kultursektor nicht“, fragt die Schauspielerin und Kabarettistin Sanne Wallis de Vries, die das Programm in der Kleinen Komödie mit organisierte. „Wir haben so einen Protest noch nie auf die Beine gestellt. Was wir jetzt machen, ist ein spielerischer Umgang mit den Corona-Regeln. Und es ist nur ein Tag, ein paar Stunden am Mittag. Viele Leute haben Lust darauf und unterstützen unsere Idee.“

Inzwischen hat sich die holländische Regierung weiter an der Quadratur des Kreises versucht. Das Land hat zwar erschreckende Inzidenzwerte, aber die allgemeine Stimmung und der künstlerische Protest sprachen trotz der massiven Omikron-Welle für die Wiedereröffnung auch der Konzertsäle und Theater. Haare ab, Vorhang auf, Musik an und alle Fragen offen.


Die große Rat-Schlägerei:
Sind wir zu blöd zu allem?

„Bin ich zu blöd zum Studieren?“, „Bin ich zu blöd für meinen Job?“, „Bin ich zu blöd für eine Beziehung?“ „Bin ich zu blöd, schwanger zu werden?“ Solche Fragen – und Antworten darauf – finden sich millionenfach im Internet.

Jedes Mal, wenn ich online unterwegs bin, habe ich das Gefühl, als Mängelexemplar in meinem Leben herumzuirren und kein Problem wirklich im Griff zu haben. Alles, was ich in den 24 Stunden des Tages mache, mache ich anscheinend falsch oder zumindest so suboptimal, dass ich es besser machen sollte.

Zum Beispiel Türklingelkameras. Die sind schnell installiert, aber, ist Ihnen eigentlich klar, dass Fehler beim Einbau teuer werden, weil die Technik oft mehr kann, als die Rechtslage erlaubt? Ich wusste das nicht. Mein Dank gilt hier der der Spiegel-Redaktion, die Experten befragt hat, worauf zu achten ist.
Oder war Ihnen bewusst, dass sich auf dem Markt akkubetriebener Handstaubsauger viel getan hat, und dass es kein teures Modell sein muss? Sehen Sie, schlecht informiert, suboptimales Marktverhalten, schon haben Sie wieder viel zu viel Geld ausgegeben für etwas, das sie deutlich billiger hätten haben können, oder bei Lichte besehen, gar nicht gebraucht hätten.
Tyler Durden, der Protagonist des Films „Fight Club“ bringt es auf den Punkt: „Von dem Geld, das wir nicht haben, kaufen wir Dinge, die wir nicht brauchen, um Leuten zu imponieren, die wir nicht mögen. “

Was uns auch direkt zum fehlerhaften, problematischen Menschen an und für sich führt. Gesünder essen, mehr Sport machen und mit dem Rauchen aufhören: Dazu sagt die Psychologin Paula Papst (der Name wurde von der bruchstücke-Redaktion geändert): Kann man alles schaffen. Man muss es sich nur zur Gewohnheit machen. – Das kann doch nicht so schwer sein, das schafft man doch, wenn man es wirklich will.

Oft weiß mein Wille aber gar nicht, was ich will. Besonders in Sachen Liebe. In der Liebe sind, außer bei Narzissten, immer mindestens zwei im Spiel, deshalb geht ständig etwas schief. Zeit-Online hat die Serie „Schlafzimmer-Blick“ (der Name wurde von der Bruchstücke-Redaktion nicht geändert). Das Schlafzimmer beginnt mit dem Dating. Beim Dating ins Leere zu laufen, sozusagen am Bett vorbei zu laufen, ist mit Ende 60 genauso frustrierend wie mit Mitte 20. Wie man es schafft, in jedem Alter bei sich und seinen Wünschen zu bleiben – die Schlafzimmer-Expertin flüstert es uns zu.

In der Liebe ist es schwer, im Beruf hat man es auch nicht leicht, auf dem Arbeitsmarkt sollte ich mich besser präsentieren, in der Freizeit sollte ich sowieso viel mehr machen. Das ganze Internet ist voll von Ratschlägen und Tipps, die aus allen Zumutungen, Schwierigkeiten und fatalen Lagen, aus jeder Krise und Katastrophe ein individuelles Problem machen. Die Dummen, die es nicht auf die Reihe bringen, sind immer du und ich.

Der kollektive Wahnsinn, immer mehr, immer schneller, immer höher, muss weiter gehen. Das geht am besten, wenn jeder Einzelne glaubt, noch ein Mängelwesen zu sein, mehr bringen, mehr arbeiten, mehr konsumieren zu müssen. Gerne hilft die Pharmaindustrie. Sie bestückt die Apotheken mit Medikamente wie Melatonin, Neurexan, Lasea und wir sind eingeladen zuzugreifen.

Die ganze Ratschlägerei hat das Online Portal der ZEIT auf ein akademisches Niveau gehoben. „Mehr Lebenskraft“, „Zuversicht“, „Gut entscheiden“, „wirkungsvoll kommunizieren“, „Optimismus im Business“, das und vieles mehr kann man in der Zeit-Akademie online lernen.

Grundsätzlich, das ahnten wir schon, entscheidet sich alles an der Sinnfrage: Warum stehen Sie morgens auf? Menschen, die für sich eine Antwort auf die Frage haben, wofür sie morgens aufstehen, sind zufriedener, stressresistenter und altern langsamer, weiß die Zeit-Akademie. Also ich weiß nicht, wie das mit Ihnen ist, aber ich stehe morgens auf auf der Suche nach einer Antwort, warum ich immer noch so blöd bin, morgens aufzustehen.


Unwörter und Undinge:
Zu Gast in Teufels Küche

Pushback ist zum Unwort des Jahres 2021 verurteilt worden. Das englische Wort, das in der deutschen Öffentlichkeit bisher in diesem Zusammenhang nicht weit verbreitet war, bezeichnet das harte Zurückdrängen von Geflüchteten an europäischen Grenzen.

Günter Burkhardt von der Geflüchtetenorganisation Pro Asyl findet deutliche Worte: „Es ist ein Alarmzeichen, dass an Europas Grenzen tausendfach Recht gebrochen wird, Menschen zurück in Boote geschickt werden, in Griechenland auf dem Meer ausgesetzt werden oder in Polen zurückgeprügelt werden, zurückgeschickt werden. Die Praktiken, die illegalen Handlungen sind vielfältig, die die Staaten begehen. […] Es muss ein Weckruf sein, damit die Praktiken aufhören, die dieses Wort kennzeichnen. Es ist ein Unwort, es ist eine Untat, es ist ein Verbrechen, und diese Verbrechen müssen aufhören.“

Was an den Zuständen falsch ist, sozusagen ein Unding ist, wird hier klar ausgedrückt. Aber was ist an dem Unwort falsch? Kann man einen Zustand bekämpfen, indem man das Wort verurteilt, das ihn bezeichnet? Mit dieser Frage landet man direkt in Teufels Küche. Das Verhältnis von Wort und Tat, von Sprache und Realität zu thematisieren, weckt alle wissenschaftlichen und politischen Streithähne. Ich versuche es trotzdem.

Was kann man wissen? Man kann wissen, dass mit der Sprache ein wunderbarer Fortschritt in die Welt kam. Dank der Sprache können Menschen sich, wo immer sie sind, über Abwesendes austauschen und über Abwesende herziehen.
Wie das möglich ist? Ganz einfach, indem wir Zeichen verwenden, die Dingen und Personen einen Namen geben. Sagt man Eisbär, haben alle, die Deutsch verstehen, einen Eisbären vor Augen, auch wenn weit und breit keiner in Sicht ist – vorausgesetzt natürlich, dieses Zeichen ist gebräuchlich und allen geläufig.
Was kann man noch wissen? Man kann wissen, dass mit der Sprache die Lüge in die Welt gekommen ist – und zusammen mit der Lüge die Wahrheit. Den Zeichen selbst ist es nicht anzusehen, ob da vielleicht gerade jemandem ein Bär aufgebunden wird. Wenn Sprache im Spiel ist, werden Glaubwürdigkeit und Vertrauen wichtig. Wem soll ich was glauben?

Sobald Zeichen die Erde überschwemmen, sobald viele Wörter in Gebrauch sind, droht ein großes Durcheinander. Es gibt Zeichen für Sachen und Personen, die nicht mehr oder noch nicht existieren. Andererseits existiert für so Vieles auf der Welt kein eigenes Wort, weil es nicht wichtig genug erscheint. Die allermeisten Tiere zum Beispiel haben – abseits ihrer Artenbezeichnung – keinen eigenen Namen. Erst als Haustiere werden sie zu Bella oder Bello.

Dass wir den Zeichen ihren Sinn erst geben müssen, dass die Bedeutung von Wörtern umstritten sein kann, das dürfte Jedem einleuchten. Aber das fundamentale Problem ist ein anderes: Auch den Tatsachen ist ihr Sinn nicht angeboren. Ihren Sinn bekommen sie erst von uns. Die Tatsachen sprechen nicht für sich selbst. Wer das trotzdem behauptet, möchte nur erreichen, dass seine Sicht auf die Welt die einzig richtige ist.

Wie viele unterschiedliche Bedeutungen man einer Tatsache wie der Corona-Pandemie geben kann, erleben wir gerade. Ist das Virus das Machtinstrument einer bösartigen Regierung? Ist die Seuche nur eine Erfindung oder maßlose Übertreibung der Pharmaindustrie und der öffentlich-rechtlichen Medien? Für die einen ist Impfpflicht ein Unwort, für andere der beste Weg, um möglichst viele Menschen vor Krankheit und Tod zu bewahren.

Kehren wir zu Pushback, zum Unwort des Jahres zurück, denn es wirft noch ein anderes Licht auf das Verhältnis von Sprache und Realität. Wörter mit einer positiven oder harmlosen Bedeutung lassen sich wie ein Zauberspruch über negative oder gefährliche Sachverhalte legen: Ein verbaler Schafspelz tarnt den realen Wolf.
Umgekehrt lassen sich mit anklagenden Worten Entscheidungen skandalisieren, für die es vielleicht gute Gründe gibt. Corona-Diktatur ist der aktuelle klassische Fall.

Es geht verdammt kompliziert zu in Teufels Küche. Die Sache mit den Wörtern und den Unwörtern verlangt und verdient unsere Aufmerksamkeit. Die Konflikte um Sinn und Bedeutung von Tatsachen müssen wir aushalten und austragen.

Am Ende hilft nur eins: selbst denken. Nichts ist für die Arbeit am Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge besser geeignet. Nicht gedankenlos nachplappern, sondern nachdenken. „Scharfes Denken ist schmerzhaft. Der vernünftige Mensch vermeidet es, wo er kann“, schreibt Bertolt Brecht in seinen „Flüchtlingsgesprächen“. Deshalb lasst uns bitte unvernünftig sein!


Die Abenteuer des Tenniskönigs Djokovic

Die Theaterleute wissen es am besten und sie sagen es so: Den König spielen immer die anderen. Ohne Huldigung und salbungsvolle Anrede, ohne Hofknicks und Hofschranzen kann auf der Bühne niemand als König oder Königin auftreten.
Für das öffentliche Theater, für die Bühne der Weltöffentlichkeit gilt das Gleiche. Ohne den Jubel und die Verehrung der Fans, ohne die Sponsorengelder der Wirtschaft, ohne die Aufmerksamkeit und Hofberichterstattung der Medien wird kein Star geboren.

Mit König Fußball als Hauptdarsteller reiht sich im deutschen Corona-Zirkus eine Sondervorstellung an die andere. „Corona-Schock im Liebesurlaub“ mussten die Fans lesen. Fußballstar Manuel Neuer, wird jetzt doch nicht mit einem Privatjet ausgeflogen, er muss seine Quarantäne im Ritz-Carlton auf den Malediven aussitzen. Der Arme…..

Da hat es der serbische Tennisstar Novak Djokovic mit der australischen Corona-Politik schon schwerer. Die anderen, in diesem Fall die australischen Behörden, haben plötzlich nicht mehr mitgespielt. Sie sind mit dem König des Centre Courts ein paar Stunden lang umgegangen wie mit dir und mir. Die große Aufregung ist verständlich, denn so etwas kommt immer seltener vor.

Die Bevölkerung ist heute ziemlich übersichtlich eingeteilt in VIPs und VOPs, in very important persons und very ordinary people. Oben die Prominenten und finanziell Potenten, unten die einfachen Leute. Die Ungleichheiten sind so krass, dass es kaum noch Situationen ohne Privilegien gibt, ohne Businessclass, VIP-Lounge, reservierte erste Reihe, Gated Communities, diese Luxus-Wohnsiedlungen für Superreiche, Fahrstühle für Führungskräfte und Sondereingänge für die happy few, vorbei am wartenden Fußvolk. Novak Djokovic, von null bis 24h gepampert von Heinzelmännchen und -mädchen, die jedes Sandkorn auf seinem Weg beseitigen, wird plötzlich wie ein normaler Mensch behandelt – und die Weltöffentlichkeit hält den Atem an.

Der arme Vater, der seinen Sohn vergöttert, macht sich zum Gespött. Der Präsident Serbiens wirft sich schützend vor seinen Weltstar und verspricht: „In Übereinstimmung mit allen Normen des internationalen Rechts wird Serbien für Novak Djokovic für Gerechtigkeit und Wahrheit kämpfen.“ – Das alles ist ein gefundenes Fressen für die Klickzahlen- und Quotenjunkies der Massenmedien.

Der weltbeste Tennisspieler und neunmalige Sieger der Australian Open ist ein Schwurbler, das war schon lange vor Corona bekannt. In der Pandemie hat er sich stets geweigert, seinen Impfstatus offen zu legen. Warum wohl? Ein Ex-Trainer spricht es aus: „Ich glaube, er macht einen großen Fehler, sich nicht impfen zu lassen.“

Der Tenniskönig sieht das anders: Stolz teilte er höchstselbst und als erster mit, dass er für das Tennisturnier eine Ausnahmegenehmigung erhalten hat und sich auf dem Weg nach Australien befindet.

Melbourne, die Gastgeberin der Australian Open, hat sechs Lockdowns hinter sich. Die australischen Grenzen waren von März 2020 bis Anfang November 2021 auch für die eigenen Staatsbürger geschlossen. Australierinnen und Australier, die im Ausland studierten oder arbeiteten, durften nicht mehr in die Heimat zurückkehren. Auf den Flughäfen haben sich vergangenen November herzzerreißende Szenen des Wiedersehens abgespielt,

Deshalb ist heute die Empörung in Australien groß. Eine Fernsehjournalistin nannte es „die patriotische Pflicht des Publikums, Djokovic pausenlos auszubuhen.» Egal, ob er am Ende ausgewiesen wird oder unter Pfiffen am Turnier teilnimmt, die Abenteuer des kleinen König Djokovic umfassen jetzt auch das Kapitel Majestätsbeleidigung.

Im alten Rom wusste man, quod lizet Jovi, non lizet bovi. Was Jupiter erlaubt ist, ist dem Ochsen noch lange nicht erlaubt. Die Wahrheit ist noch etwas härter: Kein Fußballgott, kein Tennisgott und auch sonst kein Gott, ohne das Rindvieh, das ihn dazu macht.


Alles wie immer, nur schlimmer –
auf ins nächste Krisenjahr

Die Legenden und Erzählungen der Insel- und Bergvölker, die Mythen der Urzeitmenschen, die Götter- und Heldensagen der Antike, der Kirchen-, Ketzer- und Hexenglauben des Mittelalters: Unter menschlichen Schädeldecken nichts Neues. In den Köpfen wirbeln witzige und wahnwitzige Vorstellungen, entstehen und vergehen bunte und prächtige, schreckliche, gruselige, ja gar höllische Bilder. Sollen wir uns vor diesem Hintergrund wirklich so sehr von dem Verschwörungsgeschwurbel der Coronakrise beeindrucken lassen?

Krisen laden zu Protesten ein. Die Vergangenheit ist uns verdächtig, die Gegenwart undurchsichtig, die Zukunft bedrohlich. Weil sich niemand richtig auskennt, bekommen diejenigen Zulauf, die verkünden, es ganz genau zu wissen. Sehnsucht nach Erlösung macht sich breit. Die Wege der Erlösung sind eigentlich stets die gleichen: Gebraucht werden die Bösen, die an allem schuld sind, und der Held, der die Guten aus dem Jammertal heraus führt.

Auf den Wegen der Erlösung wird gerne marschiert, inzwischen von ganz rechts bis ganz links unter den Fahnen des Friedens, der Freiheit und der Selbstbestimmung. Der katholische Kardinal Müller sieht und sagt es so: Die Pandemie werde benutzt, um – Zitat – „die Menschen jetzt gleichzuschalten, einer totalen Kontrolle zu unterziehen, einen Überwachungsstaat zu etablieren“. Eine gewisse Expertise lässt sich der Kirche nicht absprechen.

Protestanten sind in Deutschlands Städten gegenwärtig fast täglich unterwegs. Protest, das wollen wir nicht vergessen, ist eine demokratische Tugend. Dabei zu sein, dazu zu gehören – und trotzdem dagegen sein zu können und das auch deutlich sagen zu dürfen, das geht nur in einer Demokratie.
Mit allem, was sonst noch zu einer Demokratie gehört, und das ist eine ganze Menge, haben allerdings viele Corona-Protestanten wenig am Aluhut. Corona-Leugner, Impfgegner, Verschwörungsfanatiker, sogenannte Querdenker, Reichsbürger, freie Sachsen, QAnons, Nippies, eine Mischung aus Nazis und Hippies – sie alle fühlen sich von Feinden umzingelt, von Linken- und Grünen, von Flüchtlingen und von „Denen da oben“, von Moslems und Juden, von Bill Gates und bis vor kurzem von Angela Merkel.

Manche möchten zwei verlorene Weltkriege aus dem Geschichtsbuch streichen und zurück zu Glanz und Gloria des Deutschen Kaiserreichs. Wo übrigens 1874 die Impfpflicht gegen Pocken eingeführt und Gefängnis für Verweigerer angedroht wurde.  „Im Kaiserreich und auch noch in der Weimarer Republik“ berichten Historiker, „wurden Kinder mit Polizeigewalt zum Arzt geschleppt, um die Pockenimpfung durchzuführen.“

Auch wenn auf Demonstrationen und sogenanten Spaziergängen die Grenzen zwischen esoterischen Widerstandsträumern und blindwütigen Bewaffneten verschwimmen: Wer alle in einen Topf wirft, macht es sich zu einfach, macht es sich fast so einfach die Verschwörungsschwurbler.

Es fällt auf, dass ein Teil der Erwachten und Mobilisierten ein Engagement an den Tag legt, von dem eine Bürgergesellschaft eigentlich nur träumen könnte, wenn es kein Albtraum wäre. Das Jobportal Impffrei.work vermittelt freie Stellen für Ungeimpfte. Auf Websiten wie „Impffrei.kaufen“ und „Einkaufen ohne Impfung“ bieten Biohöfe, Naturläden, Imkereien und Weingüter ihre Produkte an. „Impffrei.love“ wirbt unter dem Motto „Lieber Händchen halten als Abstand halten“.

Im Grunde ist doch alles wie immer, nur schlimmer. Aber eigentlich fällt es gar nicht so schwer, mit den Irrungen und Wirrungen umzugehen. Als Erste-Hilfe-Paket bietet sich an:

  • Zero tolerance für Gewalttätigkeit. Wo immer Gewalt sich zeigt, haben Polizei und Gerichte schnell und hart durchzugreifen.
  • Don’t feed the trolls – Viel weniger öffentliche Aufmerksamkeit für rechtspopulistisches Spektakel.
  • Listen up! – Mehr private Aufmerksamkeit für das Verschwörungsgeschwurbel von Arbeitskollegen, Bekannten und Verwandten, nicht weghören, sondern widersprechen.
    In diesem Sinne – auf ins nächste Krisenjahr!
bruchstücke