AUCH DAS NOCH! | September 2021

  • Abgerechnet wird zum Schluss
  • “Du bist kein Pferd! Du bist keine Kuh!”

Abgerechnet wird zum Schluss

Ist das Wahlvolk eine schwankende Gestalt? An einem Tag, weiß es genau, was es will, ein paar Tage später weiß es nicht mehr ein noch aus. An einem Mittwoch verbreitet Spiegel-Online unter der Überschrift „Große Mehrheit hat Wahlentscheidung schon getroffen“ die Nachricht: „Rund zwei Wochen bis zur Wahl – und die meisten Menschen sind bereits sicher, wem sie ihre Stimme geben. Das zeigt eine SPIEGEL-Umfrage.“ Am Sonntagmorgen darauf meldet ZEIT-Online „Ein großer Teil der Wählerinnen und Wähler ist 14 Tage vor der Bundestagswahl laut Umfragen noch unentschlossen.“ Und das ZDF verkündet es am Abend prozentpunktgenau: „41 Prozent wissen noch nicht, wen sie wählen werden“.

Spiegel, Zeit und ZDF sind in der deutschen Medienlandschaft nicht Hinz und Kunz. Sie genießen den Ruf, nicht einfach vor sich hin zu plappern. Warum tun sie es trotzdem?

Kommunikation ist das Geschäft der Medien. Die nackte Tatsache, dass sie es einfach nicht wissen, wann sich welche Wähler:innen wie entscheiden, überschütten die Medien mit deml Meinungsgerümpel der Demoskopen, Experten und Kommentatoren – bis die Unwissenheit darunter verschwunden und vergessen ist.

Das große Powow und das lauteste Rhabarber-Rhabarber setzen immer dann ein, wenn keiner Bescheid weiß, aber alle es wissen möchten. Was niemand wissen kann, dazu kann jeder etwas sagen, zum Beispiel zum Ausgang der Bundestagswahl. Je näher der 26. September rückt, desto fleißiger lesen, hören und reden wir alle mit. Die Medien, die genau so wenig wissen wie du und ich, liefern uns die Stichwörter. So gibt ein Wort das andere und die ganzen hoch aufhäuften Buchstabenberge fallen am Wahlabend in sich zusammen.

Wie sich das aufbaut, haben Jugendliche der Freien Werkschule Meißen in einem Film über das Mädchen Barbara allegorisch erzählt. Barbara wohnt in einem kleinen Dorf und bäckt den besten Rhabarberkuchen. Sie wird als Rhabarber-Barbara bekannt und bald eröffnet sie die Rhabarber-Barbara-Bar. Zu ihren Stammkunden gehören drei Barbaren, die drei Rhabarber-Barbara-Bar-Barbaren. Sie lassen ihre prächtigen Bärte vom Barbier des Dorfes pflegen, dem Rhabarber-Barbara-Bar-Barbaren-Bart-Barbier.

So ähnlich sprießen in der Medienöffentlichkeit auch die BaerbockLaschetScholz-Spekulationen. Und sobald das Wahlergebnis bekannt ist, geht dann an der Rhabarber-Barbara-Bar die SchwarzRotGrünRotGelb-Koalitions-Kaffeesatzleserei los – um so mehr, je weniger man weiß, je offener der Ausgang ist. Nichtwissen ist die Wunderdroge der Kommunikation, Massenmedien neigen aus Geschäftsgründen zur Überdosis.


“Du bist kein Pferd! Du bist keine Kuh!”

Über manche Leute sagt man, sie hätten eine Pferdenatur, und meint damit, sie seien von besonders robuster Natur, sozusagen kaum umzubringen. In den USA, vor allem unter den rund vier Millionen Einwohnern des Bundesstaates Oklahoma, scheint ein Großversuch zu laufen, wie hoch die Quote der Pferdenaturen unter Zweibeinern ist.

Dass der Arzneistoff Ivermectin ein Wunderheilmittel gegen Covid 19 sein könnte, wird im Internet schon länger als ein Jahr diskutiert. Obwohl die medizinische Fachwelt dringend abrät und auf die Leute einredet wie auf einen kranken Gaul, lassen offenbar viele die Finger nicht davon. Die „Food and Drug Administration“ (FDA), die amerikanische Behörde für Lebens- und Arzneimittel (FDA) sah sich kürzlich genötigt, ihre Warnungen zuzuspitzen: „Du bist kein Pferd! Du bist keine Kuh! Ernsthaft, ihr alle: Hört auf damit! “ rief sie den Bürgerinnen und Bürgern auf Twitter zu.

Wie kommt man überhaupt auf so eine Idee?

Wer hierzulande über Coronaleugner, Aluhutträger und Verschwörungsfanatiker schon alles zu wissen glaubt, kann von amerikanischen Impfgegnern noch etwas lernen. Das Corona-Unheilmittel Ivermectin, bekannt vor allem als Pferdemedikament, das bei den Vierbeinern die Entwurmung fördert, soll in Teilen Oklahomas ausverkauft sein.

Ivermectin wird, in geringen Dosen, auch bei Menschen eingesetzt – aber der gemeine Mensch (und zwar nicht nur der amerikanische) handelt und lebt nach dem Motto „me first“ and „me most“, also ich zuerst und mir das meiste. Nach der Devise „viel hilft viel“ nehmen Zweibeiner mit besonders kleinen Köpfen die Dosis für Pferde mit den bekanntlich größeren Köpfen.

Die Folgen und Nebenwirkungen – Sehverlust, Übelkeit, Koma, insgesamt dieses Gefühl, ich glaub, mich tritt ein Pferd – tragen dazu bei, Krankenhausbetten mit Zweibeinern zu füllen. Das Wort Pferdnarr bekommt in Corona-Zeiten eine neue Bedeutung.

Ach und für alle, die jetzt trotzdem Hoffnung hegen sollten: auf der Homepage der Uni Würzburg ist – unter Berufung auf diese Fachpublikation – zu lesen: „Die aktuelle Evidenz rechtfertigt keine Verwendung von Ivermectin zur Behandlung oder Prävention von Covid-19.“

Man denkt, das sollte Warnung genug sein oder nicht? Naja, man hat bekanntlich auch schon Pferde vor der Apotheke kotzen sehen.

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