Überzeugt die Arbeit, welche die Medien in dieser einzigartigen Krise leisten? Wir fragten Norbert Schneider, Theologe und Publizist, einst langjähriger Medienmanager und Medienproduzent. Ein Gespräch über mediale Grundversorgung, Experten-Macht, Produktion von oberflächlichen Bildern, eine verhängnisvolle Aufsichts-Politik und die Pflicht zur Fortbildung, per E-Mail geführt von Wolfgang Storz.
Die Exekutive dominiert. Parlamente tagen nicht oder nur teilbesetzt und beschließen in Rekordzeit weitreichendste Maßnahmen. In diesen Zeiten kommt es besonders auf unabhängige Medien, auf selbstbewusste kritische Journalisten an. Konzentrieren wir uns erst auf die öffentlich-rechtlichen Medien: Was machen die jetzt gut?
Schneider: Sie sind omnipräsent. Sie sammeln, sichten und bewerten die relevanten Informationen, die das Publikum braucht für ein Urteil über den aktuellen Stand der Dinge. Sie leisten Grundversorgung, bei allen Schwächen, über die sicher noch zu reden sein wird. Sie sind, wie zuletzt immer in Notsituationen, das Leitmedium, dem weithin Vertrauen geschenkt wird. Das belegen auch die Quoten.
Wo versagen sie, liefern nicht, was sie Ihres Erachtens unbedingt liefern müssten?
Schneider: Es ist mehr von Hintergrund die Rede als davon zu sehen oder zu hören ist. Meistens ist es kaum mehr als die Oberfläche, die das Publikum zu sehen und zu hören bekommt. Es gibt einen Mangel an Rahmung. Es fehlt der Typ der embedded information: das heißt, die aufklärerische Einbettung einer Nachricht in wichtige Zusammenhänge. Beispiel: Die Information über eine Regierungsentscheidung wird verbunden mit Hinweisen, welche Interessen und Motive zu ihr führten, so dass bestmöglich jede und jeder in der Lage ist, sie für sich zu deuten und zu bewerten. Und es fehlt die Verknüpfung unterschiedlicher Betrachtungsweisen. Ein schon vor dieser Krise sichtbares Problem ist die Auslagerung der Expertise. Kein Fußball ohne Experte, kein Attentat ohne ihn, kein politisches Ereignis von Bedeutung, ohne dass es sofort ein Dritter deutet. Zumal in dieser Krise verlagert das Mediensystem, das ja als eine Art von „vierter Gewalt“ sich bewähren soll, ihre Verantwortung auf den Experten, der weithin, von kritischen Fragen unbelästigt, eher schon angestaunt, die Begriffe und die Themen setzt.
Und damit natürlich Macht ausübt. Zwar bringt die so entstehende „Expertokratie“ durchaus wichtige Einsichten, aber die werden bezahlt mit einem Verlust an Distanz zu den Akteuren des Geschehens. Kritik bleibt, wo es sie denn überhaupt gibt, gewissermaßen immer solidarisch. Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich erwarte kein Oberseminar in Virologie, Ökonomie oder Tourismus. Und genauso wenig erwarte ich Professoren im medialen Dauereinsatz, unter denen es ja nicht nur Wissende, sondern eben auch Besser-Wissende gibt. Der biblische Satz „alles ist eitel“ war nie eine Handlungsanweisung. Und weiter: Es sind zu oft nur die Zahlen, die zählen, und sie sollen als nackte Zahlen dann auch noch begründen. Auf diese Weise entsteht oft nur eine Oberfläche der Bilder. In der Summe mündet das in einen Verlust an journalistischer Autonomie. Vor allem die Talkshows, in der die Experten, oft nur die üblichen Verdächtigen sitzen und reden, handeln nach der Devise: es ist zwar alles schon gesagt, aber nicht von allen. So begegnet man einem Übermaß an Redundanz, der immer gleichen Handvoll Experten. Die Fragen gleichen sich wie ein Ei dem andern, auch die, von denen jedermann weiß, dass es auf sie keine Antwort gibt. Und dazwischen die Wiederholung von Bildsequenzen, die an die Stelle des Blicks in die Untiefen und Tiefen der Krise treten und schließlich den typischen déjà vu-Verdruss auslösen.
Wo liegen die Ursachen für die von Ihnen konstatierten Defizite? Liegt es an Strukturen, so dass Journalisten gar nicht so gut arbeiten können, wie sie müssten? Oder liegt das in vielen persönlichen Unzulänglichkeiten?
Schneider: Vor jeder Art von Kritik ist zu bedenken: Die Corona-Krise hat einzigartige Merkmale, mit denen umzugehen niemand üben konnte. Sie hat kein absehbares Ende. Sie kennt nicht den einen schlimmen Ort. Sie bietet, Kriegsmetapher hin oder her, kein Feindbild. Es gibt keine Bilder des Feindes, weil es keinen Feind gibt. Das Hauptproblem ist unsichtbar. Es ist eine Pandemie. Und noch etwas: Ich weiß nicht, ob die Redaktionen noch voll arbeitsfähig sind. Sie sind nicht immuner als andere. Dies alles bedenkend bleibt gleichwohl noch genug sowohl an selbstgemachter wie an fremdbestimmter Schwäche. Unter den Gründen vermute ich vor allem einen Mangel an Fortbildung. Es gab einmal eine „Zentrale Fortbildung Programm“, die Planspiele veranstaltet hat. Etwa über die Nachrichtensperre einer Bundesregierung im Kontext von Terrorismus.
Schneider: Gibt es diese Fortbildung immer noch? Ich sehe zweitens und ganz allgemein ein Defizit an Gelegenheiten zur Selbstreflexion. Eine so wichtige Plattform wie die „Mainzer Tage der Fernsehkritik“ ist vor Jahr und Tag über Nacht sang- und klanglos verschwunden. Nicht einmal der Beirat wurde darüber informiert. Die großen Medienforen in Düsseldorf und München haben unter einem permanenten Reformdruck aus den Kreisen der Politik an Bedeutung verloren. Journalistenschulen sind von der Schließung bedroht. Die Medienpublizistik wird kaputt gespart, weil sie sich am Markt nicht rechnet. Aber kann und muss sie das? Und ein Dauerthema zeigt wieder einmal seinen Januskopf: die politischen Experten sind auch die Kontrolleure des Rundfunks. Der „Parteienstaat“ (Gerhard Leibholz) realisiert sich auch in der Rundfunkaufsicht. Die Aufsicht kontrolliert die Kontrolleure. Ich erspare mir hierzu längere Ausführungen und verweise stellvertretend auf den Fall Koch. Ein Ministerpräsident hat damals eine Personalentscheidung des ZDF-Intendanten gekippt. Nikolaus Brender musste gehen, nur, weil er seinem Beruf nachgegangen war. Das Bundesverfassungsgericht hat dann zwar die Dominanz der Parteien in der Zusammensetzung der Gremien gerügt. Doch dann ist über trickreiche Veränderungen der alte Zustand rasch wieder hergestellt worden.
Ihr Kollege, der Kommunikationswissenschaftler Otfried Jarren, hat in einer national und international viel beachteten Analyse den öffentlich-rechtlichen Medien, vor allem dem NDR, vorgehalten, ihr Journalismus sei zu gleichförmig, es mangle an Vielfalt an Meinungen und Perspektiven. Es sei „ein geschlossenes Kommunikationssystem“ entstanden, in dem wenige Experten ihre Positionen vertreten könnten, Positionen, mit denen wiederum die wenigen Politiker ihre Entscheidungen begründeten. Stimmen Sie dem zu?
Schneider: In den ersten Wochen der Pandemie hat der öffentlich-rechtliche Rundfunk meine Erwartungen erfüllt. Doch dann ist nach und nach tatsächlich eine Engführung in der Perspektive entstanden, eine partiell symbiotische Situation, mit Blick auf die Experten nahezu ein closed shop. Und ihnen gegenüber kein böses Wort, selten ein irritiertes Rückfragen. Die Affirmation hat sich als journalistische Tugend verkleidet. Umso auffälliger im positiven Sinne sind die Reportagen speziell von Auslandskorrespondenten wie beispielsweise Johannes Hano und Ulf Röller. Ich muss freilich hinzufügen: das ist mein Eindruck, der naturgemäß nur einen Ausschnitt bewertet. Genaues wird man nach der Krise erforschen.
In einer Zuspitzung analysiert Jarren: Die Medien agierten nicht selbstständig, sondern seien faktisch Teil „eines Exekutiv-Experten-Systems“.
Schneider: Das ist gewiss um der Erkenntnis willen ein wenig überspitzt formuliert. Doch im Kern hat Jarren Recht. Zu oft „schaukeln die Glocken den Glöckner“ (Stanislaw Jerzy Lec). Und hinter dem Klang der Glocken verschwindet eine kritische Öffentlichkeit. Das mag für den Augenblick unvermeidlich sein. Aber auch dann müssen die Beteiligten sich darüber im Klaren sein, was da gerade geschieht. Und es bei nächster Gelegenheit korrigieren. Mich erinnert Manches an meine Kindheit auf dem Dorf unmittelbar nach dem Krieg, als es noch keine Zeitungen gab. Aber es gab den Büttel, einen Mann, der mit dem Fahrrad durch die Straßen fuhr, an bestimmten, festgelegten Punkten Halt machte, seine Glocke schwang, und dann seine Mitteilungen, die aus dem Rathaus kamen, mit lauter Stimme ausgerufen hat. Er war so etwas wie ein ambulantes Amtsblatt. Um ihn besser verstehen zu können, lief man zu ihm hin. So bildete sich um ihn immer eine kleine Menschentraube, die dann erfahren hat, was man als Bürger über den Fortgang der Dinge wissen musste. Man konnte den Büttel nichts fragen. Er war his masters voice. Der Master war der Bürgermeister. Es war — damals kaum anders möglich — was man heute Verlautbarungsjournalismus nennt und was manchmal auch heute offenbar eine Versuchung ist.
Wenn die staatliche Exekutive herrscht, was sich in Ausnahmezeiten wie diesen auf begrenzte Zeit wohl nicht vermeiden lässt, müssten nicht in diesen Zeiten alle Hoffnungen auf den privaten Medien ruhen? Eben weil, wie Sie gerade gesagt haben, die handelnden Politiker den öffentlich-rechtlichen Rundfunk beaufsichtigen.
Schneider: Ich habe vom Begriff des dualen Systems nie viel gehalten. Beide Arten von Rundfunk sind einfach zu verschieden. Die eine Art ist Gesellschaftsrundfunk, die andere ist zwar auch ein Rundfunk für die Gesellschaft — aber für die der Eigentümer.
Der Privatfunk akzentuiert auch eine Krise auf Grund seiner Zielvorstellung, der Publikumsmaximierung, also grundsätzlich anders als der öffentlich-rechtliche. Das muss man nicht kritisieren. Sonst müsste man ihn abschaffen. Aber auch er nimmt Teil an der Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe. Fernsehen machen heißt Macht haben. Und Macht muss man verantworten können. Vielleicht agiert der private Rundfunk sogar ein wenig freier von Einflüssen Dritter, weil ihn das politisch Erwünschte, das Gefällige nicht sonderlich bewegt. Er braucht möglichst viel Werbung und deshalb möglichst viel Publikum.
Sehen Sie Unterschiede in der Arbeit von Journalisten bei öffentlich-rechtlichen und privatwirtschaftlichen Medien? Können Sie Beispiele nennen?
Schneider: Die Systemdifferenz bedeutet nicht: unterschiedliche Standards! In beiden Arten von Rundfunk arbeiten die Journalisten nach denselben Kriterien. Auch wenn die Programmzeit für Informationen ziemlich unterschiedlich ist. Die Programmgrundsätze in den Landesmediengesetzen und Staatsverträgen gelten für alle. Eine Einrichtung wie die RTL-Journalistenschule, an deren Entstehung ich vor Jahren mitgewirkt habe, bildet so gut aus wie andere Journalistenschulen. Dass man dort auch lernt, wie man Quote macht, reicht für einen Vorwurf nicht aus.
Nun sind nach den Lehrbüchern des Journalismus die Ansprüche an öffentliche Kommunikation in demokratisch-liberalen Gesellschaften recht hoch: Vielfalt an Perspektiven, Überprüfbarkeit, Verständlichkeit, Unabhängigkeit und manches mehr. Kann es sein, dass diese Erwartungen einfach unerfüllbar sind — unter den gegebenen gesellschaftlichen Voraussetzungen und auch noch in einer Ausnahmezeit?
Einerseits steht das Einüben von Tugenden und das Beharren auf den „Unternehmenszielen“ in schwierigen Zeiten nie an oberster Stelle. Der Notstand begünstigt die Schnellen und ist nicht die Stunde derer, die Phantasie haben. Andererseits ist es gerade die Zeit, in der man unter dem Druck der Verhältnisse neue Formate probieren könnte. Not lehrt ja nicht nur Beten.
Was kann jetzt schnell getan werden, von den leitenden Journalisten selbst, von den Medienhäusern: damit die journalistische Arbeit deutlich mehr Vielfalt, mehr Transparenz, mehr Unabhängigkeit, mehr Kompetenz und weniger Einförmigkeit liefert?
Schneider: Ein paar Programmexperimente wären sicher eine Möglichkeit und ein Signal — ein oder zwei neue Formate, die über den täglichen Corona-Ticker etwa des ZDF-Heute Journals hinausreichen. Ich würde gerne einem Diskussionsforum zuschauen, das die längerfristig wichtigen Fragen kontinuierlich und kontrovers diskutiert, zwei Mal in der Woche, möglichst noch vor Mitternacht. Eine Art interdisziplinäres „Krisenquintett“ auf Zeit, in dem die Disziplinen sich gegenseitig ergänzen und korrigieren, zum Beispiel mit Gerhart Baum, Christian Drosten, Georg Mascolo, Heinz Bode und Manuela Schwesig. Moderiert von Thomas Bellut. Oder auch mit einer komplett anderen Besetzung. Eben mit Menschen, die die Verwerfungen einer Gesellschaft lesen und sie sich dann laut gegenseitig vorlesen können.
Es heißt bereits: Nach der akuten Krise muss unbedingt das Gesundheitssystem neu organisiert werden — und so weiter und so fort. Gibt es einen Punkt, wo Sie sagen: Ja, das muss nach dieser Krise im Mediensystem grundsätzlich geändert werden, damit der Journalismus in künftigen Ausnahmezeiten deutlich besser arbeiten kann.
Schneider: Noch einmal: ich setze da auf Fortbildung, die verpflichtend ist. Die etwas kosten darf. Ein lebenslanger Beruf wie der Journalismus braucht auch lebenslanges Lernen.
Professor Dr. Norbert Schneider (geb.1940) ist Theologe, war Medienmanager und Publizist. Nach seinem Studium arbeitete er in leitenden Positionen unter anderem beim Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik, beim Sender Freies Berlin, der Allianz-Film GmbH Berlin und als Direktor der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen. Diese Position hatte er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2010 inne. Zu der Entwicklung von Medien hat Schneider eine Vielzahl von Texten verfasst und Bücher herausgegeben. Er war Mitglied in zahlreichen Kommissionen und Beiräten.
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