Streit, Sauerstoff der politischen Kultur

Zum Wesen der Demokratie gehört die politische Auseinandersetzung. Und zwar über jedes Thema. Leider erwecken viele den Eindruck, dass lebhafter, leidenschaftlicher politischer Streit vor allem eines ist: lästiger Lärm. Beispielsweise wenn es um »den Ampel-Streit« geht. Dann wird in der medialen Berichterstattung so getan, als ginge geradezu Ungeheuerliches vor sich. Dass die Parteien hier etwas aushandeln, dass verschiedene Interessen und Standpunkte gegeneinander abgewogen und »erstritten« werden, dass unterschiedliche Bedürfnisse berücksichtigt werden, dass positive und negative Effekte politischer Entscheidungen antizipiert werden, das ist eine Binse. Auch, dass politische Streiterei mitunter eigensinnig, kurzsichtig und eitel ist. Partei-Lautsprecher (freilich auch -Innen…) tun nun einmal alles, dass der mediale Dauerlärm nie verstummt und jeder Sturm im politischen Wasserglas zum bedrohlichen Tsunami hochgejazzt wird. Das gehört zum Grund-Sound der Polit-Arena, wie die Dauerbeschallung im Supermarkt.

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Kein ökologisches Desaster wäre ein Wunder

Fritz B. Simon hat in rund 300 Fachartikeln und über 30 Büchern viele gute Texte geschrieben, gut im Sinne von analytisch stark, vergleichsweise verständlich, mit souveräner Distanz bei empathischer Nähe zum Thema. Jetzt liegt mit „Die kommenden Diktaturen“ ein Meisterstück an Klugheit und Klarheit vor; ein kleines ist man versucht zu sagen, denn es sind nur 82 Seiten, doch Qualität ist keine Frage der Seitenzahl. Hier antwortet ein gebildeter Mensch mit praktischen Erfahrungen, politischem Verstand und einem weiten wissenschaftlichen Horizont auf die klassischen Fragen, was ist der Fall, was steckt dahinter und wie könnte es weiter gehen.

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Die letzten Mohikaner des Realen geben auf

Foto: Elke Wetzig auf wikimedia commons

Kant weist der Publizistik die Aufgabe zu, zwischen Politik und Moral zu vermitteln. Im laufenden Kant-Jahr scheint es einmal angebracht, darüber nachzudenken, wie gut die publizierte Öffentlichkeit dieser Aufgabe nachkommt. Natürlich gibt es die publizierte Öffentlichkeit nicht, denn wir genießen doch eine Vielfalt politischer Meinungen. Genießen wir? In der Debatte um Migration erlebt der Medienkonsument ein Meinungsmonopol, an dem sich vor allem Die Grünen bislang die Zähne ausbissen. Wer sich asylrechtlichen wie moralischen Standards verpflichtet fühlt, erfährt kaum publizistische Unterstützung. Der grüne Bundesvorstand scheint nun daraus zu folgern, es sei klug, sich diese Unterstützung zu erschleichen, indem man, wie die anderen Parteien auch, auf solche Standards pfeift.  

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Für eine glaubhafte, wirksame Alternative

Es ist ein Gemeinplatz, dass eine Multikrise herrscht, die sich durch unberechenbare Folgen des Klimawandels, notwendige sozial-ökologisch-ökonomische Transformation und das parallel gestiegene politische Aggressionspotential unter dem Druck von rechtspopulistischen Parteien in westlich-kapitalistischen Gesellschaften noch verschärfte. Vor Jahren, genauer: 2009, starteten die IG-Metall und ver.di die Buchreihe “Jahrbuch Gute Arbeit“, die mittlerweile eingestellt wurde. Jetzt erschien der Band „Gute Arbeit gegen Rechts“. Er beruht auf der Kooperation eines Teams um Hans-Jürgen Urban vom IG-Metall-Vorstand (mit Dirk Neumann, Klaus Pickshaus und Jürgen Reusch). Dieses Team bemüht sich um die Formulierung einer “Arbeitspolitik“, die gewerkschaftliche mit wissenschaftlicher Politik und betrieblicher Praxis zur „Stärkung der Demokratie“ verbindet, wie Christiane Benner, die Vorsitzende der IG-Metall, in ihrem Geleitwort schreibt.

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“Es ist zu spät für ein Verbot der AfD”

Brandmauer? “Schon das Sprachbild ist misslungen.”
(Foto: Ronny Ueckermann auf wikimedia commons)

Viel zu lange wurde die AfD nicht ernst genommen als eine politische Kraft, die systematisch und durchdacht eine Strategie betreibt, die Grundlagen der parlamentarischen Demokratie zu zerstören, sagt der Sozialforscher Horst Kahrs im Interview mit Wolfgang Storz. Das gewachsene faschistische Milieu lasse sich nicht einfach wieder klein kriegen, schon gar nicht mit einem Parteiverbot, argumentiert Kahrs, aber man könne es politisch kleiner machen. Dafür müssten die demokratischen Parteien aufhören, der AfD und deren Themen hinterherzulaufen, und stattdessen die sozialen und ökologischen Probleme entschieden, für jedermann erkennbar anpacken.

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“Simples Aufholen” immer unwahrscheinlicher

Wächst wirklich zusammen, was zusammengehört, wie einst Altkanzler Willy Brandt nach dem Mauerfall hoffte? Der Soziologe Steffen Mau widerspricht, Ostdeutschland bleibe auf Dauer anders. Nach der Europawahl im Juni zeigte die Landkarte ein eindeutiges Bild: Nahezu vollständig blau eingefärbt war das Gebiet der ehemaligen DDR, Gewinner der Wahlkreise fast immer die AfD. CDU-dominiert mit vereinzelten grünen und roten Punkten in Groß- und Universitätsstädten präsentierte sich dagegen die alte Bundesrepublik. “Ungleich vereint” lautet die Diagnose des an der Berliner Humboldt-Universität lehrenden Autors.

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“Finanzielle Verflechtungen zwischen Staat und Kirchen kappen”

Karikatur aus Bayern: Mönche und Nonnen treten im Zuge der deutschen Säkularisierung von 1802/03 ihr Eigentum an den bayerischen Kurfürsten ab (Bild, 1803: Unbekannt auf wikimedia commons)

Für Jahrhunderte zurückliegende Enteignungen erhalten die Kirchen noch immer Entschädigungen vom Staat in Millionenhöhe. Die Ampel-Regierung will das beenden – gegen den Widerstand der Länder und der CDU. Wenn man Menschen – ganz gleich, ob gläubig oder ungläubig – versucht, die sogenannten „Staatsleistungen“ an die Kirchen zu erklären, trifft man auf Kopfschütteln. Kaum jemand weiß davon. Es geht dabei nicht um staatliche Zahlungen, etwa für den Betrieb von Kindergärten, Krankenhäusern, Pflege- und Seniorenheimen, die ohnehin fast vollständig von öffentlichen Haushalten (also von allen Steuerzahlen) an Caritas oder Diakonie geleistet werden. Nein, die Kirchen bekommen das Geld als – salopp formuliert – „Ausgleichzahlungen“ aufgrund der Säkularisation Anfang des 19. Jahrhunderts.

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Rente: Eine gewisse Ratlosigkeit ist verständlich

Bild: wir_sind_klein auf Pixabay

In der Ampel wird über ein Programm zur Sicherung der Renten gestritten. Der Streit hat eine Wucht, dass er der Ampel eine Trennungssituation bescheren kann. Kann – nicht muss. Es geht um Leistungen für aktuell rund 21 Millionen (bis Mitte der dreißiger Jahre werden fünf Millionen hinzukommen) Rentnerinnen und Rentner. Wendet sich nur ein Teil dieser riesigen Zahl von CDU/CSU einerseits und von den Sozialdemokraten andererseits ab, brauchen die, salopp geschrieben, zur Bundestagswahl im September 2025 nicht mehr anzutreten. Was läuft also da gegenwärtig und woher kommt das?

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Pragmatische Kommunen, panische Debatten

Boris Kühn ist wissenschaftlicher Leiter des Projekts GENIUS in der Forschungsgruppe Migrationspolitik an der Universität Hildesheim. Gemeinsam mit dem Mediendienst Integration hat er knapp 800 Kommunen zum Stand der Flüchtlingsaufnahme befragt. Zu den Befunden gehört, dass der Anteil an Kommunen, die sich bei der Unterbringung von Migrant:innen überfordert sehen, “im Osten deutlich geringer ist als im Westen. Wir gehen davon aus, dass das im Wesentlichen auf einen entspannteren Wohnungsmarkt zurückzuführen ist.” Im Interview mit Wolfgang Storz erläutert Kühn seine Forschungsergebnisse. Er sieht viel kommunalpolitische Pragmatik, wenig von der massenmedialen Panik.

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Klimapolitische Leitgedanken

Im November 2022 veröffentlichten das Bundeskanzleramt und das Bundesministerium der JustizEmpfehlungen zur Stärkung der Verbindlichkeit der Nachhaltigkeitsziele bei der Erstellung von Gesetzen und Verordnungen”. Darin werden alle Ressorts aufgefordert, “die globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) und Ziele sowie Prinzipien der Deutschen Nachhaltigkeitsstra-
tegie (DNS) von Beginn an bei allen Prozessschritten der Konzeption und Ausarbeitung von Gesetzen und Verordnungen einzubeziehen”. Vor diesem Hintergrund und zugleich darüber hinaus weisend sind die folgenden “Sechs klimapolitischen Leitgedanken” zu sehen und zu verstehen.

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Ein unbeliebter Staatspräsident und eine Regierung auf tönernen Füßen

Michel Barnier (Foto: J.M Executive auf wikimedia)

Seit zwei Monaten geistert in unserem Nachbarland Frankreich ein Wort durch die Politik, die Medien, die gesamte Gesellschaft: „inédit/inédite“ heißt es und meint „etwas ganz und gar Neues“. Noch nie hat es in der V. Republik seit 1958 einen derartigen Stillstand in der Politik gegeben: Wochenlang blieb die Regierung des Gabriel Attal nur „geschäftsführend“ im Amt. Der Haushalt für das kommende Jahr wird der neu gewählten Nationalversammlung im Palais Bourbon nicht zum 1. Oktober vorgelegt werden, wie es die Verfassung vorschreibt, sondern eine Woche später. Einen Premierminister ernannte Staatspräsident Emmanuel Macron nach wochenlangem Zögern und einem demütigenden Schaulaufen mehrerer Kandidatinnen und Kandidaten schließlich am 5. September: Seine Wahl fiel auf den 73jährigen Michel Barnier, der noch vor drei Jahren mit markigen rechten Sprüchen selbst Staatspräsident werden wollte.

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Entscheidbare Fragen sind trivial, unentscheidbare machen frei

Intellegere – entscheidende Intelligenz
links: Fons, zeichnet einen Kreis mit geschlossenen Augen |
rechts: KI, zeichnet einen Kreis mit geschlossenen Augen (Bild: © Fons Hickmann)

Es fällt auf, dass es zum Substantiv Intelligenz in unserem Sprachgebrauch kein Verb gibt. Zweifellos ist damit eine Fähigkeit gemeint, die zunächst keine Hinweise auf die Intelligenz erzeugenden Handlungen gibt. Bei der Suche nach einem geeigneten Tätigkeitswort, das intelligentes Handeln kennzeichnen könnte, stoße ich auf eine ursprüngliche Bedeutung in der Philosophie der römischen Klassik: „Das Verb »intellegere« (inter-legere) bezeichnete die konkrete Handlung des Aussortierens.“ (Pastore 2010: 1120) Um etwas auszusortieren, braucht es zunächst Unterscheidungsvermögen, um die Zahl der Optionen zu vergrößern. Viele Auswahloptionen lassen auf einen kreativen Prozess der Kriterienfindung schließen und umgekehrt. Im anschließenden Entscheidungsprozess entscheiden wir uns dann zwar »für« eine Option, „aber sowohl im englischen »decision«, ebenso im Spanischen, Italienischen und Französischen, als auch im deutschen Wort Entscheidung liegt der Akzent hingegen auf Scheidung und Trennung“ (Arlt, Schulz 2019: VIII) und damit auf dem Aussortieren.

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Wir schaffen das

Der heutige “Tag des Flüchtlings“ im Rahmen der interkulturellen Woche 2024 ist ein bitterer Tag für Flüchtlinge im Land und für die Asylbewerber an dessen Grenzen. Wir haben mittlerweile ein Klima, in dem sie alle in der Gefahr schweben, als mögliche Gefährder, Gewalttäter und Terroristen angesehen zu werden. Der Tag ist auch bitter für Deutschland insgesamt, weil Abschottung und Ausgrenzung an Stelle einer humanen Asyl- und Flüchtlingspolitik Überhand zu gewinnen drohen. Sicher auch deshalb, weil wir zu lange nicht darüber gesprochen haben, dass unsere Aufnahmebereitschaft auch Probleme schafft und viele Menschen überfordert.

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In der Garantieklausel liegt die Wahrheit

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj pumpt Hoffnung in die wie verstopft erscheinenden Gespräche über eine festgefahrene Kriegslage. Er legt einen Friedensplan vor. Es ist nicht der erste Plan, den er präsentiert. Heute will er mit dem US-amerikanischen Präsidenten reden, anschließend werden wir lesen und hören können, was dem ukrainischen Politiker vorschwebt. Alles hängt daran, wie der russische Präsident reagiert. Reagieren wird. An dessen Absicht, die Ukraine als souveränen Staat auszulöschen und stattdessen dem Land eine wie auch immer geartete Vasallen- Position zu verordnen, vergleichbar vielleicht der Belarus´, hat sich ja nichts geändert. Aber von dieser Absicht müsste Putin runter.
Manchmal muss man, so schwierig das auch sein mag, solche Situationen vom – möglichen – Ende her betrachten. Denn erst am Ende kommt das, was wir den Augenblick der Wahrheit nennen. Der ist dann da, wenn es darum geht, der Ukraine, dem Land, den Menschen, den ukrainischen Existenzen, Sicherheit vor einem erneuten russischen Angriff zu geben. Eine erneute Vereinbarung, die der von Minsk I und II folgen würde, ergibt keinen Sinn. Die hat sich nicht bewährt. Eine neue Vereinbarung müsste weitere Staaten als Signatarmächte haben: die USA, die Volksrepublik China, die Türkei, Staaten der südlichen Halbkugel der Erde, sowie mehrere westeuropäische Staaten. Was wären alle diese Staaten bereit, real zu garantieren? Sicherheitsgarantien hätten für die Ukraine nur dann Sinn, wenn all diese Staaten zusammenstünden, um ohne Hintertürchen Schutz vor einem erneuten Angriff zuzusichern. Sicherheit zu garantieren, die der Sicherheit durch erprobte Beistandsmodelle gleichkäme. Solche Modelle sind ziemlich rar. Das beste bestehende steckt in der NATO. In der Garantieklausel steckt die Wahrheit.  
Wie weit wir hier in der Bundesrepublik von der Realität weg sind, offenbarte – vielleicht unfreiwillig und ohne Arg, aber aufschlussreich – der Spitzenmann des BSW in Brandenburg, Robert Crumbach. Die FAZ übermittelte dessen Vorstellung zur Friedenslösung in der Ukraine im Wortlaut: „Um den Krieg dort zu beenden, könne er sich eine diplomatische Delegation vorstellen, an der auch Brandenburger beteiligt sein könnten. Als solche Friedensverhandler schlug er aber nicht sich selbst, sondern eigene Bekannte vor, die in Russland tätig gewesen seien.

Potsdamer Allerlei 2

Phoenix aus der Asche (Foto: Jonathan Wilson auf wikimedia commons)

Nach den Landtagswahlen in Brandenburg gibt es aus der bruchstücke-Küche zweierlei Potsdamer Allerlei. Acht Kurz-Kommentare, verteilt auf zwei Tage, registrieren, analysieren und interpretieren, versuchen sich an Nahaufnahmen, Überblicken und Vorausschauen.
Heute in der Reihenfolge Fabian Arlt „Reichlich Asche, wer sieht den Phoenix?“, Klaus Lang „Die FDP soll ernst machen: Neuwahlen jetzt“, Klaus West „Das Me-first-Klima nicht mehr bedienen“ und Hans-Jürgen Arlt „Empörte Opfer oder Faschismus, eine moderne Konstante“.
Gestern waren es Wolfgang Storz „Meine Lieblingsthese, ein Rohrkrepierer“, Klaus West “Blankoscheck für eine Selbstinszenierung”, Thomas Weber „Jetzt kann die SPD die Ampel auch platzen lassen“ und Horand Knaup “Zu kitten ist da nichts mehr”.

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bruchstücke