Europa unter Druck, Deutschland ohne Kompass am Scheideweg

© Federal Election Commission/Christof Leisinger auf infosperber

Es ist dies ein Tag, der Gänsehaut macht, der einen schaudern und schauern lässt – weil man mit diesem Mann nicht in einem Bündnis sein will, weil man nicht glauben möchte, dass so einer ein Anführer einer Welt sein kann, die man früher „die freie Welt“ nannte.
[prantls-blick@newsletter.sueddeutsche.de]

Die heiße Wahlkampfphase hat begonnen. Alle Parteien haben ihre Wahlprogramme beschlossen, ihre Positionen konkretisiert und zugespitzt, ihre Spitzen- oder Kanzlerkandidaten:innen nominiert. Die Zeit für den Wahlkampf ist kurz, aber gerahmt von internationalen Ereignissen, die seinen Verlauf und sein Ergebnis entscheidend beeinflussen können. In der Nacht zum 24. Februar werden Sieger und Verlierer feststehen, aber keine neue Regierung. Einige Skizzen des Denk- und Machbaren angesichts der sichtbaren blau-braunen Überholmanöver.

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Comeback für das milliardenteure Abenteuer Atomkraft?

Bild: Elionas auf Pixabay

Atomkraftwerke: Sie sind unfassbar teuer, belasten mit ihrem Müll Generationen und sind dankbare Ziele für Terroristen und Militärs. Trotzdem wird weiterhin, nicht nur in Deutschland, an einer Renaissance gebastelt. Die Lobbyisten haben zwei Ziele im Blick: die Wiederinbetriebnahme bereits abgeschalteter Atomkraftwerke und die Entwicklung neuer Kraftwerks-Generationen, Kleinreaktoren und Fusionsmaschinen. Mit diesen Zielen haben sie es in die Wahlprogramme von CDU/CSU, AfD und FDP geschafft. In atompolitischer Hinsicht ist die Übereinstimmung der vier Parteien komplett. Bei beiden Zielen lohnt ein Blick ins Nachbarland Frankreich, der europäischen Atommacht.

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Von der Personalisierung zur Verschwörung – ein Katzensprung

Foto: Cherubino auf wikimedia commons

Klaus West [„Alter und neuer Glaube an große Männer“] und Wolfgang Storz [„Verfluchte Personalisierung?“] sind sich nicht einig, was von Personalisierung zu halten sei. Ist sie problematisch, irgendwie irreführend oder vorteilhaft, sogar nützlich? Keine Gedanken machen sie sich darüber, woher sie kommt. Weshalb sollten sie auch! Seit der Glaube an übermenschliche und überirdische Kräfte weitgehend abhanden gekommen ist, werden Ereignisse ebenso wie ihr Ausbleiben mit größter Selbstverständlichkeit dem Handeln oder dem Unterlassen von Personen zugeschrieben. Dass die Folgen des Handelns nicht immer Absicht gewesen sein müssen, wird dabei zur Kenntnis genommen und unter „Irren ist menschlich“ abgehakt. Personalisierung dürfte ein klassisches Beispiel dafür sein, wie wenig unsere ach so aufgeklärte, der Vernunft verpflichtete Gesellschaft sich in ihrem Normalbetrieb dafür interessiert, wie sie funktioniert. Personalisierung ist eines der Märchen, die die Moderne über sich erzählt.

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Die linke Frau Schwerdtner, der böse Herr Bäte, merkwürdige Medien

Preisfrage: Wenn Oliver Bäte, Vorstandsvorsitzender Allianz, zweierlei vorschlägt, was wird dann der Themen-Brecher, über den alle reden: Karenztage oder Erbschaftssteuer? Oliver Bäte ist im Prinzip ein ganz, ganz böser Kapitalist. Weil er als Vorstandsvorsitzender der Allianz vermutlich gar nicht anders kann. Deshalb hat er vor einigen Tagen — natürlich im Handelsblatt — diesen Vorschlag gemacht: Beschäftigte in Deutschland seien auffällig oft krank, weshalb, wie einst in den siebziger Jahren, am ersten Krankheitstag kein Lohn bezahlt werden soll. Die einen sind begeistert, die anderen regen sich auf – aber alle reden nur darüber. Natürlich auch die linke Frau Schwerdtner, als sie auf einer Pressekonferenz für ihre Partei ihren Wahlkampfknüller „Die antifaschistische Wirtschaftspolitik“ steigen lässt.
Auch Ines Schwerdtner stand und steht so sehr im Bann der Karenztag-Debatte, dass sie im Konzert mit fast allen Medien, im Konzert mit fast allen Parteien und Politikern die zweite Idee des bösen Kapitalisten – Überraschung! – einfach links liegen ließ.

Denn zeitgleich mit dem Karenztag schlug Bäte auch das vor, was das exklusiv publizierende Handelsblatt stolz so intonierte: „‘Links‘ dürfte ein Attribut sein, das die Wenigsten mit Oliver Bäte in Verbindung bringen.“ Er fordere eine härtere Besteuerung von Erben. Diese Steuer würde er gerne deutlich anheben; in Verbindung mit höheren Freibeträgen, so dass beispielsweise ein Einfamilienhaus steuerfrei an die Familie vererbbar sei. „Mir geht es darum, die Menschen zu besteuern, die sehr komfortabel leben können, ohne einen einzigen Tag gearbeitet zu haben“, so der Chef des Dax-Konzerns exklusiv im Handelsblatt. Bäte spricht sich für eine gestaffelte Erbschaftsteuer, beispielsweise ab einem Vermögen von einer Million Euro aus; eine Vermögensteuer lehnt er allerdings ab. Aber immerhin.
Übrigens präsentierte Bäte sich bereits im vergangenen Oktober auf einer Konferenz in Berlin als heller kritischer Geist, als er nicht nur der Politik gegenüber kritisierte: „Wir haben in Deutschland die Infrastruktur verfallen lassen, einer Verschlechterung des Bildungssystems zugesehen, und wir haben sehr hohe Ausgaben für Gesundheit.“ Aber vermutlich ist Herr Oliver Bäte von der Allianz für Frau Ines Schwerdtner von der Linken ein so arg Böser, dass sie wie alle anderen ‚das Linke‘ an ihm verschweigen muss.

Politik ist (k)ein Spiel

Bild: geralt auf Pixabay

„Politik ist kein Spiel“, verkündete der Bundeskanzler im Brustton der Empörung an die Adresse der FDP. Olaf Scholz sagte es genau in dem Moment, in dem er mit der Vertrauensfrage – spielte. Bei der für ihn selbst wichtigsten Frage, die ihm sein Amt zu stellen erlaubt, machte er, was man im Spiel immer macht: Er tat so als ob. Wie Kinder Stühle in Ponys und Stöcke in Laserschwerter verwandeln, so nutzte er die Vertrauensfrage als Instrument, um sich das Misstrauen aussprechen zu lassen. Wie in jedem Spiel musste er sich dabei darauf verlassen, dass die anderen mitspielen. „Wir alle spielen Theater“ ist sehr viel mehr als ein bekannter Buchtitel von Erving Goffmann1, nämlich eine Lieblingsmetapher der Literatur und eine Grunderfahrung modernen Lebens. Die Politik hat ein echtes Problem damit.

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Verfluchte Personalisierung?

Bild: Lustoza auf Pixabay

Klaus West [„Alter und neuer Glaube an große Männer„] moniert, eine übertriebene Personalisierung führe zu Vereinfachungen von „komplexen politischen Verhältnissen“, damit zu fahrlässigen Fehleinschätzungen des Zeitgeschehens und in Folge zu irreführenden Debatten in Gesellschaft und während Wahlkämpfen. Heute sei das wieder so: „Eine übermäßige Fixierung auf die Person sei … bedauerlicherweise sehr verbreitet.“ Die Ursachen für diesen gravierenden Missstand sieht West in der abnehmenden Bereitschaft in Teilen der Bevölkerung, bedeutende, auch komplexe politische Inhalte aufzunehmen und intellektuell zu verarbeiten. Eine Folge: Massenmedien passten sich dem an, personalisierten mehr denn je und setzten auf mehr Buntes. Die digitalen „unsozialen“ Medien verstärkten diese Tendenz, schufen sie doch mit leichter Hand für alle, die wollten, „Plattformen für den Rückzug in abgeschirmte Echoräume von Gleichgesinnten“ und damit zahllose miteinander konkurrierende kleine Öffentlichkeiten.
Den Darlegungen kann im Prinzip nicht widersprochen werden. Der übermäßig negativen Bewertung von Personalisierung und der übertriebenen Darstellung von Gefahren übertreibender Personalisierung sollen jedoch deren überwiegende Vorteile entgegengehalten werden.

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Rudolf Dreßler, vor dem Lafontaine und Schröder „Manschetten hatten“

Foto: Raimond Spekking auf wikimedia commons

Am 8. Januar 2025 ist Rudolf Dreßler, der frühere Kopf der SPD-Sozialpolitik, gestorben. Er hatte Schriftsetzer gelernt, er war aktiver Gewerkschafter, Betriebsratsvorsitzender, 20 Jahre lang gehörte er dem Deutschen Bundestags an, er führte die Gruppe der in der SPD aktiven Beschäftigten und Gewerkschafter, er schloss seine offiziellen Funktionen mit der Berufung zum Botschafter der Bundesrepublik in Israel ab. Fünf Jahre war er Botschafter. Wer sich ein wenig schlau macht in der Sozial- und Gesellschaftspolitik der Republik, der stößt rasch auf seinen Namen.

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Mieter zahlen die Zeche

Foto: Bernd Schwabe auf wikimedia commons

Bodenrichtwert, Hebesatz, Bemessungsgrundlage: Die bürokratischen Begriffe klingen dröge. Doch hinter dem verwaltungstechnischen Fachchinesisch verbirgt sich ein handfester verteilungspolitischer Skandal. Denn bei der „Reform“ der Grundsteuer im Jahr 2019 haben es die damals noch regierende Große Koalition und ihr sozialdemokratischer Finanzminister Olaf Scholz versäumt, die Abwälzung höherer Abgaben für Immobilienbesitz auf die Mieter zu unterbinden.

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Sind wir noch Charlie Hebdo?

Foto: Jules78120 auf wikimedia commons

Am 7. Januar 2015 sprangen zwei mit Kalaschnikows bewaffnete moslemische Terroristen vor dem Pariser Redaktionsgebäude von Charlie Hebdo aus dem Auto, zwangen die Zeichnerin Coco zur Herausgabe des Sicherheitscodes und stürmten in den zweiten Stock. Dort töteten sie zwölf Menschen: Redaktionspersonal, den Chefredaktor Stéphane Charbonnier, einen Polizisten, der ihn bewachte, und sie verletzten mindestens 20 Personen, zum Teil schwer. Während der Tat riefen sie „Allahu Akbar” („Gott ist am Größten”) und „Wir haben den Propheten gerächt”. Ein Großteil der Redaktion war damit ermordet. Frankreich stand unter Schock. Noch am Abend des Attentats kam es in Paris und weiteren Städten zu Solidaritäts-Demonstrationen, an denen sich bis zu 40 000 Menschen beteiligten. Der Spruch »Je Suis Charlie« – »Ich bin Charlie« verbreitete sich auf tausenden Plakaten überall im Land. Sind wir noch Charlie?

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America first und Germany first mögen sich

Foto: Office of Speaker Mike Johnson auf wikimedia commons

Was wird sich 2025 weltpolitisch zusammenbrauen und unser Leben bestimmen? Es ist mit mehreren Verschiebungen in der globalen Politik zu rechnen: im westlichen Block zwischen den USA und der EU, zum östlichen Teil der Welt hin mit China und Russland und hin zum Einflussgebiet des „globalen Südens“. Die deutsche Außenpolitik nach dem zweiten Weltkrieg gibt für die sich neu abzeichnenden weltpolitischen Konstellationen keine Orientierung. Die Entspannungspolitik des Bundeskanzlers Willy Brandt und die Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu Zeiten Helmut Kohls hatten eine europäische Prägung. Werfen wir einen Blick darauf, was aus den Vereinigten Staaten von Amerika zu uns kommen könnte. Wie könnte Donald Trump als künftiger Präsident die Politik der nächsten Bundesregierung und der Opposition im Bundestag beeinflussen?

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Eine Lüge, eine Hass- und Hetzkampagne, ein Mord

Foto: Tabl-trai auf wikimedia commons

„Die Lehrer haben Angst.“ Vor allem in Frankreich, wo in den letzten vier Jahren die beiden Lehrer Samuel Paty und Dominique Bernard vor der Schule und auf dem Schulhof brutal ermordet wurden: Das französische Meinungsforschungsinstitut Ifop stellte (im März 2023) fest, dass einer von fünf Pädagogen Drohungen und religiöse Aggression erlebt habe. In der nordfranzösischen Stadt Lille verurteilte ein Gericht eine 18jährige Berufsschülerin zu vier Monaten mit Bewährung und einem Sozialpraktikum, weil sie eine Lehrerin geohrfeigt und sich geweigert hatte, in der Schule ihr Kopftuch abzunehmen und der Lehrerin ihren Namen zu nennen. Aber nicht nur dort ist das Verhältnis von Lehrer- und Schülerschaft gestört: „Angst“ steht auch in einem Brandbrief aus der Friedrich-Bergius-Schule im bürgerlichen Berliner Bezirk Friedenau. Ende November klagten Lehrkräfte, von ihren Schülerinnen und Schülern bedroht und eingeschüchtert zu werden. Unterricht sei in dieser Mittelschule (Klasse 7 bis 10) kaum noch möglich. Sind das noch Einzelfälle?

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Die deutsche Angestelltengesellschaft als Forschungsobjekt: Solide, Fragile und Autokratische

Bild, KI generiert: Itsfinly auf Pixabay

Hey, jetzt gehts ab, wir schieben sie alle ab, sie alle ab, grölten die AfD-Anhänger auf der Wahlparty, und der Refrain hat es noch auf den Feuerwehrball im hintersten Taunus gebracht. Das Schlagwort Remigration, zentrales Versprechen des Rechtsextremismus, ruft in breiten Teilen der Bevölkerung Beifallsstürme hervor. Es sind die soziologisch dominierenden Schichten der deutschen Gesellschaft, es ist nicht der extremistische rechte Rand, wie sich die konservative Presse gerne einredet, die so verhetzt denken. Die Leipziger Soziologen weisen schon seit dem Beginn der Nullerjahre auf das bis in die sogenannte Mitte der Gesellschaft reichende Potential rechtsradikaler Ideologie hin.

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„Die Welt geht unter, doch bei mir ist alles in Ordnung”

Bild: migspnz auf Pixabay

An einem November-Samstagsabend bei einem angenehmen Abendessen unter Freunden wurde, als es dem süßen Dessert zuging, mal wieder diskutiert, lamentiert und geklagt über die Welt, in der wir leben und der es nicht gut geht. Klima-Katastrophe, Kriege, Hunger, Flucht – und ja, klar die »Politische Klasse«, diese karrieresüchtigen, selbstbezogenen Ego-Typen. Kurzum: es war ein anregender, launiger Abend. Ein Runde gleichgesinnter Pessimisten bis irgendwer die Frage stellte, zu welchen Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte man denn gerne gelebt hätte… Was ist das denn für eine Frage? Kollektives Kopfschütteln, ausholende Gesten, großes Palaver. Und doch fand die Tischgesellschaft rasch eine einhellige Antwort: Heute! Unbedingt!

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Seltsame politische Blüten entfalten sich da

Bild: YoshisMom auf Pixabay

Da haben die Parteien dem Wahlvolk aber was eingebrockt! Es soll nämlich nach einer kurzen, winterlichen Wahl-Auseinandersetzung über außerordentlich schwierige, kontrovers diskutierte Fragen abstimmen. Über die Frage beispielsweise, wie ein teilweises Absterben des industriellen Sektors des Landes verhindert werden könnte; wie der schnelle Ausstieg aus der Kohlenstoffdioxid-Nutzung bewerkstelligt werden könnte; wie Krieg in Europa beendet und eine neue Friedensordnung verabredet werden könnten. All das wurde in eine Handvoll Wahlkampf-Wochen gepackt. Das ist eine hochgradig gewagte Angelegenheit. Seltsame politische „Blüten“ entfalten sich gleichzeitig.

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Alter und neuer Glaube an große Männer

Screenshot: Website ZDF Politbarometer

Bürger:innen, die auf die Website der Deutschen Nationalbibliothek (DNB) gehen, können sich, bevor sie mit der Suche nach Literatur beginnen, zunächst über die DNB in „leichter Sprache“ informieren. Dort werden sie folgenden Text vorfinden: „Die Deutsche National-Bibliothek ist eine sehr große Bücherei. National bedeutet: Das Land, in dem man wohnt. Also ist hier Deutschland gemeint. Anfang 2024 hat man die Publikationen der Deutschen National-Bibliothek gezählt. Es sind knapp 49,7 Millionen Publikationen. Das sind sehr viele. Publikationen sind Veröffentlichungen. Zum Beispiel: Bücher, Hefte, Artikel, Musik, Noten.“ 1 Es ist nicht meine Absicht, mich über das Bild, das die Autor:innen dieses Textes von ihren Adressat:innen haben, lustig zu machen. Gleichwohl frage ich mich, wem sie erklären wollen, dass knapp 50 Millionen Publikationen „sehr viele sind“. Ich möchte vielmehr auf das Problem der entstellenden Vereinfachung hinweisen, bei dem – in diesem Fall – verloren geht, was die DNB ausmacht. Kann so eine adäquate Vorstellung der wichtigsten Bibliothek dieses Landes entstehen?

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