
Er warnt vor einer „Dämonisierung“ des Populismus: „Man bekämpft nicht eine Gefahr, wenn man nicht etwas Attraktiveres vorzuschlagen hat.“ Pierre Rosanvollan, der französische Demokratieforscher, fordert die Demokratinnen und Demokraten zu einem dreifachen Kampf auf (Le Monde vom 12. April). Mit der Klarstellung „„Richter verkörpern das demokratische Prinzip der Volkssouveränität ebenso wie gewählte Amtsträger“, kritisiert er die Angriffe des rechtsextremen Rassemblement National (RN) gegen die „politische Justiz“. Er richtet sich direkt an seine Französinnen und Franzosen, die bis hinauf zum Premierminister irritiert reagiert haben auf den angeblichen „politischen Mord“ an der rechtsextremen Politikerin Marine Le Pen, die wegen Veruntreuung von öffentlichen Geldern zu einer Haftstrafe und einer fünfjährigen Nichtwählbarkeit verurteilt worden ist (am 31. März). Rosanvallon könnte ebenso die verunsicherten Deutschen meinen, die mit Skepsis auf die Politik, die Wahlerfolge der Rechtsextremen und den schnellen Vertrauensverlust eines Friedrich Merz blicken.
Die erste Mahnung des 77jährigen Historikes ist für ihn entscheidend. Sie gilt der intellektuellen Wachsamkeit: Marine Le Pen gibt empört vor, das „Wahlvolk“ stünde über dem „allgemeinen Volk“ und dessen rechtsstaatlichen Verfassung. Sie, die von diesem Wahlvolk gewählte, sei der Justiz und damit dem Rechtsstaat entzogen. Gegen diese demokratische Unhaltbarkeit erwartet Rosanvallon intellektuelle Entschiedenheit. Sie vermisst er bisher in Frankreich. Öffentlich trotzen der rechtsextremen Empörungswelle lediglich Richter, Juristen oder eine ehemalige Justizministerin. Sonst herrscht bleiernes Schweigen.
Die zweite Mahnung richtet sich nicht nur an die Politik, sondern die gesamte Gesellschaft, an Journalistinnen, Soziologen, Schriftsteller oder Filmemacherinnen. Er fordert von ihnen „soziale Nähe“ und „Aufmerksamkeit“ für diejenigen, die zu den „Unsichtbaren“ gehören. Er mahnt das Hinsehen auf das „tägliche Leben“ an. Diese Aufmerksamkeit auf das reale Leben in der Gesellschaft stünde leider nicht im Mittelpunkt der Praxis der Parteien und der Gewählten. Rosanvallons zutiefst mitmenschliche Mahnung sollte nicht nur in der französischen Klassengesellschaft gehört werden.
Die dritte Mahnung gilt der „demokratischen und politischen Vitalität“: Seit dreißig Jahren gehe die Beteiligung an den Wahlen immer weiter zurück, bildeten die Nichtwähler die größte „Wahlgruppe“. Wenn aber das Vertrauen in den Wahlprozess verloren geht, bröckelt das demokratische Fundament: So lautet Pierre Rosanvallons eindringliche Mahnung an die politischen Parteien. Sie sollte jenseits und diesseits des Rheins gehört werden.