Intellektuelle und Journalisten haben in der öffentlichen Arena ein Dauerabo für Kommentatorenplätze. In besonders unübersichtlichen Zeiten, in Krisen zum Beispiel, lassen Journalisten Intellektuellen gerne den Vortritt. Entweder die Vordenker drängen sich selbst vor oder sie werden angefragt und eingeladen, ihre Erklärungen, Deutungen und Empfehlungen zu publizieren. Ein Überblick über sieben Stimmen zur Corona-Krise von A wie Jutta Almendinger über H wie Jürgen Habermas und Lisz Hirn bis Z wie Slavoj Žižek plus Hinweise auf einige weitere Links.
Die Solidarität stand stramm, hielt, kittete
Jutta Almendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin, sieht und beschreibt, wie sich ein Solidaritätspotential in unserer Gesellschaft entfaltet, wie junge Menschen, arme Menschen, Menschen in systemrelevanten Berufen sich solidarisch verhalten.
„Die jungen Menschen, gerade noch auf den Straßen, verzichten auf Klubs, Freunde, Schulen, Ausbildung, Reisen, Events und Konzerte.“ Sie täten dies „ganz selbstverständlich und ohne großes Murren“ für die Alten, die vom Virus besonders Betroffenen. Wir sollten uns bewusst sein, dass die jungen Leute sich auch anders verhalten könnten. Auch die armen Menschen ließen die reichen nicht im Stich, „die aus den teueren Skigebieten kommen, in denen zwei Wochen soviel kosten wie viele in einem ganzen Jahr nicht verdienen“.
Almendinger fragt auch, was mit den Menschen in systemrelevanten Berufen sei. „Was haben sie sich gewehrt in den jahrzehntelangen Runden der Tarifverträge. Wie winzig mussten sie sich gegenüber den immer länger werdenden Warteschlangen an ihren Kassen fühlen? Und nun ein Klatschen. Haben sie ein klitzekleines Mal daran gedacht, einfach daheim zu bleiben, sich dem Verkauf von Klopapier zu verweigern?“ Besonders Familien mit Kindern müssten nun alles stemmen und gleichzeitig Kita, Schule, und Musikschule ersetzen, während sie zeitgleich in ihrem Beruf performen müssten, so Almendinger. Oft geschähe dies in kleinen Wohnungen und auch die Großeltern könnten sie nicht sehen, wegen des Kontaktverbots. Doch gemurrt würde nicht „Nein. Die Solidarität stand stramm, hielt, kittete.“ Mehr davon hier
Es verbreitet sich existentielle Unsicherheit global und gleichzeitig
Jürgen Habermas, Philosoph und Soziologe, der Vater des herrschaftsfreien Diskurses, empfiehlt Zurückhaltung statt unvorsichtiger Prognosen.
„Unsere komplexen Gesellschaften begegnen ja ständig großen Unsicherheiten“, diese würden jedoch lokal und nicht gleichzeitig auftreten und in unterschiedlichen Leistungsbereichen der Gesellschaft „unauffällig von zuständigen Fachkräften abgearbeitet“, schreibt Habermas.
Die existentielle Unsicherheit verbreite sich in der Coronakrise nun allerdings „global und gleichzeitig, und zwar in den Köpfen der medial vernetzten Individuen selbst.“
Jeder würde über die Risiken aufgeklärt werden, weil Selbstisolierung die wichtigste Komponente im Kampf gegen die Pandemie sei, um das Gesundheitssystem vor Überforderung zu schützen. Nicht nur die epidemischen, auch die wirtschaftlichen sowie sozialen Folgen seien unabsehbar und es gäbe keinen Experten, der diese Folgen beurteilen könne, sagt Habermas und kommt zu dem Resultat: „So viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie.“ Mehr davon hier
Ja, es könnte eine große Chance sein, aber…
Lisz Hirn, österreichische Philosophin, Autorin des Buches „Wer braucht Superhelden“, sieht viel Solidarität und Empathie, warnt aber vor zuviel Enthusiasmus, denn aus ihm könne schnell eine große Frustration werden.
„Für einen langen Atem ist es wichtig zu sehen, dass es hier nicht um den Schutz von ‚Opa und Oma’ geht, sondern dass wir das System nicht überlasten.“ Das Gesundheitssystem müsse funktionsfähig bleiben für Corona-Infizierte, aber auch für alle anderen Kranken. „Die Sache so zu verkaufen, dass wir hier rein altruistisch handeln“, hält Lisz Hirn für gefährlich, weil auf Dauer nicht belastbar.
Die Philosophin ist nicht optimistisch, dass die Krise wirklich zu einem Umdenken und Umsteuern führen werde. Die Corona-Krise könne zwar eine große Chance sein, aber es sei zu befürchten, dass wir gerade eine „sehr erzwungene Art der Entschleunigung“ erleben und uns in To-do-Listen flüchteten, um gewohnten Alltag zu simulieren.
„Ja, es hat eine gewisse Ironie, wenn ich Fotos von Wildtieren auf Italiens Straßen sehe oder die fehlenden Schadstoffwolken über China, die jetzt wie weggeblasen sind. Dass wir uns so anders verhalten, weil es um ein Virus geht, aber eine Klimakrise war uns nicht bedrohlich genug, ist interessant.“
Hirn glaubt, dass es nach der Krise zu einer „einer eher noch größeren Beschleunigung kommen wird“ und wir möglichst schnell an den Punkt vor der Krise zurückkommen und wieder so leben wollten, wie vor Corona. Mehr dazu hier
Das Virus weckt die Welt
Richard David Precht, Philosoph und Publizist, sieht das Fenster, in Alternativen zu denken, „sperrangelweit offen, stellt aber fest, dass man erst einmal „bleibt, wie man ist, nur unter neuer Selbstbeobachtung“.
„Und natürlich sieht in der Krise weiterhin jeder die Welt so, wie er sie bereits vorher gesehen hat. Die Linken besinnen sich auf das kaputtgesparte Gesundheitssystem und die chronisch unterbezahlten Pflegekräfte und Verkäuferinnen. Die Rechten sehen die offenen Grenzen und das Unheil aus dem Ausland. Linke und Grüne ergeben sich nickend der Staatsräson. Politiker reißen Schutzzäune der Individualität ein und stellen Schutzzäune der Seuchenbekämpfung auf, wo man beim Anblick der drohenden Klimakatastrophe nicht mal ein Löchlein für einen Pfosten graben würde.“
Precht geht ausführlich auf Unterschiede zwischen Klimadebatte und Seuchenschutz ein. Gefühlt sei die Klimakatastrophe relativ weit weg. Leben koste sie zwar südlich der Sahara, aber nicht offen erkennbar in Europa. Sie bedrohe die Enkel, Corona hingegen „den eigenen Vater oder die eigene Großmutter“. Bei Corona sei der Notstand konkret und unmittelbar, beim Klima abstrakt und diffus. „Vor Covid-19 fürchten sich auch die Bornierten, vor der Klimakatastrophe nur die Vorausschauenden und Vernünftigen.“
Precht erinnert daran, dass Viren, die das menschliche Immunsystem abstürzen lassen, keine Computerviren sind, und dass sich nicht jeder menschliche Organismus wieder „hochfahren“ lässt. Das Virus wecke die Welt aus ihrem technotopischen Schlummer. Expansion sei kein Wert an sich, Entschleunigung könne die Sicherheit erhöhen, künstliche Intelligenz sage in der Krise niemandem, was zu tun sei, und digitales Gerät schütze nicht vor existenziellen Lebensrisiken. „Wer jetzt noch seine Schritte zählt, wird nicht glücklicher; wer jetzt vor seinem Bildschirm allein ist, wird es lange bleiben.“ Mehr dazu hier
Ein Testfall für staatliches Risikomangement
Andreas Reckwitz, Soziologe an der Berliner Humboldt Universität, arbeitet den Unterschied zwischen Gefahr und Risiko heraus und weist den Vergleich mit der mittelalterlichen Pest zurück.
„Gerade die Spätmoderne ist nicht nur eine globale ‚Risikogesellschaft‘ (Ulrich Beck), sie ist auch eine Gesellschaft des weit verbreiteten und immer systematischeren Risikomanagements – ob es nun um gesundheitliche, technische oder ökologische Risiken geht.“
Reckwitz sagt, es sei irreführend die Corona-Krise mit mittelalterlichen Seuchen wie der Pest zu vergleichen. Epidemien habe es ohne Zweifel immer gegeben, entscheidend sei, ob „man sie als ‚Gefahr‘ von außen oder als beeinflussbares ‚Risiko’“ ansähe. Bei der Pest hätte man sich hauptsächlich darauf konzentriert mit Krankheit und Tod umzugehen, sie also als Gefahr erlebt. Heute würde die moderne Gesellschaft die Pandemie jedoch als Riskio ansehen und die Ausbreitung des Virus als regulier- und beeinflussbar betrachten. Somit sei man ihr nicht ausgeliefert – was die Frage nach dem Umgang mit dem Klimawandel aufwerfe.
Der Klimawandel verschwinde durch die Corona-Krise nicht. Vielmehr scheine es so, dass „die Corona-Krise eine Art gesellschaftliches Trainingsfeld unter Extrembedingungen“ sei und uns aufzeige, womit wir uns in den kommenden Jahrzehnten im Bereich Klimawandel auseinandersetzen müssten. „Ein staatliches Risikomanagement, das mit Risikokonkurrenzen, Ungewissheit, kontroverser naturwissenschaftlicher Expertise und einer Verschaltung von kollektiver und individueller Prävention jonglieren muss.“ Erst einmal müssten wir jedoch den aktuellen Test bestehen und diese Krise meistern. Mehr dazu hier
Globalisierung bedeutet Reiseerleichterung für Mikroben
Peter Sloterdijk, Philosoph und Kulturwissenschaftler, bekannt als Kritiker der zynischen Vernunft. Er war schon 2009 der Meinung „Du musst dein Leben ändern“. In der Corona-Debatte wendet er sich gegen die Kriegsrhetorik.
„Die Kriegsrhetorik führt in die Irre, denn gegen das Virus machen wir ja nicht mobil, wir demobilisieren: ‚Weil Krieg ist, bleiben wir zu Hause!‘ Das erinnert fast an den 68er-Spruch: ‚Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.’ Die Amerikaner laufen seit Langem gern in dieselbe rhetorische Falle. Doch was jetzt zählt, ist Mobilitätsverzicht, also das Unamerikanischste, das sich denken lässt.“
Sloterdijk sieht Bedarf für eine weltweite Solidarität und hält eine „immunologische Risikogemeinschaft“ für denkbar. Die moderne Menschheitsgeschichte beginne 1492 mit der Entdeckung Amerikas. Heute laufe sie aus, „da wir im Prinzip alle im gleichen Transaktionsraum angekommen sind, wenn auch mit abgestuften Risiken […] es ist nicht mehr nur der Weltinnenraum des Kapitals, das Vernetzungen erzeugt, sondern der Raum der Menschheit als biomassisches Ensemble, das durch Ko-Immunitäten geformt wird.“ Globalisierung habe seit jeher Reiseerleichterung für Mikroben bedeutet – „das ist seit der Ankunft der Syphilis in Neapel mit den zurückgekehrten Kolumbusschiffen von 1493 evident. Je beweglicher, desto riskanter.“ Mehr dazu hier
Der Mensch taucht auf und irgendwann verschwindet er wieder
Slavoj Žižek, slowenischer Philosoph und Kulturkritiker, hat inzwischen über 60 Bücher publiziert, die in mehr als 40 Sprachen erschienen sind. Er beschreibt Viren als lebende Tote, die sich als reine Parasiten fortpflanzen.
„Wir werden nach Corona anders über uns selbst denken als zuvor. Nur wie?“ Um dies zu verdeutlichen zitiert Žižek eine Definition des Virenbegriffes des amerikanischen Philosophen Daniel Dennett: Viren sind ‚alle möglichen ansteckenden, gewöhnlich ultra-mikroskopisch kleinen Wirkstoffe, die aus Nukleinsäuren in einer Proteinhülle bestehen (entweder DNS oder RNS). Sie infizieren Tiere, Pflanzen und Bakterien und pflanzen sich ausschliesslich in lebenden Zellen fort. Viren gelten als nicht lebendige chemische Entitäten oder gelegentlich als lebende Organismen.‘
Diese Schwankungen zwischen Leben und Tod seien entscheidend, so Žižek, da laut dieser Definition Viren weder lebendig noch tot seien, sondern eine „Art von lebenden Toten“, welche nur durch den Drang zur Fortpflanzung leben würden. Es sei jedoch ein Leben auf „Ebene null“, auf dem einfachsten Level von Vermehrung und Reproduktion. Viren seien keine Lebensform, aus der weitere Evolutionsstufen hervorgingen, sondern Parasiten, welche sich fortpflanzen würden, indem sie andere, höher entwickelte, Organismen infizierten.
Žižek kann sich die Erde auch ohne Menschen vorstellen: „Das ist die verstörendste Lektion, die die anhaltende Virus-Epidemie für uns bereithält: Der Mensch ist viel weniger souverän, als er denkt.“ Er trüge einfach weiter, was ihm zugetragen würde, spräche und wisse nicht, was er sage. Er tauche auf und verschwände irgendwann wieder von der Erdoberfläche.. „Das muss er aushalten können, ohne verrückt zu werden.“ Mehr dazu hier
Plus einige weitere Links:
Zu dem Ökonomen Marcel Fratscher, der über eine Studie aus seinem Haus, dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), informiert, dem Historiker Yuval Noah Harari, dem Philosophen Giorgio Agamben, den Soziologen Dirk Baecker, Oliver Nachtwey, Armin Nassehi, Hartmut Rosa, Philipp Staab … und keine weitere Frau darunter. Frauen sind wohl mehr mit Systemerhaltung beschäftigt.
Interessante Hinweise kommen auch aus der Heinrich Böll Stiftung.