Eine Krise hat vier Möglichkeiten. Sie kann „nicht so schlimm wie“, „schlimmer als“, „die schlimmste seit“ oder „die schlimmste überhaupt“ sein. Egal wie sie ausfällt: Eine Krise ist eine Krise ist eine Krise, und in Krisen muss etwas gerettet werden; in Computerspielen meistens die Welt, im richtigen Leben geht es auch ein paar Nummern kleiner. In den Aufregungen der aktuellen Rettungsaktion geht manchmal unter, dass Krisen Wiederholungstäter sind, obwohl es Krisen-Handbücher, -Ratgeber, -Pläne, -Leitfäden zuhauf gibt. Welche Wiedererkennungsmerkmale weist die Corona-Krise bei aller möglicherweise feststellbaren Einmaligkeit auf?
Weil Massenmedien Neues und Ungewöhnliches zu bieten haben müssen, entdecken sie an einer Krise am liebsten das Noch-nie-da-gewesene. Dafür bietet die Corona-Krise reichlich Stoff, aber erst einmal ist sie eine Krise wie jeder andere. „Eine Krise ist in der modernen Gesellschaft das Signal, dass wir nicht mehr weiter wissen“, schreibt Dirk Baecker. Vorher ging alles seinen Gang, plötzlich ist man aus dem Tritt und (ver)zweifelt am nächsten Schritt. Baecker betont „moderne Gesellschaft“, weil sich erst in der Neuzeit die Vorstellung durchsetzt, die Menschen würden ihre Geschichte selbst machen; mit der Nebenwirkung, dass man ständig nach dummen und/ oder bösen Menschen Ausschau halten muss (naheliegender Weise sind es „die anderen“), weil dauernd etwas schief läuft, den Bach hinab geht, in eine Katastrophe ausartet.
Nicht weiter zu wissen, ist also das erste Indiz einer Krise, ein Phänomen, das sich im Fortgang der Moderne interessanter Weise häuft. Durchdekliniert unter den drei Gesichtspunkten zeitlich, sachlich und sozial, lassen sich einige ausgewählte Beobachtungen machen, wie sich allgemeine Krisenphänomene in der aktuellen Corona-Krise widerspiegeln.
[zeitlich]
Krisen quartieren sich ein im Zeitraum zwischen Noch nicht und Nicht mehr. Der Organisationstheoretiker Günther Ortmann sagt es treffend: „Erst muss man noch nichts tun, dann kann man nichts mehr machen. Vorher kann man sich noch nicht – nicht wirklich – rüsten, dann geht es nicht mehr (denn nun fehlt es, wem sage ich das, an Gesichtsmasken, Schutzanzügen, Einweghandschuhen, Tests, Betten, Intensivstationen, Personal und sogar Wattestäbchen).“ Dieses Zeit-Dilemma löst, sobald die Krise da ist, vielfältige Debatten in der Sache aus nach dem Motto, hätte, hätte Fahrradkette. Was hätte man vorsorglich nicht alles machen können! So vernünftig, so selbstverständlich, klingt es jetzt, aber es ist ein Besserwissen „nach Tisch“. Es hätte nämlich auch eine ganz andere Krise ausbrechen können, die ganz andere Vorsorgeleistungen erfordert hätte…
Nach dem Ausbruch das Drama. Die Dramatik der Krise kommt aus der Unsicherheit, ob das „Nicht mehr“ nur ein „Noch nicht wieder“ gewesen sein wird oder ein „Nie mehr wieder“. Gute Zeiten für Propheten à la Matthias Horx: „Nichts wird so sein wie davor“, schwere Zeiten für Optimisten: „Wird schon wieder“.
Krisen machen die Vergangenheit, für die sich moderne Menschen ohnehin nur aus musealen oder nostalgischen Gründen interessieren, noch unwichtiger. Vor allem jedoch zerstören sie Zukunftsperspektiven, die für karrierebewusste Personen und erfolgsfixierte Organisationen normalerweise das Wichtigste sind. Die große Aufmerksamkeit gilt dem Hier und Jetzt, in der Krise stellt die Gegenwart alles in den Schatten. Denn jetzt muss entschieden werden! Soll gerettet werden, was noch zu retten ist – in Wirtschafkrisen Geld und Arbeitsplätze, in Finanzkrisen Vermögen, in Gesundheitskrisen das Leben, in der Klimakrise die Natur, in Beziehungskrisen das Zusammenleben –, scheint es schnell gehen zu müssen.
[sachlich]
Sachlich bewegen sich Krisen zwischen drängendem Entscheidungsbedarf und fehlendem Informationen. Die jetzt fälligen Entscheidungen nützen wenig, wenn sie hier und dort, von der einen oder dem anderen getroffen werden, es braucht allgemein verbindliche Entscheidungen: die Politik ist gefordert! Der Staat muss handeln. Mit rechtlichen Regelungen, finanziellen Unterstützungen und Appellen an den guten Willen kommt politisches Krisenmanagement in Gang. Das Risiko, dass sich die Politik dabei blamiert, ist hoch, weil niemand über zuverlässiges Wissen verfügt. Deshalb gibt sich jetzt die (jeweils im konkreten Fall sachlich zuständige) Wissenschaft die Klinken hoher Staatsämter in die Hand.
Auch die Chance, zum Helden zu werden, gibt es für die politisch Verantwortlichen. Primäres Entscheidungskriterium des demokratisch gewählten politischen Personals bleibt auch in der Krise, beim nächsten Wahltermin Stimmen zu gewinnen, zumindest nicht zu verlieren. Aber nichts garantiert Regierenden, dass Entscheidungen, die sich heute an der öffentlichen Meinung orientieren, morgen vom Wähler honoriert werden. Auch als Helmut Schmidt 1962 als Hamburger Innensenator zum Helden der Sturmflut wurde, auch als Gerhard Schröder im Bundestagswahlkampf 2002 „Leadership in Gummistiefeln“ praktizierte und „Stoiber im Hochwasser versenkte,“ konnte zunächst niemand wissen, wie sie nach der Krise dastehen würden.
Nicht nur fehlt es in Krisen an Informationen darüber, was ihre Ursachen waren und ihre Folgen sein werden, auch die empirischen Beschreibungen der aktuellen Zustände sind defizitär, mindestens stark umstritten. Gang und gäbe sind Auseinandersetzungen über Qualität und Aussagekraft von Statistiken. Die in allen Hinsichten diffuse Informationslage ist ein fruchtbarer Nährboden für Verschwörungsphantasien, die in allen Krisen prächtige Blüten treiben. Dank der sozialen Medien sind diese Blüten heutzutage viel besser zu besichtigen als früher. Jetzt tritt hervor, was offline nur zu ahnen war: „Meinungen sind wie Arschlöcher, jeder hat eins“.
Zu Medienstars können Kassandras werden, die eine Krise vorhergesagt haben, aber ungehört blieben oder belächelt wurden. Nouriel Roubini, Ökonom der New York University, ist dafür bekannt: „Bei einem Vortrag vor dem Internationalen Währungsfonds zum Beispiel versuchte er, seinem Publikum die Laune zu verderben: Die Immobilienblase werde bald platzen und die Wirtschaft in eine tiefe Rezession stürzen. Wie war die Reaktion? ‚Jetzt brauchen wir einen starken Drink’, sagte der Moderator, und durch das Publikum zog Gelächter.“ (FAZ vom 1. 11. 2008)
[sozial]
Krisen vertiefen soziale Risse der Gesellschaft, laden aber gleichzeitig zu rhetorischen Gemeinschaftsfeiern ein. Die beschworene Solidarität übersteigt die praktizierte um ein Vielfaches.
Wer über wenig soziales Kapital verfügt (kaum Geld, keine Macht, keine Aufmerksamkeit, wenig Wissen, schlechte Gesundheit), hat in der Krise das höhere Risiko, in existentielle Gefahr zu geraten. Nicht nur „Amerika lässt seine Ärmsten sterben“, auch eine britische Studie sagt, „Arme und Angehörige von Minderheiten sterben häufiger„. Und woanders ist es auch nicht anders, Krisen kennen wie Märkte keine Moral.
Wann und wo „rette sich, wer kann“ oder „gemeinsam sind wir stärker“ die Oberhand gewinnt, hängt eng damit zusammen, in welchem Vorkrisen-Zustand sich ein Land befand. Aus einer Konkurrenzgesellschaft wird auch in der Krise keine Solidargemeinschaft, wie oft sie auch ausgerufen werden mag. Krise bedeutet nicht Generalstillstand, es passiert im Gegenteil sehr viel mit kaum kontrollierbaren Risiken und Nebenwirkungen: Was betroffen, bedroht, beschädigt, zerstört wird, wer unter die Räder kommt und wer als Krisengewinner auf dem hohen Ross sitzt, vieles erscheint zufällig.
Private Gelegenheiten und Angelegenheiten geraten ohnehin in einen Lostopf, weit und breit keine Glücksfee. „Hochzeiten wurden verschoben, viele Termine stehen in den Sternen, manche Paare wissen nicht, ob sie überhaupt noch heiraten. Ich habe mit vielen weinenden Bräuten und Müttern geredet, bin schon eine halbe Psychologin. Es ist eine sehr emotionale Zeit.“ Kulturellen Mustern kann die Corona-Krise offenbar nichts anhaben: Ein Bräutigam und ein Vater weinen nicht.
„Eine oder KEINE Krise wie jede andere – Teil II“ gibt es hier.