Eine oder KEINE Krise wie jede andere Teil II

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Die Überschrift ist falsch, weil die Corona-Krise eine und keine Krise wie jede andere ist. Als flammte in einer Höhle plötzlich Festbeleuchtung auf, so macht die aktuelle Krise wie keine vor ihr sichtbar, dass Netzwerke alle und alles zusammen halten. Die Knotenpunkte, diese selbstbezogenen Personen und egozentrischen Organisationen, sind ohne ihre Verbindungen, ohne ihre interaktiven Begegnungen, ohne ihre Offline- und Online-Kontakte verloren. Die Kontaktsperre beleuchtet die Kontakte.

Während das Publikum noch die Garderobe abgibt, im Foyer einen Drink nimmt oder mit Bekannten plaudert, hebt sich der Vorhang für „Vernetzt. Eine Tragikomödie in drei Akten“. Das Publikum, eilig unterwegs zu seinen Plätzen, muss feststellen, dass der erste Akt „Noch-nicht“ bereits vorbei und die Kulisse für den zweiten „Nicht-mehr“ schon aufgebaut ist.

Noch-nicht, der erste Akt

Den ersten Akt versäumt zu haben, ist kein Nachteil, weil sein Verlauf anderen Krisen ähnelt, immer will die große Mehrheit sich nicht stören lassen und so weiter machen. “Auch bei vergangenen Pandemien wurde die drohende Gefahr zunächst ignoriert. In London kursierten bereits im Jahre 1663 Gerüchte über einen Pestausbruch in Holland, doch die Gefahr wurde verdrängt […]”, schreibt Ranga Yogeshwar. Trotzdem hat sich die Besonderheit der Pandemie auch schon im ersten Akt gezeigt.

Mit zeitlichen Verschiebungen zwischen den einzelnen Nationen, sogar zwischen Bundesländern vollzieht sich seit Jahresbeginn 2020 ein wochenlanges Hin und Her, was weiter laufen und was gebremst oder gestoppt werden soll. Um ein belangloses, aber aufmerksamkeitsstarkes Beispiel zu nehmen: Das berühmt-berüchtigte Fußball-Derby Dortmund gegen Schalke (14. März) soll zunächst ganz normal, dann als Geisterspiel stattfinden, letztlich wird es abgesagt. Die öffentlichen Diskussionen und politischen Beratungen über Lockdown (Ausgangssperre) und Shutdown (Arbeitssperre) dürfte es in dieser Weise noch nicht gegeben haben; auch nicht, wie beides dann praktisch umgesetzt wird.

Ob Finanz-, Wirtschafts- Öl-, Flüchtlingskrise oder Krise des Bildungssystems, immer ging und geht es darum, Probleme in den Griff zu bekommen, während alles andere entweder von selbst weiter läuft oder so gut wie möglich in Gang gehalten wird; wobei nicht wenige Leute Krisenerfahrungen nur via Medienberichterstattung machen. Ganz anders in der Coronakrise: Damit das Gesundheitssystem möglichst funktionsfähig bleibt, wird in der übrigen Gesellschaft so vieles außer Funktion gesetzt, dass wirklich alle, wenn auch unterschiedlich hart, davon betroffen werden.

Was sich aufdrängt, ist eine Verwandtschaft mit der Klimakrise. „Klima und Corona: Zwei Krisen – eine Antwort“ hat Ludger Volmer formuliert und als Antwort gegeben, „quantitatives Wachstum und Profitmaximierung haben als Strategien globaler Wohlstandssteigerung ausgespielt“. Aber die Klimakrise befindet sich im Mainstream der gesellschaftlichen Wahrnehmung trotz steigender Meeresspiegel und Gletscherschmelze, trotz sich häufender Waldbrände, Überschwemmungen, Stürme, Dürren noch im ersten Akt, wie sehr wissenschaftliche Stimmen auch das „Nicht-mehr“ ausrufen.

 „Nicht-mehr“, der zweite Akt

Die Repräsentanten der Wirtschaft, Meister aller Klassen des Lobbyismus, stehen staunend in der Warteschlange vor den Türen der Macht. Sie verstehen die Welt nicht mehr, sie müssen anderen, in diesem Fall einer kleinen radikalen Minderheit von Virologen und Epidemiologen, den Vortritt zu lassen. Das hat die Welt des freien Marktes noch nicht gesehen.

Die Wirtschaft kann in der Gegenwartsgesellschaft auch deshalb als besonders schwergewichtiges Funktionsfeld auftreten, weil sie so krisenanfällig ist. Größte Aufmerksamkeit genießt in modernen Zeiten stets das Funktionsfeld, das gerade nicht so richtig funktioniert; ob es das Finanz-, Sozial-, Bildungs-, Verkehrs-, Medien-, Politiksystem oder eben das Wirtschaftssystem ist. Das ist logisch. In so differenzierten und spezialisierten Arbeits- und Lebensverhältnissen reden alle von der großen Freiheit, leben aber in tiefen Abhängigkeiten. Spezialisierung macht doppelt abhängig, alle anderen von den Spezialisten und die Spezialisten von allem, was sie nicht können. Banker sind keine Journalisten, Lehrkräfte keine Verkehrsexperten; was die einen gut können, können die anderen nur schlecht oder gar nicht. Das ist simpel, aber folgenschwer.

Dass das Gesundheits-, bzw. Krankheitssystem eine allen anderen so explizit übergeordnete Rolle einnimmt, dürfte historisch noch nicht vorgekommen sein. Zwar treten auch Politik, Wissenschaft und Massenmedien in der Coronakrise markanter hervor als „normal“, aber im Mittelpunkt steht die Gesundheitsversorgung. „Die ganze jenseits des Krankheitssystems noch verbleibende Gesellschaft in allen ihren Aktivitäten wird in der eigentümlichen Summenformel „flatten the curve“ zusammengefasst“ (Rudolf Stichweh in der FAZ).

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Um die Infektionskurve abzuflachen, wird politisch gesteuert (das Horrorszenario jedes freien Marktwirtschaftlers), werden das Familien-, Erziehungs- und Bildungssystem, der Sport, die Kunst, die Wirtschaft und die Religion „angepasst“. „Der Papst allein auf dem Petersplatz, das ist das Bild, das die Corona-Krise krönt.“ (Fritz B. Simon) Nein, die Bilder der Corona-Krise sind die Fotos und Videos, die nicht nur in China mehr unterdrückt als gezeigt werden.

„Was ist mit den herzzerreißenden Bitten von Kindern in den sozialen Medien, die verzweifelt nach Behandlungsmöglichkeiten für ihre Eltern, Großeltern und sich selbst suchen? Wer sind die Menschen in den online verbreiteten Videos, die einfach auf der Straße oder beim Schlangestehen im Krankenhaus umkippen? Was ist mit der jungen Frau, die vergeblich versucht, ein Amt nach dem anderen dazu zu bringen, sich der Leiche ihrer Großmutter bei sich zu Hause anzunehmen? Was ist mit dem Arzt, der zusammenbricht und brüllt: ‚Weg mit denen, die auf dem Flur liegen! Sofort!’? Mit dem sozial-medial viral gegangenen Video der Krankenschwester, die in ihrer Mittagspause hysterisch weint?“ (Franka Lu)

„Nicht-mehr“ wurde von Mitte März bis Ende April in der (deutschen) öffentlichen Meinung als Beitrag zur Krisenlösung verstanden, seit Ende April wird es zunehmend als Beitrag zur Krisenförderung kritisiert. Allen voran die Wirtschaftsverbände, die schon Mitte April „Brandbriefe“ schrieben.

„In unserem Brandbrief vor Ostern haben wir nachdrücklich an Sie und die gesamte deutsche Politik appelliert, möglichst rasch die Wirtschaft schrittweise wieder hochzufahren und einen konkreten Exit-Fahrplan vorzulegen. […] Unser Land steht vor dem größten Konjunktureinbruch seit dem Zweiten Weltkrieg. Trotz eines staatlichen Rettungspakets von mehr als einer Billion Euro droht eine Pleitewelle unbekannten Ausmaßes, die die Existenz Hunderttausender Menschen binnen weniger Wochen vernichten könnte“, steht in dem offenen Brief des „Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft“, publiziert am Tag der Arbeit, an die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten der Bundesländer.

„Noch-nicht-wieder oder Nie-mehr-wieder“, der dritte Akt

Im Vergleich zu anderen Krisenfällen verheißt der dritte Akt der Coronakrise viel mehr Öffnungen für Alternativen, er zeigt wesentlich weniger Sturm und Drang zur alten Normalität zurückzukehren. Nur: Weder ein Lockdown, noch ein Shutdown, noch beide zusammen sind schon Strukturwandel, geschweige denn eine große Transformation. Trotz und wegen aller Manifeste, Appelle, Tranformations-Thesen verdient Dirk Baecker Aufmerksamkeit:

„Worin besteht die Normalität unserer Gesellschaft? Denn dass die aktuellen Maßnahmen und ihre Befolgung durch die Bevölkerung zwar einzigartig sind, aber zu den Möglichkeiten dieser Gesellschaft elementar dazugehören, zeigt bereits ein Blick in das Infektionsschutzgesetz. Der Ausnahmezustand, in dem wir uns befinden, ist ein vorhergesehener und jederzeit für möglich gehaltener Normalzustand, nämlich der Normalzustand der erforderlichen Bekämpfung einer Infektion, gegen die (noch) keine Impfstoffe vorliegen. Insofern gibt es keinen Grund anzunehmen, dass die Gesellschaft nach der Krise nicht wieder in dieselben Zustände und Abläufe zurückschwingt, von denen sie sich gegenwärtig entfernt hat. Ich rede von der Gesellschaft, ich rede nicht von den immensen Schäden an Leib, Seele und Betrieb, die die Krise verursacht und die sich tief in das Gedächtnis der Gesellschaft eingraben werden.“

Dieser zweite Teil von “Eine oder KEINE Krise wie jede andere” hat Hans-Jürgen Arlt als Co-Autoren. Zu Teil I geht es hier.

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Fabian Arlt
Fabian Arlt (far) arbeitet in Berlin im Bereich Gamification an der Erforschung, Konzeption, Gestaltung und Realisation von Spielen und schreibt an der Universität der Künste an einer Doktorarbeit über „Entscheidungsspiele: Leadership in Games und Unternehmen“. alivetoplay.weebly.com

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