Die Freiheit, die wir meinen (sollten)

(Foto: torange.com)

In diesem immer noch jungen 21. Jahrhundert sitzen wir ideologisch in der Klemme. Unser Diskurs wird weitgehend bestimmt von zwei großen Glaubens-, oder besser: Fetischsystemen, die sich auf den ersten Blick zu ergänzen scheinen. Das erste System ist der Marktliberalismus, der Glaube an die segensreiche Macht individueller Konsumentscheidungen, an die Heiligkeit des privaten Eigentums, an die Verwerflichkeit staatlicher Interventionen und kollektiver Mandate. Das zweite ist die Digitalisierung, ein technologisch getriebener Wandel der Produktions-, Administrations- und Reproduktionssphären, der in den letzten 30 Jahren weitgehend alle Fortschrittsvisionen und -hoffnungen besetzt und damit blockiert hat.

Fetisch Markt

Quelle: Wikipedia

Der Marktliberalismus hat es zurzeit ein bisschen schwerer. Klima- und Coronakrise sowie die absurde Anhäufung von Vermögen in den Händen einiger weniger Superreicher sorgen dafür, dass man nicht mehr so recht daran glauben mag, dass die ‘unsichtbare Hand’ des Marktes wirklich für alle das beste erreicht. Aber der Fetisch des Marktes bestimmt immer noch das Glaubenssystem zumindest der meisten Entscheider und Experten, und solange die Macht in den Händen derer liegt, die vom Glauben an unregulierte wirtschaftliche Transaktionen profitieren, ist Besserung nicht in Sicht.

Die Digitalisierung mit ihrem Potenzial für neue Dienstleistungen und globale Nachfragen hat ‘den Märkten’ viele ihrer letzten Wachstumsschübe verschafft (Silicon Valley) oder erleichtert (Finanzmärkte). Man übersieht dabei jedoch gerne, dass sie – zum Beispiel nach dem Platzen der Dotcom-Blase Anfang des Jahrtausends – Vermögen genau so schnell vernichtet hat, wie es zunächst zu entstehen schien. Kritische Stimmen wie der britische Ökonom und Publizist Paul Mason sehen denn auch in der Digitalisierung eher einen Totengräber des Kapitalismus. Mit Produkten und Dienstleistungen, deren Grenzkosten gen Null tendieren, seien auf Dauer keine traditionellen Wachstumsziele zu erreichen, die Konsumenten würden sich letzten Endes von den kommerziellen Anbietern abwenden und neue Formen kollektiven Wirtschaftens bevorzugen, wie sie sich bereits in einer ‘Sharing Economy’ zeigten.

(Foto: CC BY-SA 2.0 Christoph Scholz/flickr)

Genau diese Sharing Economy sieht Tom Slee, ebenfalls Kritiker des ‘market think’, extrem kritisch. In einem streitbaren Buch mit dem Titel “What’s Yours Is Mine” (dt.: “Deins ist meins”) geißelt der Kanadier die ausbeuterischen Geschäftsmodelle von Anbietern wie Airbnb oder Uber, die die Ökonomisierung der letzten vom Markt noch unerschlossenen Lebensbereiche vorantreiben, ohne jede Rücksichtnahme auf die soziale Sicherheit der Beschäftigten (z.B. bei Uber) oder negative Seiteneffekte (z.B. bei Airbnb die Wohnraumsituation in den Städten).

In einem weniger beachteten früheren Buch mit dem etwas unglücklichen Titel “Nobody Makes You Shop At Wal-Mart”, das leider nicht ins Deutsche übersetzt worden ist, legt Tom Slee anhand vieler (fiktiver) Beispiele mit Mitteln der Spieltheorie dar, warum das Kernstück des Marktfetischismus, der Individualismus, verfehlt ist. Es mag ja beispielsweise sein, dass es für mich als Einzelperson einfacher, günstiger, schneller ist, meine Bücher, meine Kleidung, ja sogar meine Lebensmittel beim Versandhändler Amazon zu bestellen, auf lange Sicht werde ich den Verlust der kleinen Ladengeschäfte in meinem Viertel bedauern und verliere als Bestandteil der Community real an Lebensqualität und Freiheit, die ich mit meiner ‘rationalen’ Entscheidung für den Anbieter Amazon zu verbessern meinte.

In the world according to MarketThink, the combination of choice and the market is a mechanism for solving problems and improving outcomes in areas as diverse as education, city growth and culture.

Tom Slee: Nobody Makes You Shop At Wal-Mart

Der Glaube, dass das Zusammenspiel rationaler, individuell optimierter Entscheidungen einzelner Marktteilnehmer zum gesamtgesellschaftlich besten Resultat führt, steht in vielerlei Hinsicht auf tönernen Füßen. Tom Slee bedient sich bei seinem Plädoyer gegen diesen Irrglauben eines Instrumentariums, das aus der kritischen Ökonomie bekannt ist. Er erläutert asymmetrische Informationslagen, negative Externalitäten, Herdenphänomene, das Trittbrettfahrerproblem und andere Argumente gegen das klassische neoliberale Wirtschaftparadigma auf allgemeinverständliche Art.

(Foto: Pixabay)

Die Lehre aus diesen Argumenten ist, dass wir im Blick auf eine bessere, ‘post-kapitalistische’ Zukunft unseren Individualismus überwinden und zurückkehren müssen zu Einsichten, die in früheren Phasen des Kapitalismus schon einmal weiter verbreitet waren. Die Einsicht zum Beispiel, dass in gesellschaftlichen wie ökonomischen Konflikten kollektive Verhandlungsmandate (z.B. in Parteien, Gewerkschaften, Genossenschaften) von Vorteil und vonnöten sind. Und dies nicht nur, um Asymmetrien bestehender Macht auszugleichen, sondern auch, um ein individualistisches Konsumverhalten zu überwinden, das uns, wie Tom Slee und die Spieltheorie zeigen, unsere Lebensqualität auf mittlere und längere Sicht drastisch verschlechtern kann.

Ganz allgemein verlassen wir mit solchen Überlegungen die Idee einer Dominanz des Marktes und betonen das Primat des Politischen. Nicht mehr die ‘unsichtbare Hand’ sollte das Geschehen bestimmen, sondern ein Diskurs, der Rationalität von einer individuell-persönlichen auf eine gemeinschaftliche Ebene hebt und darauf abzielt, das Vorgehen zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme gemeinsam und öffentlich auszuhandeln. Der Weg in eine bessere Zukunft führt nicht allein über eine ‘sharing economy’, sondern – da würde auch Paul Mason nicht widersprechen – über eine massive Politisierung unseres gesellschaftlichen Selbstverständnisses und Umgangs miteinander.

Doch ehe wir dieser Spur weiter folgen, werfen wir noch einmal einen Blick auf das andere Fetischsystem, die Digitalisierung als Fortschrittsversprechen.

Fetisch Digitalisierung

Digitalisierung – es lohnt, sich das kurz ins Gedächtnis zu rufen – meinte einmal wenig mehr als den Übergang von analog zu digital codierten elektronischen und anderen Medien. Digitalisierung, das war der Schritt von der Vinyl-Schallplatte zur CD, von der Kleinbildkamera mit dem 135mm-Film zur DigiCam mit digitalen Bildsensoren und Speichermedien. Auch im Bereich von Informationsübertragung, von Beobachtungs- und Steuerungssystemen vollzog sich der mit diesem Begriff beschriebene, zunächst rein technologische Wandel.

So werden an der Universitätsbibliothek Basel Bücher digitalisiert
(Foto: Hadi / Wikimedia Commons)

Mittlerweile meinen wir mit dem Begriff Digitalisierung weit mehr: den Einsatz von computergestützten, datenbasierten und vernetzten Verfahren in allen Bereichen und auf allen Ebenen gesellschaftlicher Wertschöpfung. Die Tatsache, dass digitale Medien und Verfahren schnell, effizient und in der Herstellung und Umsetzung billig sind, hat zur Entstehung völlig neuer Produkt- und Dienstleistungsmärkte geführt, die Wirtschaft und Gesellschaft massiv und nachhaltig verändert haben.

So hat sich um die Digitalisierung eine Fortschrittserzählung gebildet, die kaum noch hinterfragt wird. Die Versprechungen sind gewaltig und reichen von einer Flexibilisierung und Beschleunigung aller Lebens- und Arbeitsbereiche bis hin zu einer intelligenteren Automatisierung lästiger Produktionsroutinen, es ist von lernenden Systemen die Rede, die uns zunehmend auch kognitive Pflichten abnehmen und auf lange Sicht zu einer fast vollständigen Befreiung von ungewollter Arbeit führen könnten.

Zu den tatsächlichen Leistungen der Digitalisierung gehören zweifellos eine einfachere Kommunikation sowie eine bessere Zugänglichkeit von Informationen – dies wird jeder Nutzer von Google oder Wikipedia sofort einräumen. Ob hingegen die versprochene Effizienzsteigerung und Arbeitsentlastung unter den Bedingungen des Kapitalismus wirklich einen gesellschaftlichen Fortschritt bedeutet oder bedeuten kann, darf durchaus bezweifelt werden. Ganz zu schweigen von Segnungen der Digitalisierung wie die chinesischen Überwachungs- und Gesichtserkennungssysteme, die inzwischen als Exportschlager an alle autoritären Systeme dieser Welt verkauft werden, oder die gewaltigen Rechnerparks in Chinas Nordwest-Provinzen, in denen mit dem Energieverbrauch kleinerer Staaten Bitcoin-Mining betrieben wird.

Serverfarm zum Mining von Cryptowährungen in Island
(Foto: Marco Krohn / Wikimedia Commons)

Das digitale Wunschdenken treibt auch sonst merkwürdige Blüten. Der weißrussisch-amerikanische Medienforscher Evgeny Morozov widmet sich in seinem Buch „To Save Everything, Click Here“ (dt.: „Smarte Neue Welt“) einer Glaubenshaltung, die er Solutionismus nennt. Er bezieht sich dabei vor allem auf das Internet und die daran angeschlossenen mobilen und stationären Kommunikationsmittel. Diese haben nach Auffassung der Gläubigen (und der Vermarkter entsprechender Produkte und Dienstleitungen) eine Art digitales Paradies auf Erden geschaffen. In diesem elektronischen Wunderreich findet jedes Problem eine Lösung per App. Ich bin mit mir und meinem Leben unzufrieden? Die passende App erlaubt mir, mein Gewicht, meine Stimmung, meine Diät und meinen Arbeitseinsatz, ja sogar die Quality Time mit meiner Familie und meinen Freunden präzise zu protokollieren und zu optimieren. Ich sehe in meiner Selbstverwirklichung auch eine spirituelle Aufgabe? Die Headspace-App sorgt dafür, dass ich fortan meine Meditationsübungen nicht mehr vergesse. Auch auf gesellschaftlicher Ebene verspricht der Solutionismus Abhilfe aller größeren Probleme. Fragen der Mobilität? Benutze per Smartphone Car-Sharing oder Uber. Einsamkeit? Die Nachbarschafts-App lässt dich nie mehr allein sein, mit Tinder findest du auch noch den passenden Sexualpartner für jede Neigung.

Das mobil erweiterte Internet wird dabei als eine disruptive, revolutionäre Megatechnologie gesehen, als ein weitgehend homogenes System sui generis: Der Fortschritt hat uns das Internet eingebracht, aber es wird keinen Fortschritt über das Internet hinaus geben, jeder weitere Fortschritt findet im Internet statt. Dieses Denksystem hat sich auch immunisiert gegen jede Kritik von außen: Nur Geeks verstehen die Bedeutung des Internets wirklich, und die würden es niemals in Frage stellen. Karl Popper hätte seine Freude: Nun hat nach den vergangenen Jahrhunderten mit Marxismus und Psychoanalyse auch das 21. Jahrhundert seine totalitäre Ideologie, die jedoch nicht als ‚Pseudowissenschaft‘ daher kommt, sondern in Gestalt eines weltumspannenden Marketing-Claims.

Zu recht weist Morozov darauf hin, dass Probleme zum entfalteten Leben in einer offenen Gesellschaft dazu gehören und nicht mithilfe voreiliger Produktversprechen zugekleistert werden sollten. Wenn wir den Lösungsraum für unsere Probleme nur von den vorhandenen oder unmittelbar erreichbaren Technologien her denken, beschränken wir unseren Problemhorizont und damit auch unsere Handlungsfähigkeit. Das Internet, so Morozov, sei nicht geschichtslos, und es sei erst recht nicht das Ende der Geschichte. Die internetbasierten Technologien seien vielfältig und heterogen. Sie bedürften einer differenzierten Betrachtung, Bewertung und, gegebenenfalls, Regulierung.

Die unsichtbaren Hände

Wie der Markt-Fetischismus an eine wohlwollende, unsichtbare Hand des Marktes glaubt, gibt es auch beim Digitalisierungsfetischismus eine unpersönliche, quasi-göttliche Instanz, die mit Wohlwollen unsere Geschicke in die Zukunft führt: es ist der technologische Fortschritt, es sind das Internet und die digitalen Plattformen und Technologien selbst, die alles zum besseren wenden, jedes Problem einer Lösung zuführen.

Für den Kern dieses Glaubenssystems muss man gar nicht die Werbebotschaften aus den Silicon Valleys und Alleys dieser Welt betrachten. Die Vorstellung, dass Technologien selbst Akteure im gesellschaftlichen Wandel seien, findet sich, als Ausgeburt eines post-humanistischen Denkens, auch in der zeitgenössischen Wissenschaft. In der Actor-Network-Theorie des bei Intellektuellen derzeit sehr angesagten französischen Philosophen und Soziologen Bruno Latour etwa sind Gadgets, Applikationen, Technologien selbst handelnde Instanzen, die mehr oder weniger gleichberechtigt neben menschlichen Akteuren Einfluss auf unser Leben nehmen.

Nun ist Latour keineswegs ein fortschrittsgläubiger Verfechter solutionistischer Hoffnungsphantasien, er stellt sich bewusst in den Dienst eines nachhaltigeren Wirtschaftens, kämpft gegen den Klimawandel und bezieht – selbst Konstruktivist – sogar Position gegen sozialkonstruktivistische Versuche, wissenschaftliche Einsichten zu relativieren. Seine Theorie bildet in einem entscheidenden Punkt jedoch selbst einen Baustein des Digitalisierungsfetischs.

Um das zu erläutern, muss ich ein wenig philosophisch hinterfütterten Common Sense mobilisieren. Unsere Alltagssprache macht einen Unterschied zwischen dem Verhalten einer Person und ihren Handlungen. Der erste Begriff ist weiter als der zweite: Wenn ich niese oder aus dem Schlaf hochschrecke, verhalte ich mich. Aber zu einer Handlung gehört mehr. Sie basiert auf Überlegungen, Wünschen, Absichten, Entscheidungen. Mit dem Begriff der Handlung betreten wir das Feld der Psychologie, oder – genauer – dessen, was in der Tradition des österreichischen Philosophen Franz Brentano als Intentionalität bezeichnet wird, wir betrachten die als Handelnde beschriebenen Organismen oder Systeme als Personen.

„Just what do you think you’re doing, Dave? Dave, I really think I’m entitled to an answer to that question.“ (HAL 9000)

Wo Intentionalität beginnt, welche Lebewesen oder Systeme wir als denkende, handelnde Personen betrachten dürfen, ist eine weiterhin ungeklärte (und vielleicht auch unklärbare) Frage. Die Hybris unserer Gattung hat lange Zeit dazu geführt, dass wir – als Krone der Schöpfung – dieses Privileg im Diesseits nur der Gattung Mensch zubilligen wollten. Das ist nicht nur durch die Erkenntnisse aus der Verhaltensbiologie über die Intelligenz von Bonobos, Delfinen oder Krähen, sondern auch durch die Gedankenspiele der Science Fiction mittlerweile erfolgreich in Frage gestellt: der Bordcomputer HAL 9000 in Stanley Kubricks „2001“ hätte vor seiner Abschaltung durchaus Anspruch darauf gehabt, als Person gesehen zu werden, alles andere wäre „Speziesismus“.

Verhalten und Handlungen

Der US-amerikanische Philosoph Daniel Dennett hat schon 1971 in seinem extrem einflussreichen Aufsatz „Intentional Systems“ an Franz Brentano anknüpfend drei Strategien erläutert, wie wir das Verhalten eines Systems erklären. Er tut dies am Beispiel eines Schachcomputers.

  • Die erste Ebene ist laut Dennett die ‚physikalische Einstellung‘. Wir erklären das Verhalten unter Rekurs auf physikalische Gesetze, den Fluss elektrischer Impulse durch die Schaltkreise des Rechners, nach den Prinzipien der Naturwissenschaft.
  • Die zweite Ebene nennt Dennett ‚design stance‘, ich würde das mit ‚funktionaler Einstellung‘ übersetzen. Hier erklären wir das Verhalten des Schachcomputers damit, wie er programmiert ist. Der Programmcode schreibt der Maschine regelhaft bestimmte Verhaltensweisen als Reaktionen auf bestimmte Situationen vor. Interessant ist, dass wir hier die rein deskriptiven Erklärungen der physikalischen Einstellung hinter uns lassen und das System im Hinblick auf ein ‚Sollen‘, also normativ, erklären. Und hier kann etwas schief gehen. Ein Fliegenschiss auf der Platine, und schon macht die Maschine möglicherweise nicht mehr, was sie soll, unsere funktionale Erklärung scheitert, und wir müssen zurückstufen auf die physikalische Strategie, um das Fehlverhalten zu erklären.
  • Auf der dritten Ebene schließlich erklären wir dann das Verhalten des Systems in einer ‚intentionalen Einstellung‘, das heißt unter Rückgriff auf Begriffe wie Überzeugungen, Wissen, Wünsche, Absichten, Entscheidungen. Wir sagen etwa, der Computer hat gesehen, dass du die Königin in eine Position gezogen hast, in der sie seinen Springer bedroht. Um den drohenden Verlust abzuwenden, hat er den Springer beiseite gezogen. Nur auf dieser letzten Ebene betrachten wir den Computer – in diesem beschränkten Handlungsfeld – quasi als einen unseresgleichen, als Person.

Die Wahl des Beispiels ist bedeutsam. Ist ein Schachcomputer nun eine Person oder nicht? Dennett lässt bewusst offen, ob es einen faktischen Unterschied zwischen denkenden und nicht denkenden Systemen gibt. Das macht prima facie auch Sinn, denn im Prinzip kann ich auch das (Nicht-)Verhalten eines Steins intentional erklären: Ich schreibe ihm den Wunsch zu, sich am bequemsten Ort der Welt aufzuhalten, und die Überzeugung, dass der Ort, an dem er liegt, der bequemste Ort der Welt ist. Ergo entscheidet er sich, liegenzubleiben.

Der Schachtürke (Bild: historische Darstellung, Public Domain)

Ich denke jedoch, wir sollten mit der Zuschreibung von Personalität ein bisschen strenger sein. Der Schachcomputer ist wieder ein gutes Beispiel: Er scheint intelligent, aber das Handlungsfeld, in dem wir ihm durchaus erfolgreich ein gewisses Denken unterstellen können, ist extrem eingeschränkt. Selbst wenn er, wie moderne KI-System auf diesem Feld, dazulernen könnte, wäre er unterm Strich doch noch weit davon entfernt, den Anspruch auf Personalität zu rechtfertigen.

Und je komplexer und vielfältiger das System in seinem Verhalten ist, auf je mehr Ebenen es mit uns interagiert, desto informativer und hilfreicher werden unsere intentionalen Erklärungen, desto fehleranfälliger und falsifizierbarer werden sie andererseits auch. Wie die Erklärung des Schachcomputers unter Rekurs auf seine Programmierung scheitern kann, wenn ein physikalischer Defekt dazwischenfunkt, so können auch intentionale Erklärungen scheitern, wenn die zugeschriebenen Gedanken nicht existieren oder ganz anders aussehen als wir dachten. Es mag Grauzonen und Vagheiten geben, aber eine Grenzziehung zwischen denkenden und intelligenten Lebewesen und solchen, die es nicht sind, macht weiterhin durchaus Sinn.

Vor diesem Hintergrund sollten wir uns also überlegen, ob wir es wirklich für sinnvoll halten, Betriebssystemen, Netzwerktechnologien oder Waffensystemen in einem strengen Sinn Handlungsfähigkeit (Actorship) und damit Personalität zuzuschreiben, und ob wir damit nicht vielmehr einer Art Techno-Animismus Vorschub leisten, der dazu beitragen kann, dass Menschen vor diesen Systemen in Andacht und Ehrfurcht erstarren, anstatt sie nüchtern als das zu betrachten, was sie eigentlich sind: Werkzeuge, die wir erschaffen haben, idealer Weise, um es uns bequemer zu machen in der Welt. Und Werkzeuge können ihre Zwecke besser oder schlechter erfüllen, und Menschen von ihnen einen besseren oder schlechteren Gebrauch machen. Wir sollten uns nicht der Verantwortung entziehen, dies im Einzelfall zu analysieren und zu bewerten und unsere Konsequenzen daraus zu ziehen.

In diesem Sinne möchte ich mit drei Thesen fortfahren, die den bisherigen Gang meines Arguments zusammenfassen:

(These 1) Märkte oder Technologien sind keine Akteure, Menschen sind Akteure und müssen Verantwortung für ihr Handeln übernehmen.

(These 2) Technologien sind ebenso wie Wirtschafts- und Finanzsysteme gesellschaftliche Artefakte. Sie sollten im Dienste des Menschen im Kontext seines natürlichen Lebensraumes stehen.

(These 3) Wir müssen sowohl gegenüber dem Fetischsystem Markt/Wachstum als auch gegenüber dem Fetischsystem Technologie politische Handlungsfreiheit zurückgewinnen.

Es geht also darum, den politischen Raum wieder zu öffnen, in dem absichtliches, verantwortliches Handeln unseren Umgang miteinander und mit der Welt bestimmt, in dem Konflikte und Ziele öffentlich ausgehandelt werden, und in dem die Menschen sich frei zusammenschließen können und dürfen, um ihre Interessen auch gemeinsam zu verfolgen.

Republikanismus

Mit diesen Zielen knüpfen wir an eine der ältesten Ideen an, die unser modernes Verständnis von Staat und Gesellschaft geprägt haben: die Idee der Republik. Das Konzept ist als Staatsform nicht eindeutig definierbar. Mal wird es einfach als Gegenbegriff zur Monarchie verwendet, dann wird es wieder mehr an den Begriff des Gemeinwohls gebunden, oder mit dem Begriff der Volkssouveränität in Zusammenhang gebracht. Trotz oder gerade wegen dieser Unbestimmtheiten erweist sich der Begriff in aktuellen Zusammenhängen als durchaus fruchtbar und wird aktuell wieder von Philosophen und Philosophiehistorikern frisch diskutiert.

Nach Vorläufern in der griechischen Staatslehre wie Platon und Aristoteles ist der römische Anwalt, Staatsmann und Publizist Cicero wahrscheinlich der erste richtige Theoretiker der Republik. In seiner Schrift „De re publica“ schreibt er:

„Es ist also das Gemeinwesen die Sache des Volkes. Volk aber ist nicht jede Vereinigung von Menschen, die auf irgendeine Weise zusammengewürfelt wurde, sondern die Vereinigung einer Menge, die sich aufgrund einer Übereinstimmung des Rechts und einer Gemeinsamkeit bezüglich des Nutzens verbunden hat.“

Die Republik ist demnach eine freiwillige Vereinigung von Personen, die zu Bürgern werden, indem sie sich im Sinne des Gemeinwohls (Gemeinsamkeit des Nutzens) zusammenschließen, und entsprechend gemeinsamer Regeln (Übereinstimmung des Rechts) über das gesellschaftliche Zusammenleben (Gemeinwesen) entscheiden.

In gemeinsamer Anstrengung (Bild: Public Domain)

Mit der Gemeinwohlorientierung positioniert sich dieser Republikanismus an einer entscheidenden Stelle anders als unser moderner Liberalismus. Diesem ist der Staat vor allem als Beschränker von Freiheiten lästig. Dem Republikanismus hingegen ist der Staat als Garant der Freiheit wesentlich.

Um diesen Unterschied etwas schärfer fassen zu können, müssen wir uns kurz mit den Grundlagen des modernen Freiheitsbegriffs beschäftigen. Der russisch-britische Philosoph Isaiah Berlin hat Mitte des 20. Jahrhunderts auf eine Mehrdeutigkeit in diesem Begriff aufmerksam gemacht. Er unterscheidet zwischen einem negativen Freiheitsbegriff (Freiheit VON beschränkenden Bedingungen) und einem positiven Freiheitsbegriff (Freiheit ZU der Verwirklichung der eigenen Bestimmung etc.). Der positive Freiheitsbegriff wurde in der weiteren Diskussion vielfach als unklar und problematisch gesehen und auch ich will ihn hier nicht weiter verfolgen.

Interessant für uns ist jedoch der negative Freiheitsbegriff. Der moderne politische und philosophische Liberalismus leitet aus dem negativen Freiheitsbegriff vor allem ein Gebot der Nicht-Einmischung ab: Der Staat soll sich am besten aus allem heraushalten, jeder Mensch soll so weit es geht tun und lassen können, was er oder sie will.

Nicht nur Ketten beschränken die Freiheit
(Bild: Public Domain)

Nun haben moderne Theoretiker des Republikanismus wie der Philosophiehistoriker Quentin Skinner und der Philosoph Philip Pettit in der historischen Literatur einen anderen, republikanischen Freiheitsbegriff identifiziert, der sich auf subtile, aber wichtige Weise von diesem liberalen Konzept einer Freiheit als Nicht-Einmischung unterscheidet. In der an die römische Antike anknüpfenden republikanischen Tradition wird Freiheit nämlich eher als Nicht-Beherrschung verstanden. Nach dieser Auffassung beschränken die Freiheit nicht nur manifeste Interventionen in das Handeln von Personen, sondern auch Ungleichgewichte in Besitzverhältnissen und Macht, die einen Unterschied in den potentiellen Spielräumen zum Handeln zur Folge haben. In einem krassen Beispiel: Wenn A der Sklavenhalter von B ist, dann ist die Freiheit von B nicht allein durch reale Ketten beschränkt. Auch wenn A der wohlwollendste und kulanteste aller Sklavenhalter ist und B in keiner Weise Beschränkungen auferlegt, sind die Verhältnisse so, dass die Handlungsspielräume von A und B sich massiv unterscheiden.

Égaliberté

Nach dem republikanischen Verständnis bedeutet Freiheit, eine solche Situation nicht zuzulassen. In einer guten Republik sorgt das Gemeinwesen z.B. durch eine faire Steuerpolitik und streng kontrollierte Bürgerrechte dafür, dass derartige Ungleichgewichte an Vermögen und Macht, die Beherrschung ermöglichen und die Freiheit der Bürger bedrohen würden, durch souveräne Selbstbeschränkung ausgeschlossen werden.

Der französische Philosoph Étienne Balibar hat den Begriff der Égaliberté, der Gleichfreiheit geprägt. Ihm zufolge sind die Möglichkeitsbedingungen der Freiheit dieselben wie die der Gleichheit. Er widerspricht damit dem naiven Grundverständnis, dass Freiheit und Gleichheit in einem unvereinbaren Wertekonflikt stehen. Dass es im Sinne eines gemeinschaftlichen Daseins vielmehr um eine Balance der beiden Werte geht, wusste in besseren Zeiten sogar die deutsche FDP. 1971 schrieb der damalige Generalsekretär der Partei Karl-Hermann Flach eine Streitschrift mit dem Titel „Noch eine Chance für die Liberalen“, die sich streckenweise wie ein Manifest des Neo-Republikanismus liest, wie das folgende Zitat zeigt:

„Der unkorrigierte freie Wettbewerb privater Produzenten und Händler erhöht ständig die Ungleichheit in der Vermögensverteilung, weil sich nach dem geheimnisvollen Prinzip des Kapitalismus Vermögen immer dort vorwiegend weiter ansammelt, wo schon welches vorhanden ist. […] Weil diese Art von Freiheit totale Ungleichheit produziert, erzeugt sie auch ein System von Unfreiheiten bei der Mehrheit.“

(Karl-Hermann Flach: Noch eine Chance für die Liberalen)

Wenn wir uns also von den Fetischsystemen Markt und Digitalisierung und ihren vermeintlichen ‚unsichtbaren Händen‘ trennen, indem wir den politischen Raum wieder neu eröffnen und aktiv besetzen, dann sollten wir das beflügelt vom frischen Wind eines republikanischen Freiheitsbegriffs tun, der das alte Gefäß unseres demokratischen Rechtsstaats im Rückgriff auf große Traditionen neu beleben kann. Wir sollten Bedingungen erstreiten, in denen größtmögliche persönliche Entfaltung im Rahmen einer souveränen Bindung ans Gemeinwohl steht. Das wäre dann eine Gesellschaft, in der ein Maximum jener Freiheit möglich würde, die wir meinen.

Und da ich in diesem langen Argumentationsgang bislang nur Männer habe zu Wort kommen lassen, möchte ich nun mit einer kleinen feministischen Fußnote schließen, indem ich drei Frauen vorstelle, die bereits in dieser Richtung arbeiten oder gearbeitet haben:

  • Die Europa-Visionärin Ulrike Guérot fordert seit Jahren eine Europäische Republik und beruft sich dabei auch auf die Neo-Republikaner Skinner und Pettit, sowie auf Étienne Balibar. Mein Text verdankt ihr wesentliche Anregungen. Guérot bezeichnet den Weg zu einer „RePublik Europa“ als „3-stufige Rakete“:
    • bürgerliche Gleichheit (Gleichheit vor dem Recht / gleiches Recht für alle)
    • gemeinsame politische Rechte (gleiches allgemeines Wahlrecht)
    • soziale Teilhaberechte (Existenzsicherung, Chancengleichheit und Bildung)
  • Die charismatische italienisch-amerikanische Ökonomin Mariana Mazzuccato, die mittlerweile weltweit Regierungen und politische Parteien berät, fordert eine Neubestimmung des ökonomischen (Mehr-)Wertbegriffs. Ihrer Meinung nach sollten Staaten zu strategischen Investoren werden, die gemäß gesellschaftlich erhandelter Zielvorgaben eine missionsgesteuerte Investitionspolitik für Innovationen betreiben.
  • Die 2012 verstorbene Nobelpreisträgerin für Wirtschaft (2009) Elinor Ostrom schließlich hat empirisch über die erfolgreiche gemeinsame Bewirtschaftung geteilter natürlicher Ressourcen geforscht. Ihre Widerlegung der klassischen ökonomischen Theorie kann man in einem einzigen wunderbaren Satz zusammenfassen (Ostroms Gesetz):

„Was in der Praxis funktioniert, muss auch in der Theorie möglich sein.“

(Elinor Ostrom zugeschrieben)

Eine englischsprachige Version dieses Essays gibt es auf meinem privaten Blog Scarlatti. (llm)

Lorenz Lorenz-Meyer
Lorenz Lorenz-Meyer ist seit 2004 Professor für Onlinejournalismus an der Hochschule Darmstadt. Nach seiner philosophischen Promotion an der Uni Hamburg arbeitete er von 1996 bis 2001 als Redakteur bei Spiegel Online und Zeit Online. Im Anschluss war er Internetberater für die Bundeszentrale für politische Bildung und die Deutsche Welle.

13 Kommentare

  1. Lieber Lorenz, interessant und informativ. Jetzt wüsste ich gern, wie wir der besseren Republik konkret am besten näher kommen. Und wo die Grenze im Graubereich zur Person verlaufen soll, wenn sie nicht speziesistisch sein kann.

  2. Lieber Thomas, wie macht man Politik? Man verlässt seine individualistischen oder kleinfamiliären Lebenskapseln und organisiert sich. Man verständigt sich über gemeinsame Ziele, sucht Allianzen mit jenen, die die gleichen Ziele verfolgen, sucht Kompromisse mit anderen, bei denen es Überschneidungen in den Zielen gibt. Mann arbeitet an der Verwirklichung dieser Ziele und bekämpft diejenigen, die dem grundsätzlichen Wertekonsens widersprechen. Die bessere Republik ist eine, die sich auf eine breite Teilhabe und eine konstruktive Herangehensweise der Beteiligten stützen kann. Das ist vielleicht trivial und auch ein bisschen vage. Aber ich kann mir vorstellen, dass das auch ganz gut so ist. Ich habe an anderer Stelle das Bild des Sternmarsches gebraucht. Man kommt von ganz unterschiedlichen Startpunkten, aber man peilt dasselbe Ziel an.

    Und was deine zweite Frage angeht: Kriterien der Personalität bauen immer auf einer gewissen Vertrautheit auf. Unter ‚unseresgleichen‘, also unter Personen desselben Kulturkreises ist unsere Kenntnis der anderen für gewöhnlich bereits hinreichend fundiert. Hier fällt es uns auch leichter, für einzelne Personen die Grenzen zwischen Handlungen und bloß getriebenem Verhalten zu ziehen. Experten tun dies zum Beispiel mit dem juristischen Begriff der Zurechnungsfähigkeit.

    Wenn wir die Grenzen des Vertrauten verlassen, wird es schwieriger, denn der Begriff der Personalität ist auf ein breites und reichhaltiges Verständnis des Gegenübers angewiesen. Wenn wir andere Spezies (Oktopusse, Raben, Aliens,…) also im Hinblick auf ihre Personalität beurteilen wollen, müssen wir uns zunächst einmal sehr sehr intensiv mit ihnen beschäftigen. Du weißt, nach Donald Davidson müsste es sogar eine gemeinsame Sprachpraxis geben, d.h. dass wir Gedanken nur zuschreiben dürfen, wenn wir auch Sprechakte interpretieren können. Aber auch die Grenzen dessen, was Sprache ist, sind ja nicht so klar zu ziehen.

  3. Lieber Lorenz, vielen Dank für diese ebenso ambitionierte wie reichhaltige Analyse mitsamt Lösungsvorschlag. Obwohl ich mit dem allgemeinen Tenor Deiner Zeitdiagnose als auch Deines Lösungsvorschlages sympathisiere, scheinen mir sowohl Deine Diagnose als auch Dein Therapievorschlag zu eng gefasst. Der Aberglaube an die heilsamen Kräfte des Marktes und das blinde Vertrauen in technologischen Fortschritt sind gewiss vom Übel, aber meines Erachtens nur zwei Ausprägungen eines allgemeineren Denkhaltung, die sich allein an Handlungsergebnissen und Nützlichkeiten orientiert. Obwohl ich sogar zu den Gründungsmitgliedern der deutschen „Gesellschaft für Utilitarismusstudien“ gehören, halte ich zunehmend die Denkhaltung, die dem Utilitarismus und seine Nachfolgerideologien zugrunde liegen, für das eigentliche Unglück unserer Zeit. Der Markliberalismus á la Hayek und Milton Friedman ist nur eine von vielen fatalen Ausprägungen dieser Denkart. Apropos Liberalismus: Mir scheint, dass Du einem sehr engen, US-amerikanisch geprägtem Verständnis von Liberalismus zuneigst, das von einem „atomistischen“ Individualismus, einer Skepsis gegenüber Staat und Politik und blindem Marktglauben geprägt ist. Das scheint mir aber nur auf den rechten Flügel des Liberalismus zuzutreffen, der oft auch als Libertarianismus bezeichnet wird. Der Liberalismus ist meines Erachten sehr viel breiter. Entgegen dem, was Du an manchen Stellen zu suggerieren scheinst, ist der nicht-libertäre Liberalismus meines Erachtens weder „atomistisch“ noch anti-kollektivistisch. Auch der von Dir als Teil einer möglichen Lösung angesehene Neo-Republikanismus gehört in meinen Augen klar in die liberale Tradition. Wie Du sympathisiere auch mit dem sehr viel ambitionierteren Freiheitsbegriff der Neo-Republikaner. Aber ich bezweifle, dass der Neo-Republikanismus allein als Antidot gegen die Vorherrschaft utilitaristischer Denkweise ausreicht. Die Tatsache, dass Philip Pettit (wenn auch kein Utilitarist, so doch) bekennender Konsequentialist ist, gibt mir zu denken. Jedenfalls scheint mir, dass wir neben Liberty und Égalité auch wieder über (echte) Fraternité nachdenken sollten.

    1. Lieber Markus, danke für deine detaillierte Replik. Dass der Begriff des Liberalismus mindestens mal auf eine breitere und reichere Tradition zurückgreifen kann, habe ich versucht mit dem Hinweis auf Karl-Hermann Flach anzudeuten. (Ich habe ihn tatsächlich schon im Jahr 1971 gelesen, und er hätte mich damals fast dazu bewegt, Mitglieder der Jungdemokraten zu werden, der damaligen Jugendorganisation der F.D.P. Ich habe mich dann aber dank des Charismas von Willy Brandt für die Jusos entschieden.) Deine kritische Haltung gegenüber dem Utilitarismus kann ich nachvollziehen, bin mir selbst aber in dieser Frage noch nicht vollständig sicher. Schön finde ich den Hinweis auf einen Bedarf an Fraternité – wobei ich finde, dass das Zeitalter des Patriarchats definitiv überholt ist und wir eher über eine Soeurité nachdenken sollten.

  4. Lieber Lorenz, ich habe „fraternité“ bewusst nicht übersetzt, weil meines Erachtens schon in der Französischen Revolution unklar war, was genau gemeint ist. Aber ich bezweifle sehr, das dieser Wert nur die halbe Menschheit meint. Auch deutschen Anhänger der Revolution, die bei „fraternité“ tatsächlich mit „Brüderlichkeit“ übersetzten, wollten nicht das Patriarchat feiern. Wenn es bei Schiller/Beethoven heisst: „Alle Menschen werden Brüder“ dürfen – und sollen – auch die Frauen im Chor mitsingen. Vielleicht sollte man geschlechtsneutral von „Solidarität“ sprechen. Aber auch hier könnte es (aufgrund der Wurzeln dieses Ausdrucks im römischen Vertragsrecht) Konnotationen geben, die manche für nicht pc halten.

  5. Da in dem Text mehrfach von der ‚unsichtbaren Hand‘ des Marktes die Rede ist: Der Historiker Rudolf Walther belegt mit seinem Text in der Wirtschaftszeitung OXI überzeugend, dass Verkünder des Marktradikalen diesen von Adam Smith verwendeten Begriff aus dem Zusammenhang rissen, um ihn und damit auch Smith propagandistisch für ihre Zwecke missbrauchen zu können.
    https://oxiblog.de/adam-smith-menschenfreund-oder-agent-der-unsichtbaren-hand/

    1. Lieber Heinz,

      danke für deine interessante und wertvolle Antwort. Sie bereichert die Diskussion nicht nur um einen Aspekt, sondern um eine ganze Dimension. Ich glaube jedoch, dass sie meine Kritik weder schwächt noch gar widerlegt.

      Ich versuche zunächst einmal, zwei Ansätze, die du zum besseren Verständnis von Latours Theorie anführst, zu isolieren, um diese dann separat zu beantworten:

      (1) Du schreibst: "Wenn ich ihn richtig verstehe, dann ordnet Latour Agency nicht isolierten Entitäten zu, also z.B. technischen Gadgets. Agency kommt durch Netzwerke zusammen (sic! Meinst du eventuell: "zustande"?), die Entitäten miteinander verbinden, und damit, so verstehe ich es, Handlungsmacht gewinnen und auch auf ihre Komponenten transferieren."

      (2) Zur weiteren Erläuterung, wie es möglich ist, dass solche Netzwerke, von denen ich jetzt einmal annehme, dass sie nicht nur menschliche Akteure, sondern auch Technologien umfassen, "Handlungsmacht gewinnen und auf ihre Komponenten transferieren", führst du dann die Begriffe der "Rolle" und des "sozialen Sinns" an. Du schreibst erläuternd: "Wenn ich eine Rolle habe, dann hängt der Sinn dessen, was ich tue, von dieser Rolle ab. Ich könnte auch sagen: Meine Handlungsmacht, meine Agency, ist an diese Rolle gebunden. Wenn ich als Lehrender sage, dass ein Text gut ist, dann beurteile ich ihn und mit mir, auf welche Weise auch immer, die Hochschule oder die Disziplin, in deren Namen ich spreche. Ich bin ein anderer Akteur als das Individuum meines Namens (das in Verbindung mit diesem Namen aber auch wieder Rollen hat)."

      (1) Netzwerke als Akteure

      Beginnen wir mit dem ersten Punkt, zunächst noch in einem ganz naiven Sinne: Macht es Sinn, Netzwerken von Systemen – egal welcher Provenienz – Intentionalität zuzusprechen? Die Antwort lautet, in einem für moderne wissenschaftlich gebildete Menschen ganz unmittelbar einleuchtenden Sinne: Ja, klar! Denn der Prototyp eines intentionalen Systems, die menschliche Person, ist nichts anderes als ein Netzwerk subpersonaler Systeme (je nach Betrachtungsebene: der Organe, der Zellen, etc.), und Personalität hängt in einem ganz wesentlichen Sinn von einem Netzwerk par excellence ab, nämlich dem Gehirn, dem größten und umfassendsten neuronalen Netzwerk in unserem Körper.

      Wenn man etwas genauer hinschaut, schließen sich hier natürlich eine Reihe von weiteren Fragen an, die die Ausgangsfrage mit ihrer naiven Antwort ein bisschen verkomplizieren. Kann man einem Organismus wie dem menschlichen Körper oder gar Hirn strikt für sich betrachtet Personalität zuschreiben? Hängt das nicht vielmehr von natürlichen und sozialen Umgebungsbedingungen ab, die das menschliche Individuum, für sich betrachtet, gar nicht alleine bereitstellen könnte? So etwas wie natürliche und soziale Umwelt, eine mit anderen Personen geteilte Sprache, etc.? Könnte das vielzitierte ‚Gehirn im Fass‘, wenn es nicht sensorisch und motorisch mit einer so aufgerüsteten Umgebung verknüpft wäre und mit ihr interagieren könnte, wirklich fühlen, denken, hoffen? Ich glaube, hier ist Skepsis angebracht.

      Und diese Überlegung weist schon ein bisschen voraus in Richtung deines o.a. zweiten Punktes: Intentionalität, Personalität, kommen einem menschlichen Individuum nicht in Isolation zu, sondern nur in einem entsprechend angereicherten Kontext. Dennoch ist die Person hier nicht Organismus PLUS Kontext, sondern der lebende, funktionierende menschliche Organismus IN einem solchen Kontext.

      Ehe ich auf deinen zweiten Punkt eingehe, noch ein paar Überlegungen zu einem anderen Aspekt dieser ersten Frage: Können wir denn eventuell Netzwerken höherer Stufe, deren Knoten selbst autonom agierende Organismen sind, Personalität zusprechen? Ich halte das nicht für ausgeschlossen, aber ich halte es in einigen naheliegenden Anwendungsfällen gleichwohl für sehr problematisch.

      Betrachten wir als erstes Beispiel einen Ameisenhaufen: Viel spricht dafür, dass, auch wenn die einzelne Ameise noch ein System von relativ geringer kognitiver Leistungsfähigkeit ist, der Haufen in der Gesamtbetrachtung eine höhere Stufe intelligenter Adaptivität erreicht. Intelligenz scheint hier eine emergente Qualität des Haufens, bzw. des Netzwerkes zu sein. Und auch wenn wir vielleicht immer noch zurückhaltend damit sind, einen Ameisenhaufen als Person zu betrachten, ist es keine Überstrapazierung unserer Imagination zu sagen: Es ist denkbar, dass wir eines Tages einem Haufen begegnen werden, mit dem wir kommunizieren, Verträge schließen, in den wir uns vielleicht sogar verlieben könnten…

      Wie verhält es sich mit Agglomerationen von Organismen, die wir einzeln betrachtet schon als intentionale, denkende Systeme betrachten dürfen? Also beispielsweise Vereine, Unternehmen, soziale Klassen, Gesellschaften, deren ‚Komponenten‘ natürliche Personen sind? Es ist verlockend, einen Verbund selbst als Person sehen, wenn wir doch Absichten, Befürchtungen, Gefühle seiner Mitglieder bereits kennen, und wissen, dass diese das Verhalten des Verbunds nicht nur beeinflussen, sondern in vielen Bereichen geradezu definieren. Deshalb kennt unser institutionell ‚angereicherter‘ Common Sense zum Beispiel den Begriff der Rechtsperson, der nach meinem laienhaften Verständnis über den Begriff der natürlichen Person hinausgeht und zum Beispiel auch Unternehmen und Körperschaften umfasst.

      Das leuchtet mir ein: Man kann durchaus sinnvoll davon sprechen, Unternehmen ‚zur Verantwortung zu ziehen‘, auch wenn es sich hier um einen uneigentlichen Begriff der Verantwortung handelt. Es liegen dem Verhalten dieser Unternehmen Entscheidungen verantwortlicher Akteure zugrunde, und insofern gibt es das gesellschaftliche Konstrukt einer rechtlichen Verantwortung auch der ‚institutionellen Akteure‘, selbst wenn diese in einem starken Sinn selbst keine Wahrnehmungen, Wünsche oder Überzeugungen haben und Entscheidungen treffen, sondern ihr Verhalten nur die Konsequenz der Intentionalität ihrer personalen Sub-Akteure sind.

      Wie heikel es aber ist, wenn man diese Unterscheidung zwischen eigentlich und uneigentlich aufweicht, zeigen die USA, wo der Verfassungsgerichtshof Unternehmen unter gewissen Bedingungen Verfassungsrechte zugesprochen hat, die eigentlich nur Bürgern eines Staates zukommen sollten. So wurde im Jahr 2010 im Fall Citizens United vs FEC entschieden, dass auch Unternehmen die im ersten US-Verfassungszusatz garantierte Redefreiheit in Anspruch nehmen können. Damit wurde es möglich, dass große und finanzstarke Unternehmen und politische Organisationen im gleichen Sinne wie einzelne Bürger politische Kampagnen und Anzeigen finanzieren dürfen, die spezielle politische Kandidaten stützen oder bekämpfen. Dass hier ein Ungleichgewicht an Finanzmacht und Reichweite zugunsten der Unternehmenswelt und zuungunsten der individuellen Staatsbürger entsteht, nahm der Verfassungsgerichtshof in Kauf – mit katastrophalen Folgen, wie man an den letzten Wahlkämpfen in den USA sehen konnten.

      Auch hier sieht man: Die Aufweichung eines starken Begriffs der Personalität oder Agency ist außerordentlich gefährlich.

      (2) Agency von Rollen und sozialer Sinn

      Kommen wir zu dem zweiten Punkt, der Bedeutung von "sozialem Sinn" und "Rollen". Fangen wir mit den Rollen an. Hier würde ich zunächst unterscheiden wollen zwischen sozialen und institutionellen Rollen. Beginnen wir mit dem letzteren Fall, und deinem Beispiel von uns beiden als Lehrenden. Als verbeamteter Professor vollziehe ich – zum Beispiel in Form von Prüfungen – Akte, die über eine im strikten Sinne persönliche Handlung hinausgehen. Hier handelt es sich um institutionelle Prozesse, denen notwendigerweise meine persönlichen Handlungen zugrundeliegen: mein Aufschreiben oder Aussprechen einer Note, zum Beispiel, als Grundlage der Graduierung einer Studentin. Diese haben aber Rahmenbedingungen, die meine Handlung beeinflussen (mein Diensteid, meine Sorgfaltspflicht etc.) und Konsequenzen, die institutionell sanktioniert sind (ein Wechsel im Ausbildungsstatus der betroffenen Person). Wer meine Handlung in Frage stellt, stellt in gewisser Weise auch den institutionellen Rahmen in Frage, unter dem sie zustandegekommen ist. Aber grundsätzlich bleibe ich dabei als handelnde Person intakt. Meine Handlung steht unter besonderen Rahmenbedingungen, aber es bin immer noch ich, der nach bestem Wissen und Gewissen handelt, es ist im Normalfall und von der Intention her nicht so, dass ein schieres Verhalten (z.B. Niesen, Gebrabbel) meiner Person ohne zureichende Handlungsgründe als Akt in diesem Sinne verstanden werden könnte. Meine Handlungsgründe berücksichtigen den besonderen institutionellen Charakter meines Tuns, dieser institutionelle Hintergrund macht aber nicht jemand anderen zum handelnden Subjekt.

      Wie ist es nun, wenn wir diese besonderen institutionellen Rollen beiseite stellen, und generell betrachten, wie soziale Rollen unser Handeln beeinflussen? Handeln verschiedene Akteure, wenn ich in meinen Rollen als Ehemann, als Sohn, als Professor oder als philosophierender Alt-Hippie etwas tue? Das ist in meinen Augen Unfug.

      Rollen sind merkwürdige Dinge. Ontologisch gesehen sind sie ‚dependente Partikularien‘. Was heißt das? Das anschaulichste Beispiel sind Oberflächen. Die Oberfläche eines Gegenstands ist ein konkretes Einzelding, aber es kann sie nicht geben ohne das Ding, dessen Oberfläche sie ist. So auch meine Rollen – gäbe es mich nicht, es gäbe auch die konkreten Rollen nicht, die ich spiele. Und wie die Oberfläche einen Gegenstand begrenzt, limitieren meine Rollen in gewisser Weise meine Handlungsspielräume.

      Anders als Oberflächen sind Rollen jedoch ihrem Charakter nach Entitäten, die nicht nur direkt von der Beschaffenheit ihres ‚Trägers‘ abhängen, sondern von komplexen sozialen und natürlichen Relationen und Rahmenbedingungen bestimmt sind: Meine Rolle als Professor gäbe es nicht ohne die Institution der Hochschule, meine Rolle als Ehemann nicht ohne die bürgerliche Institution der Ehe, meine Rolle als Sohn nicht ohne die biologische Struktur der geschlechtlichen Fortpflanzung.

      Bedeutet das, dass nicht ich es bin, der in diesen Rollen handelt? Bin nicht ich, der bei einer Gelegenheit in seiner Rolle als Professor eine Prüfung abnimmt, dieselbe Person, die gelegentlich auch als philosophierender Alt-Hippie beim Klang von Brian Enos Ambientmusik über Donald Davidson nachdenkt? Ist der Akteur, wenn ich meine Vorlesungen vorbereite, ein anderer, als wenn ich meine Spotify-Playlist mit psychedelischer Musik starte? Agieren hier irgendwelche Akteursnetzwerke (also soziokulturell-technologische Artefakte) durch die Rollen hindurch? Die Rollen selbst? – Oder nicht doch einfach die eine Person, von deren Rollen wir hier sprechen, in eben jenen Rollen?

      Ich sage es mal etwas boshaft: Wie so oft bei modischer französisch inspirierter Theorie klingt das irgendwie toll, weil es mit viel blumiger Rhetorik verfasst ist: "Sozialer Sinn" wird durch "Rollen" irgendwie konstruiert, die nicht von mir allein kontrolliert werden, und dies bedeutet dann irgendwie, dass diese sozial konstruierten Rollen quasi überpersönlich durch mich hindurch agieren, mir gar erst meine Handlungsmacht verleihen etc. Aber das hält im Normalfall einer näheren Betrachtung einfach nicht stand. Schlimmer noch: Es ist in meinen Augen schiere Ideologie.

      Die Wahrheit ist viel einfacher: Wir handeln unter natürlichen, sozialen und institutionellen Constraints. Manche dieser Rahmenbedingungen beeinflussen unser Handeln zwingend und ohne Möglichkeiten unserer bewussten Einflussnahme: Wenn wir komplett übermüdet sind und während eines Tuns unwillkürlich einschlafen, dann hat unser Handeln, selbst wenn es noch so wohl intendiert war, für eine Zeitlang ein natürliches Ende. Oder: Wenn ich wegen Fehlverhaltens meine Professur verliere, kann ich in Folge – beste Absicht hin oder her – keinen Studenten mehr zum Bachelor oder Master graduieren. Das gilt, egal ob ich darum weiß oder nicht, und ich kann daran unmittelbar, im Entscheidungsprozess, nichts ändern.

      Andere Rahmenbedingungen beeinflussen mich eher indirekt, zum Beispiel in Form von Erwartungen, die an bestimmte Rollen gestellt werden, und denen ich mehr oder weniger gerecht zu werden versuche. Sie gehen selbst als Abwägungsgründe in mein Handeln ein, obwohl sie von außen geprägt oder bestimmt sind. Ich weiß: Ein guter Sohn besucht seine Mutter regelmäßig, ein guter Professor erzählt keine politisch inkorrekten Witze, etc. Diese Rollenconstraints zwingen mich nicht zu einem bestimmten Handeln, sondern sie sind eher so etwas wie Gravitationsfelder, die mein Handeln beeinflussen, oder wie Gummibänder, die mein Handeln mehr oder weniger stark in eine bestimmte Richtung ziehen, denen ich mich aber in meiner Handlungsentscheidung widersetzen kann.

      Wechseln wir nun die Perspektive und begeben uns in die Position des Interpreten einer handelnden Person. Sich auf das Verhalten einer Person einen Reim zu machen, schieres Verhalten von echten Handlungen zu unterscheiden und letztere wiederum unter Rekurs auf Handlungsgründe zu verstehen, ist eine schwierige Aufgabe. Deshalb versuchen wir, so gut es geht, Ordnung in dieses unübersichtliche Geschehen zu bringen. Hier kann nun der Begriff der Rolle tatsächlich hilfreich sein. Er liefert jeweils interessante Querschnitte durch das komplexe soziale Gefüge vieler Personen und hilft mir, aufgrund von Ähnlichkeiten in diesen Querschnitten dem Verhalten einer einzelnen Person Sinn zuzuschreiben (Sinn heißt hier: Inhalte von Überzeugungen, Wünschen, Erwartungen, Absichten, etc.).

      Zum Beispiel: "Komisch, hier verhält sich Kuno anders als wir ihn sonst kennen. Warum nur? Ah, weil er sich in Gesellschaft alter Klassenkamerad:innen befindet, und somit in seine alte Rolle als Pennäler zurückfällt!" Das heißt nicht, dass da eine andere Person als Kuno oder gar seine Pennälerrolle selbst irgendwie handelt, sondern dass ein und dieselbe Person Kuno in einer bestimmten Situation, die seine Rolle triggert, ein bisschen anders handelt als sonst. Wir abstrahieren hier zunächst von Kunos persönlicher Rolle als ‚dependent particular‘ (qua Grenz- und Rahmenbedingungen seines ganz persönlichen Verhaltens) und sprechen über etwas Generisches, über einen Typus von Handeln, den Kuno mit anderen Subjekten teilt, und der es uns dann leichter macht, Kunos auf den ersten Blick ungewöhnliches Verhalten als Handeln unter den konkreten Constraints seiner in diesem Moment aktivierten persönlichen Rolle als endloser Pennäler zu verstehen.

      In all diesen Überlegungen war jetzt von Technologien und technologischen Rahmenbedingungen unseres Handelns gar nicht die Rede. Aber was schon im Zusammenspiel menschlicher Akteure und sozial geprägter Institutionen gilt, gilt meines Erachtens a fortiori auch für Technologien. Weder spricht und handelt die Hochschule durch mich hindurch, wenn ich eine Prüfung abnehme, noch sprechen Apple oder das MacOS durch mich hindurch, wenn ich diese Prüfung via Facetime abhalte. Das Internet hat mein Handeln jetzt seit über 25 Jahren entscheidend geprägt, aber das heißt nicht, dass das Internet durch mich hindurch handelt, es bin immer noch ich, der im Umgang mit dem Internet und beeinflusst durch das Internet handelt. Dieser Einfluss, den die Technologie ohne Zweifel auf mein Handeln hat, macht das Internet ebensowenig zum Akteur, wie der Einfluss des guten oder schlechten Wetters auf meine Stimmung einen handelnden Wettergott verlangt.

      Noch einmal: Natürlich sollten meine Interpreten wissen und in ihrer Interpretation berücksichtigen, dass ich ein Internet-Geek bin. Es gehört zum "sozialen Sinn" meines Handelns, dass ich angesichts des Internet, und auch im Internet handele. Damit wird aber das Internet immer noch nicht zum Akteur, Latour hin oder her.

      Soweit erstmal, lieber Heinz. Ich bin gespannt auf deine Entgegnungen.

      Liebe Grüße und bis bald, Lorenz.

  6. Äußerst hilfreiche Denkanregungen – ! Übrigens: Ist das „Fetisch“- oder „Glaubens“-Duo „Marktliberalismus“ und „Digitalisierung“ (grob gesagt) evtl. noch etwas, das das Ganze zum „Trio“ macht? Ich hörte jüngst häufiger Hinweise, dass seit der Bankenkrise 2008 wir einerseits auf eine spezielle Art „Finanzkapitalismus“ zusteuern, andererseits nun sogar auch auf eine erstaunlich „deregulierte“ Form des „Staatskapitalismus“ (der dann eigentlich eine Art „(Schatten-)Banken-Kapitalismus“ wäre) zusteuern. Das, was Piketty in seinem Buch über die primäre steigende Ungleichverteilung der Vermögen seit dem 15. Jh. schreibt, scheint in der von euch erläuterten Perspektive sich ja strukturell so zu verhärten, dass sogar das (volatile) „liberale“ eines Marktgeschehens unterlaufen wird.
    – Im übrigen dürfte bemerkenswert sein, dass beide „Fetisch“-Systeme mit dem Aufkommen eines typisch okzidentalen „Individualismus“ (oder sollten wir besser „Monadisierung“ und „Vereinzelung“ sagen? … und seiner Ableger bis hin zur Kleinfamilie) und der Überbetonung je scheinbar einzigartiger/einzelner Bedürfnisstrukturen einhergehen; wobei der individualistische „Anschein“ täuscht, wenn die digitalisierten Bedürfniserfüllungsstrukturen uns letztlich doch wieder statistisch über einen Kamm scheren.

    1. Danke für die Anmerkungen, Uwe Peschka! Der Individualismus ist die ideologische Basis und zugleich die Schwachstelle des marktliberalen Glaubenssystems. Andererseits gibt es die Power eines auf Big Data basierenden individualisierten Marketings, das uns eben nicht mehr statistisch „über einen Kamm schert“, sondern mittels fein abgestimmter individueller Ansprache auch noch das letzte Konsumpotential aus dem Markt herauszukitzeln versucht. Die letzte Zielgruppe der neuen Marketing- und Propagandamaßnahmen ist das mit Hilfe der sozialen Medien präzise vermessene Individuum.

      Die Sache mit dem Trio am Anfang habe ich allerdings nicht verstanden: Was wäre denn das dritte Fetischsystem? Der Staat, der im Sinne des Finanzkapitals interveniert und immer weiter dereguliert? Das wäre dann aber weniger ein Fetisch (an den alle glauben sollen), sondern eher ein versteckter struktureller Faktor, der den Marktliberalismus am Leben hält, oder?

      1. … ja, es wäre wohl eher ein „struktureller“ Faktor. (Es ist ja erstaunlich, wie sehr „unser Staat“, also: unsere Gesellschaft als „staatliche Verfasstheit in seinen Organen“ gerade massiv damit befasst ist, „ihr Kapital“ ((= ganz grob: „unsere Steuergelder“)) an diese Finanzstrukturen zu veräußern … samt unseren demokratischen Kontrollmöglichkeiten.)

        Also formuliere ich es mal ganz provokant (und wohl überzogen; aber das hilft ja manchmal beim Finden neuer Denkmöglichkeiten): Vielleicht mutierte der „demokratische Staat“ mit seiner von uns als unabhängig und in seiner umfassenden Reichweite imaginierten (idealisierten?) Judikative, Legislative und Exekutive selbst langsam zu einer Art „Fetisch“, an den wir mehr glauben sollen als dass seine reale Funktionsfähigkeit (künftig) noch so ohne Weiteres „garantiert“ wäre – würden wir nicht langsam kritisch einspringen, einsprechen etc.

        … vielleicht Off-Topic; und ich hoffe, nicht zu provokant gedacht. Demokratische, selbstbestimmte Verfasstheit ist ja tatsächlich eine täglich neu zu leistende Anstrengung, sozusagen eine Zumutung … und den institutionalisierten Strukturen kann vielleicht auch – unversehens – ihre kritische Lebendigkeit abhanden kommen. (Wir stoßen ja immer wieder auf solche Momente auf verschiedensten Ebenen, in denen die gesellschaftlichen Interessen durch politische Organe über Dynamik staatlicher Institutionen sich „ins Gegenteil“, mithin: in wirtschaftliche Interessen ganz anderer Spieler, ‚verwandeln‘: Autobahn-Maut, WHO-Disaster … aber auch im Detail der Wirtschaftsorientiertheit (-„fixiertheit“) unserer gewählten Volksvertreter. (? – hier also nur laut gedacht, mit Fragezeichen am Ende.)

        1. Da bin ich ganz bei Ihnen: Die gerade viel diskutierte Amthor-Affäre zeigt, dass wir immer wieder von Neuem darum kämpfen müssen, den politischen Raum von der Intervention versteckter wirtschaftlicher Interessen freizukämpfen. (Stichwort: Lobbyregister). Das liegt auch genau meinem Ansatz mit der Wiederbelebung des historischen Republikanismus zugrunde.

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