„Nach der Entwarnung ging der Film weiter“

(Bild: Wikimedia Commons / Bundesarchiv)

Wofür sind die öffentlich-rechtlichen Medien gut? arte zeigt es mit dem großartigen Zweiteiler „Berlin 1945 – Tagebuch einer Großstadt“ zum Jahrestag der Befreiung Deutschlands am 08. Mai 1945, der noch bis zum 2. August 2020 in der arte-Mediathek zum Abruf bereit steht.

In einer multiperspektivischen Collage (Teil 1 / Teil 2) verbindet Regisseur Volker Heise (Grimme-Preisträger 2003 für „Schwarzwaldhaus 1902“) persönliche Berichte von zahlreichen Zeitzeugen mit Filmmaterial aus den Archiven, das unerwartet nahe dran ist an den Beteiligten, und mit großer Virtuosität auf die einzelnen Erzählungen abgestimmt. Man erlebt die Großstadt Berlin im Jahr ihrer Vernichtung – von manch täuschender Idylle noch in den ersten Frühlingswochen, über das grauenhafte Inferno, das im April bis Anfang Mai über die eigenen Kieze hereinbrach, bis hin zum Ruinenleben unter Besatzern in der zweiten Jahreshälfte.

Dies alles wird aus unterschiedlichsten Perspektiven erzählt: Die junge Büroangestellte geht immer wieder, noch während der Bombenangriffe, ins Kino, schwärmt von den deutschen Filmromanzen und macht sich Sorgen über den Tag, an dem die Russen kommen und sie wegen ihrer Parteimitgliedschaft zur Verantwortung ziehen werden. Der französische Zwangsarbeiter beobachtet aus dem Lager hinter den S-Bahn-Geleisen und von seinen Arbeitsplätzen die Stimmung der verhassten Deutschen. Der junge Flakhelfer erzählt von seinen Einsätzen, von einer willkommenen Auszeit, bis sein Nazi-Onkel ihn zurück ins letzte Gefecht schickt. Die jüdische Mutter schreibt aus ihrem Versteck in verzweifelter Ungewissheit an den deportierten Mann und die nach Weimar verbrachten Kinder, deren weiteres Schickal ihr unbekannt und vollkommen ungewiss ist.

Auch die angreifenden russischen Soldaten kommen in verschiedenen Stimmen zu Wort. Die Regie bedient sich des Kunstgriffs, die Berichte der Ausländer (darunter auch ein französischer Arzt, der in einem Berliner Lazarett arbeitet) in ihrer Originalsprache einsprechen zu lassen. Das verstärkt zugleich den Eindruck der Distanz und extremen Anspannung, die zwischen den Protagonist:innen besteht, wie auch das Gefühl einer fast alle Beteiligten umfassenden, tragischen Humanität.

Der Film kommt – abgesehen von ein paar an- und abmoderierenden Sätzen – ohne jeden einordnenden Kommentar aus, der Sog der Geschichten und Bilder, sowie die zwischen den verschiedenen Erzählperspektiven entstehende Tiefenschärfe sind so stark, dass dieses unfassbare Stück Weltgeschichte in dieser, meiner Großstadt in einem Maße erlebbar wird, wie ich es mir auch nach vielen Jahren historischer Erziehung nicht vorstellen konnte.

Lorenz Lorenz-Meyer
Lorenz Lorenz-Meyer ist seit 2004 Professor für Onlinejournalismus an der Hochschule Darmstadt. Nach seiner philosophischen Promotion an der Uni Hamburg arbeitete er von 1996 bis 2001 als Redakteur bei Spiegel Online und Zeit Online. Im Anschluss war er Internetberater für die Bundeszentrale für politische Bildung und die Deutsche Welle.

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