Nachricht und Kontext
Viele Journalistinnen und Journalisten sehen in der Nachricht das zentrale und wichtigste Produkt ihres Geschäfts. Schnell, präzise, nüchtern und neutral hilft sie dem Publikum, im Weltgeschehen auf dem Laufenden zu bleiben. Morgens, zum Einstieg in den Tag, abends, als sein Résumé, und dazwischen gelegentlich im Alarmmodus, wenn sich etwas Besonderes ereignet hat – der Fluss der Nachrichten fordert immer wieder unsere Aufmerksamkeit und belohnt uns dafür mit der Chance, informiert an einer gemeinsamen Öffentlichkeit teilzuhaben.
Dabei sind Nachrichten eine journalistische Form, die immer des Kontextes bedarf. Denn sie beschreiben ausschließlich Ereignisse, und die Welt besteht nicht nur aus Ereignissen. Schon der große Bruder des Ereignisses, der länger währende Prozess, kommt in der Nachricht zu kurz (oder ist ihr zu lang). Ganz zu schweigen von den eher statischen Weltausschnitten, den Zuständen, Situationen, Lagen, in denen wir uns notwendigerweise befinden. Nachrichten leben vom Akuten, von der plötzlichen Änderung. Auch ihre Auswahl wird letztlich durch den Gang der Ereignisse bestimmt, und nicht durch ein ausgewogenes Bedarfsbild aller für das Publikum relevanten Lebensumstände.
Der notwendige Kontext, ohne den die Nachrichten nur ein lückenhaftes Bild der Wirklichkeit vermitteln, besteht unter anderem aus einer Darstellung wichtiger Hintergründe und aus einer Einordnung des aktuellen Geschehens in diese Hintergründe, sowie einer exemplarischen Bewertung. Der Journalismus trägt diesem Einordnungsbedarf Rechnung durch die Bereitstellung anderer journalistischer Formen, wie der ausführlicheren Hintergrundberichterstattung in Feature und Reportage, der Analyse und letztlich den wertenden Formen wie Kommentar und Leitartikel. Und im klassischen Journalismus findet die geschilderte Kontextualisierung im journalistischen Produkt oder Format selbst statt: Die Zeitung beispielsweise bettet die Nachricht unmittelbar in Hintergrundberichterstattung und Analyse ein und auf der Meinungsseite findet die Leserin exemplarische Bewertungen. Im informationsorientierten Rundfunk folgt auf die Nachrichtensendung das hintergründigere Magazin mit Einordnung und Bewertung.
Was der Journalismus darüber hinaus selbst nicht zu leisten vermag, obliegt traditionell der Obhut der Bildungsinstitutionen, der Schulen, Hochschulen und Weiterbildungseinrichtungen. Sie stellen das notwendige Allgemeinwissen bereit, das zum Verständnis journalistischer Inhalte vonnöten ist.
Im traditionellen Idealbild einer offenen, demokratischen Gesellschaft entsteht auf diese Weise eine Öffentlichkeit, die jederzeit Zugriff auf die für Meinungsbildung und Entscheidungsfindung notwendigen Informationen hat.
Journalismus um die Jahrtausendwende
Dieses Idealbild einer wohlinformierten Öffentlichkeit ist nicht allein aufgrund der aufkommenden Dominanz des Internet und der digitalen Kommunikationsmedien immer wieder gefährdet. Werfen wir deshalb zunächst einen kurzen Blick zurück auf den Journalismus im Deutschland des ausgehenden 20. und frühen 21. Jahrhunderts.
Trotz weiterhin meist hervorragender Renditen sorgen im Bereich kommerzieller journalistischer Medien Gewinnorientierung und Zukunftsängste für einen schleichenden Abbau an rechercheintensiven, aufwändigen Formaten und öffnen den Journalismus für leicht zugängliche interessengesteuerte Inhalte aus der PR.
Der Dotcomboom bringt der Branche Ende der 1990er Jahre zunächst eine unverhoffte Blüte, nicht nur des Anzeigengeschäfts. Umso schmerzlicher ist dann der Einschnitt, als die Blase platzt. Viele in erster Euphorie getätigte Investments in neue Formate müssen die Medienunternehmen wieder zurücknehmen, statt der vorwärtsgewandten Strategen übernehmen die Controller das Geschäft. Von einer Herrschaft der “Nullen und Nadelstreifen” spricht in diesem Zusammenhang 2014 die Journalistin Katja Kullmann in einem gnadenlos sarkastischen Bericht über Kürzungen und Kündigungen bei Gruner + Jahr.
Eigene Korrespondentennetze privater Medien werden abgebaut, generisches nachrichtliches Agenturmaterial ersetzt mehr und mehr die eigene Themenfindung und hintergründige Recherche, auch die Nachrichtenagenturen selbst unterliegen dem Schwund. Eine marktkonforme Orientierung an vermeintlichen Konsumentenbedarfen verzerrt zudem die Themenauswahl zugunsten ‘leichter’, emotionsgetriebener Kost.
Die Finanzkrise 2007/2008 trägt einerseits zur weiteren Komplikation der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen bei und unterstreicht zum anderen die strukturelle Insuffizienz des Journalismus nach der Jahrtausendwende. In ihrer umfangreichen Studie “Wirtschaftsjournalismus in der Krise” (pdf-Download) untersuchen Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz die Leistung des tagesaktuellen deutschsprachigen Wirtschaftsjournalismus im Vorfeld und während des finanzwirtschaftlichen Zusammenbruchs und attestieren nicht nur den privaten, sondern auch den öffentlich-rechtlichen Medien ein katastrophales Versagen.
Offensichtlich unterliegt auch der Versuch, den Unwägbarkeiten eines marktgetriebenen Journalismus durch die fortgesetzte Bereitstellung einer qualitätsgesicherten öffentlich-rechtlichen Medieninfrastruktur zu begegnen, zahlreichen Problemen. In Ermangelung allgemein nachvollziehbarer, besserer operativer Leitbilder und Erfolgskriterien werden auch hier die aufwändigen, relevanzgesteuerten journalistischen Informationsformate zunehmend der Quote, und das heißt: dem kurzfristigen Publikumsgeschmack geopfert.
So kann man eine Boulevardisierung der politischen Magazinsendungen im Fernsehen beobachten, anspruchsvollere Dokumentarfilme werden auf Sendeplätze in der späten Nacht verbannt, im Radio sinkt der informierende Wortanteil. Zwar entstehen dort auch neue Infokanäle, doch in ihnen verdrängen Nachrichtensendungen in kurzer Taktung mehr und mehr die hintergründigeren Formate. Talkshows heben den Stammtisch auf die mediale Bühne und ersetzen echte Expertise.
Eine allgemein zugängliche informationelle Grundversorgung ist somit zwar weiterhin gegeben, aber die Zugangsschwellen liegen hoch, zu hoch. Wer sich qualitativ hochwertig informieren will, muss Aufwand betreiben, muss die Nacht zum Tage machen, muss im kommerziellen Bereich viel Geld in die Hand nehmen, denn die Abos für Qualitätstitel im Printbereich sind längst richtig teuer geworden.
Das Universalitätsprinzip, nach dem die meisten öffentlich-rechtlichen Medien sich nach der Gründung der BBC selbst verstehen, verspricht eine solidarfinanzierte, für jeden niedrigschwellig zugängliche Grundversorgung an relevanter Information und Bildung. Aber auch ARD und ZDF sind trotz vieler positiver Ansätze weit davon entfernt, diesem hehren Ideal zu entsprechen.
Effekte des Internets
Das Internet und die mobilen digitalen Kommunikationsmedien haben die geschilderten Probleme im Laufe der vergangenen 20 Jahre massiv verschärft. Sie stellen den Journalismus heute vor gewaltige Herausforderungen.
Es beginnt mit dem Versiegen klassischer Erlösquellen wie der Kleinanzeigenmärkte in den Printmedien, die nahezu rückstandslos ins Internet abwandern und damit nachrichtlichen Medien wie den Tageszeitungen ein wesentliches geschäftliches Fundament entziehen. Weiterer Personalabbau in den Redaktionen und Korrespondentennetzen ist die Folge, mit unmittelbaren Auswirkungen auf die journalistische Qualität.
Die Journalistinnen und Journalisten verlieren außerdem ihre privilegierte Rolle als Torwächter des öffentlichen Raumes, denn das Internet ermächtigt auch Amateure und andere, zum Beispiel kommerzielle Player, sich direkt an ihre Zielgruppen zu wenden. Diese Entwicklung betrifft – wie schon der Einbruch in den Anzeigenmärkten – unmittelbar auch das Nachrichtengeschäft, denn über soziale Medien wie Twitter oder Facebook werden wichtige Ereignisse ungefiltert und in Echtzeit im Netz rapportiert – der Nachrichtenjournalismus bekommt Konkurrenz und verliert spürbar an Relevanz und Vertrauen.
Eine der dramatischsten Entwicklungen aber betrifft die Rezeptionsgewohnheiten vor allem des jüngeren Publikums. Während ihre Eltern die Nachrichten noch in einer Welt geschlossener journalistischer Produkte geliefert bekamen, ihre Tageszeitungen abonniert hatten und sich abends vor den TV-Nachrichten versammelten, konsumieren die Jugendlichen die News mittlerweile vor allem am Smartphone, als geteilte Einträge in den Timelines ihrer sozialen Netzwerke.
Die gelesene, gesehene oder gehörte Nachricht ist dort Bestandteil eines vielstimmigen Geschehens, eines lauten Marktplatzes verschiedener Akteurinnen und Akteure unterschiedlichster Provenienz und Seriosität. Und sie verliert dort ihren Kontext, der ursprünglich von der Redaktion in der unmittelbaren Nachbarschaft des Produktes bereitgestellt wurde: die Einordnung, die durch Hintergrundberichterstattung oder Analyse geliefert wird, geht ebenso verloren wie die Bewertung im Kommentar auf der Meinungsseite.
Während der einzelnen Meldung also der produktionsseitig intendierte Kontext verloren geht, wird sie in der Timeline auf Rezeptionsseite re-kontextualisiert. Sie wird im Freundeskreis geteilt, kommentiert und bewertet, die Konsumenten erleben die unmittelbare Begeisterung oder Empörung, die sie auslöst.
Für die Anbieter bedeutet diese Entwicklung vor allem einen Kontrollverlust. Nicht nur gehen sie dadurch zunehmend ihrer letzten Erlösquellen verlustig – im vielfältigen Mix medialer Angebote ist kaum noch ein Konsument bereit, sich per Abonnement an nur eine Quelle vertraglich zu binden – , sie müssen auch redaktionell und inhaltlich umdenken.
Die neue digitale Öffentlichkeit, die auf diese Weise entsteht, ist vielfach noch unverstanden, und sie macht vielen Menschen gerade in der Medienbranche Angst. Vor allem der Erfolg und die Rolle der sogenannten Intermediäre, also insbesondere der Anbieter der Suchmaschine Google und des sozialen Netzwerks Facebook mit ihren zahlreichen angeschlossenen Diensten (YouTube, Instagram, WhatsApp etc.), die die wesentlichen Ausspielplattformen für journalistische und andere Inhalte in der digitalen Sphäre sind, werden in der Branche mit einer merkwürdigen Mischung aus Neid und Entsetzen beobachtet.
Die Rolle der Intermediäre
Kritikerinnen und Kritiker machen den genannten Intermediären unter anderem zwei Vorwürfe: (1) dass das Empfehlungsranking (Google, Youtube) und die Abfolge in den Timelines (Facebook) von undurchsichtigen Algorithmen gesteuert werde; und (2) dass die individuelle Anpassung dieser Algorithmen dazu führe, dass Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich zunehmend nur noch unter ihresgleichen bewegen, mit Inhalten, die ihnen maßgeschneidert von der Suchmaschine oder den Plattformen zugespielt werden: Die Rede ist von sogenannten Filterblasen oder Echokammern.
Schauen wir uns zunächst diese zwei Vorwürfe etwas genauer an:
(1) Schon der Begriff des Algorithmus hat etwas Ominöses an sich. Wenn unser Leben von Algorithmen diktiert wird, dann haben, so scheint es, die Maschinen endgültig die Kontrolle über die Menschen übernommen. Dabei wird oft übersehen, dass Algorithmen im Normalfall nichts anderes sind als von Menschen formulierte Regeln, die dann automatisiert umgesetzt werden. Selbst wenn dabei neuere Techniken wie Machine Learning oder Deep Learning eingesetzt werden, bei denen die Mechanismen der Regelumsetzung nicht immer transparent sind, machen die Maschinen normalerweise genau die Fehler, die ihnen die Menschen bei ihrer Programmierung und Vorbereitung diktiert haben.
Wir sollten also vielleicht weniger Angst vor Maschinen als vor den menschlichen Motiven ihrer Verwendung haben. Im Falle von Google und Facebook heißt dies: Vordergründig mag es bei den dort eingesetzten Algorithmen um den Mehrwert gehen, den die Nutzerinnen und Nutzer in der Verwendung dieser Systeme haben. Dahinter aber steckt die knallharte Businesslogik der Plattformanbieter: Die Nutzerinnen und Nutzer sollen möglichst lange auf der Plattform gehalten werden, so dass ihnen möglichst viel personalisierte Werbung zugespielt werden kann. Sie sind dabei weniger Kunden der Anbieter als vielmehr selbst die Ware, die verkauft wird.
Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Beobachtungen zeigen, dass die Empfehlungen auf der zu Google gehörenden Videoplattform YouTube an den Neigungen der einzelnen Nutzerinnen und Nutzer ansetzen, diese aber mit eskalierend emotionalisierten und radikalen Angeboten zu binden und zu befriedigen versuchen. So kann es passieren, dass ein Jugendlicher, der damit beginnt, sich simple Kampfsportvideos anzusehen, nach und nach immer brutalere Videos in der Seitenspalte angeboten bekommt, bis hin zu Filmen, die nicht nur die Grenzen des guten Geschmacks, sondern auch des dieser Zielgruppe Zumutbaren überschreiten. Es geht hierbei nicht um echte Bedarfe der Nutzerinnen und Nutzer, es werden vielmehr Reiz-Artefakte eingesetzt, um diese zu binden – mit unkalkulierbaren Folgen für ihre psychosoziale Gesundheit.
Weniger die Algorithmen als die dahinter stehenden Geschäftsinteressen sind es also, die die mangelnde Transparenz der privaten Plattformanbieter zum Problem machen. Dies zeigt sich auch in der Angreifbarkeit und Ausnutzbarkeit der Plattformen für Formen verdeckter politischer Einflussnahme und digitaler Propaganda, wie wir sie etwa im Falle von Brexit und US-Präsidentschaftswahlen im Jahr 2016 erlebt haben. Und es zeigt sich ganz generell an der rücksichtslosen Ausbeutung der Nutzerdaten und den fragwürdigen Kooperationen, die Anbieter wie Facebook fast ausschließlich hinter dem Rücken der Nutzerinnen und Nutzer eingehen.
(2) Der Vorwurf, dass die Medienrezeption über Suchmaschinen und soziale Netze zu Echokammern und Filterblasen gleichgesinnter Milieus führe, wurde in den letzten Jahren vor allem von US-amerikanischen Autoren wie Cass Sunstein und Eli Pariser propagiert. Ihre Theorie erfreut sich, gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden politischen Polarisierung in den USA und in Großbritannien, weiterhin ungebrochener Beliebtheit. Dabei gibt es mittlerweile empirische Befunde (z.B. von Autoren wie Yochai Benkler und Axel Bruns), die Anlass zur Skepsis geben. Harte Polarisierung, so scheint es bei genauerem Hinsehen, ist weniger eine Folge als eine Ursache der Clusterbildung in den sozialen Netzen. Sie geht vor allem von Milieus aus, die sich nicht primär aus dem Internet und über soziale Netzwerke, sondern aus klassischen Rundfunkmedien informieren. Jüngere Zielgruppen in den digitalen Medien hingegen konsumieren keineswegs die erwartete einseitige Mediendiät, sondern haben eine relativ hohe Exposition auch gegenüber anderen Sichtweisen und Positionen.
Wandel der Nutzungsformen
Was wissen wir also über diese jüngeren Nutzergenerationen und die neue digitale Öffentlichkeit, in der sie aufwachsen? Das Reuters Institute an der Universität Oxford führt seit dem Jahr 2013 jährlich internationale Vergleichsstudien durch, in denen das Nachrichtengeschäft in den digitalen Medien untersucht wird. Deren Befunde zeigen zunächst, dass es keine einheitliche globale digitale Öffentlichkeit gibt. Die untersuchten nationalen Märkte unterscheiden sich zum Teil erheblich, in ihrem Anpassungstempo bei der Digitalisierung, aber auch in den individuellen Ausgestaltungen. So findet sich zum Beispiel in den skandinavischen Märkten eine deutlich höhere Zahlungsbereitschaft für Medieninhalte im Netz. Deutschland, Frankreich und die Schweiz erweisen sich als besonders schwerfällig in der Adaptation neuer Dienste und Verfahren.
Weiterhin bestätigen die Studien über die Jahre einen krassen Generationenabriss. Während ältere Nutzerinnen und Nutzer ihre Nachrichten weiterhin gerne produkttreu rezipieren (direkt vom Anbieter), entsteht der Erstkontakt zu den Nachrichten bei den jüngeren Nutzerinnen und Nutzern fast ausschließlich über soziale Netzwerke. Während bei den jüngeren das Smartphone die bevorzugte Schnittstelle zur Aktualität ist, favorisieren die älteren zu diesem Zweck weiterhin den Rundfunk.
Ein für die journalistischen Anbieter auf den ersten Blick beruhigender Befund der Reuters-Studien besagt, dass die Nutzer weiterhin großes Vertrauen in die bewährten traditionellen Medienmarken setzen. Weniger beruhigend ist hingegen die damit konfligierende Beobachtung, dass viele, gerade jüngere Nutzerinnen und Nutzer im Mix ihrer Timelines die spezifische Herkunft der einzelnen journalistischen Nachrichten gar nicht mehr differenzierend wahrnehmen. Das geäußerte Markenvertrauen scheint eher ein Nachhall eines traditionellen Qualitätsverständnisses zu sein als eine in der Medienrezeption gelebte Wirklichkeit.
Eine mögliche Interpretation dieses Widerspruchs diagnostiziert eine Spannung zwischen der weiter zunehmenden Atemlosigkeit des digitalen Nachrichten- und Meinungskonsums und einem dabei zugleich empfundenen Orientierungsdefizit. Diese Interpretation wird gestützt durch eine weitere, im September 2019 erschienene Studie der Unternehmensberatung Flamingo über die Nachrichtenrezeption speziell junger Zielgruppen, die ebenfalls vom Reuters Institute in Auftrag gegeben wurde. Dort wird klar, dass die Jugendlichen ihre Nachrichten mittlerweile nicht nur fast ausschließlich mobil und nur noch selten direkt beim Anbieter, sondern auch in so gut wie jeder Lebenslage konsumieren. Sie erwarten von ihren News unter anderem leichte Zugänglichkeit, Nützlichkeit, einen konstruktiven Beitrag und soziale Anschlussfähigkeit.
Bedeutung und Auftrag der öffentlich-rechtlichen Medien
Wie kann der Journalismus angemessen auf die beschriebenen Herausforderungen der Digitalisierung reagieren? Ihm wird – wie eingangs dargestellt – als ‘vierter Gewalt’ im Staate die Aufgabe zugeschrieben, die Bürgerinnen und Bürger zu informieren, bestehende Institutionen und gesellschaftliche Mächte zu kontrollieren, auf Missstände aufmerksam zu machen und diese zu kritisieren. Er soll allen Bürgerinnen und Bürgern Orientierung bieten und es ihnen ermöglichen, sich informiert eine eigene Meinung zu bilden, um am gesellschaftlichen Diskurs teilzunehmen.
Auch wenn wir bereits festgestellt haben, dass die Gefahr einer fragmentierten und polarisierten Öffentlichkeit weniger als befürchtet von den digitalen Medien selbst ausgeht, sollte andererseits klar sein, dass es Aufgabe des Journalismus sein muss, einer solchen Fragmentierung und Polarisierung, wo auch immer sie herrührt, entgegenzuwirken. Das Idealbild des informierten öffentlichen Diskurses setzt die Überwindung vorhandener gesellschaftlicher Grenzen und die Anschlussfähigkeit – auch in der Kontroverse – voraus.
Dem widerspricht nicht nur die Businesslogik der Intermediäre, die ihren medialen Mix immer passgenauer auf spezifische Milieus zuschneiden. Auch beim kommerziellen Journalismus steht die Zielgruppenansprache im Zentrum des redaktionellen Marketings. In beiden Fällen liegt ein wesentlicher und struktureller Grund in den Anforderungen der Werbewirtschaft, für die ein segmentierter Markt wesentlich erfolgversprechender ist als ein integrierter.
Noch in einer anderen Hinsicht bietet der privatwirtschaftlich organisierte Journalismus im Moment wenig Grund zur Hoffnung: Wegen der härteren Konkurrenz und Unsicherheit im digitalen Anzeigengeschäft ist er mehr als zuvor auf Vertriebserlöse angewiesen, die sich gerade im Internet nicht so recht einstellen wollen. Die Nachfrage nach qualitativ hochwertigem Journalismus ist weiterhin da, aber dieser wird so mehr und mehr zu einem in der Herstellung teuren und damit auch im Angebot hochpreisigen Luxusgut. Die breite Nutzerschaft wird mit einem weitgehend auf generische Nachrichten und Entertainment heruntergekochten Angebot abgespeist, das Abonnement einer Zeitung vom Niveau der FAZ oder Süddeutschen Zeitung, egal ob Print oder digital, kann sich die Mehrzahl der Haushalte kaum noch leisten.
Beide Entwicklungen, die zunehmende Segmentierung des Medienmarktes anhand spezifischer Zielgruppen und die Einhegung des Qualitätsjournalismus in exklusive, hochpreisige Marktsegmente, sind strukturell in den Entwicklungen des Marktes angelegt. Um hier gegenzusteuern und eine integrierte digitale Öffentlichkeit zu sichern, kommt meines Erachtens den öffentlich-rechtlichen Medien eine besondere Aufgabe zu. Sie waren ja unter anderem mit just diesem Auftrag installiert worden: auch in Zeiten eines publizistischen Marktversagens verlässlich für eine qualitativ hochwertige Grundversorgung an Information, Bildung und Unterhaltung zu sorgen. Sie sollen ein publizistisches Angebot bereitstellen, das über eine erschwingliche Solidarfinanzierung gesichert und für alle erreichbar ist. Über die Gewichtung der inhaltlichen Anteile in diesem Versorgungsauftrag lässt sich streiten, aber Journalismus gehört gewiss zu den wesentlichen Säulen eines auftragsgemäßen öffentlich-rechtlichen Mediensystems auch in der digitalen Sphäre. Denn die digitale und mobile Medienwelt, die bereits jetzt gegenüber den klassischen Print- und Rundfunkmedien eine dominierende Rolle zu spielen beginnt, wird der wichtigste Schauplatz sein, auf dem ein zeitgemäßer Journalismus künftig seinen Beitrag zu einer informierten und aufgeklärten Öffentlichkeit zu leisten hat.
Angesichts dieser Tatsache ist es ärgerlich, wenn die Verteilungskämpfe zwischen kommerziellen und öffentlich-rechtlichen Medien immer noch in der Begrifflichkeit vergangener Zeiten (Presseähnlichkeit, lizenzpflichtige Kanäle, etc.) diskutiert und letztlich auch entschieden werden. Und es ist besonders ärgerlich, wenn Politik und Anstalten die Rolle der öffentlich-rechtlichen Medien ohne Not auf klassische, rein audiovisuelle Formate beschränken. Die gesamte publizistische und journalistische Ökologie unterliegt einem so rabiaten Wandel, dass solche Festlegungen das Denken hemmen und für die digitale Öffentlichkeit schädlich sind. Denn was wir brauchen, ist die Freiheit für Visionen.
Information und Orientierung
Kehren wir zurück zum Nachrichtenjournalismus. Ich hatte eingangs darauf hingewiesen, dass die Nachricht ihre segensreiche Wirkung nur im Zusammenhang mit einem elaborierten Kontext aus Hintergrundinformationen, Erläuterungen, Vertiefungen entfalten kann. In klassischen journalistischen Produkten und Umgebungen bemühen sich die Anbieter, diesen Kontext so gut es geht in greifbarer Nähe mitzuliefern.
Wie wir gesehen haben, stören die digitalen Medien diesen intendierten Zusammenhang jedoch, indem sie die Nachrichten aus dem Produkt oder traditionellen Angebotsbündel (Zeitung, Kanal, Sendung) herauslösen und über verschiedene alternative Kanäle ausspielen, wie z.B. Suchmaschinen oder die Timelines sozialer Netze. Die notwendige Kontextualisierung der Nachrichten gründet im Internet somit also eher in der inhaltlichen und sozialen Anschlussfähigkeit der Nachrichten in der jeweiligen Rezeptionssituation, daran, wie diese verlinkt, geteilt, diskutiert, in neue Zusammenhänge gestellt werden. Das alles sind Vorgänge, die bislang der Kontrolle der Anbieter weitgehend entzogen sind.
Nun ist das Internet in Sachen Kontextualisierung ja keineswegs schlecht. Wenn ich – sagen wir auf Facebook – eine Nachricht lese, und mir begegnet in ihr ein unverstandener Begriff, so sind Google oder Wikipedia nur wenige Handgriffe entfernt und liefern mir gegebenenfalls eine Begriffserklärung oder weitere lexikalische Informationen. Will ich einer Spur wirklich nachgehen, kann ich mich in vielen Fällen ohne große Mühe bis zu deren Quellen vorarbeiten, sofern diese online verfügbar sind.
Der kundigen Nutzerin bietet das Netz so viele Möglichkeiten, dass das Problem eher in einem Zuviel an weiterführender Information besteht, als in deren Mangel. Aber die überbordende Quantität führt auch zu einem Problem mit der Qualität. Nicht jeder Nutzer ist kundig genug, die Relevanz und Verlässlichkeit weiterführender Informationen zu beurteilen. Für viele endet die weitere Recherche in einem Dschungel dubioser und unverstandener Fundstücke.
Journalismus hat nicht nur die Aufgabe, zu informieren, er soll auch Orientierungshilfe bieten. Die große Herausforderung für den Nachrichtenjournalismus besteht nun darin, diese beiden Funktionen im Interesse der Wahrung und Sicherung einer kohärenten digitalen Öffentlichkeit zusammenzuführen. Herauszufinden, wie das im Einzelnen geschehen kann – darin besteht die eigentliche Herausforderung. Wir brauchen Labore und Testsituationen, in denen wir verschiedene Techniken und Strategien erproben. Im Anschluss ein paar Ideen.
Öffentlich-rechtliche Plattformen
Wir hatten gesehen, dass die Kontextualisierung der Nachrichten unserer Kontrolle entzogen ist und immer mehr auf sozialen Plattformen wie Youtube oder Facebook stattfindet, die nach harten kommerziellen Prinzipien betrieben werden und nicht unbedingt daran interessiert sind, die Inhalte gemeinwohlorientiert auszuspielen.
In dieser Situation bringt es nichts, die jungen Nutzerinnen und Nutzer auf unsere ursprünglichen Einzelangebote zurückzuzwingen. Wir sollten uns aber auch nicht darauf beschränken, unsere Inhalte dann eben zusätzlich auf den kommerziellen Plattformen auszuspielen und uns deren Prioritäten und Regeln zu unterwerfen. Ein Ziel müsste vielmehr sein, vom Erfolg von Google, Facebook und anderen Playern zu lernen und selbst dezentrale Plattformen, nun aber mit gemeinnütziger Ausrichtung, zu entwickeln. So etwas kann eigentlich grundsätzlich nur aus einer öffentlich-rechtlichen Struktur erwachsen, denn nur sie unterliegt nicht den Zwängen eines gnadenlosen Wettbewerbs, der immer dafür sorgen würde, dass rivalisierende Anbieter ausgeschlossen werden. Nur die öffentlich-rechtlichen Anbieter arbeiten im Rahmen eines für gemeinsame Plattformen notwendigen integrativen Auftrags.
Die Idee einer öffentlich-rechtlichen Internetplattform ist nicht grundsätzlich neu. Bereits vor einigen Jahren hat der damalige Chef der Medienanstalt Berlin-Brandenburg, Hans Hege, eine öffentlich-rechtliche Suchmaschine vorgeschlagen. Ein etwas anderes Projekt wird seit einiger Zeit von dem österreichischen Wirtschaftswissenschaftler und ZDF-Fernsehratsmitglied Leonhard Dobusch propagiert. Er schlägt für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine Internet-Intendanz sowie eine gemeinsame Plattform vor, die die öffentlich-rechtlichen Mediatheken zusammenfasst, aber auch für andere gemeinwohlorientierte Anbieter und sogar Nutzerinnen und Nutzer offen sein soll. Auch einzelne Intendanten wie der ehemalige ARD-Chef Ulrich Wilhelm denken laut über eine gemeinsame, vielleicht sogar europaweit angelegte Mediathek der Sendeanstalten nach.
Doch mit einem ‘gemeinnützigen Netflix’ ist es nicht getan. Wenn wir wirklich einen nachhaltigen, positiven Einfluss auf die Rezeptionsprozesse der nachwachsenden Nutzergenerationen nehmen wollen, müssen wir auch auf der Ebene der Community eigene, bessere Angebote machen, wir benötigen dann auch ein gemeinnütziges Facebook, Twitter oder Instagram. Ein solcher Vorschlag wurde jüngst auch von den Grünen-Politikern Robert Habeck und Malte Spitz präsentiert.
Intelligente Metadaten
Ein weiterer Ansatz könnte darin bestehen, die Anschlussfähigkeit einzelner Nachrichten und anderer journalistischer Inhalte zu verbessern. Warum enthält eine im Netz geteilte Nachricht nicht automatisch Links zu ihrer Vorgeschichte sowie zu erklärenden Hintergründen oder zu qualifizierten Bewertungen? In den frühen 2000er Jahren hat der Erfinder des World Wide Web, Tim Berners-Lee, an der Idee eines ‘semantischen Webs’ gearbeitet, das durch geschickt gesetzte, versteckte Verwaltungsinformationen (sogenannte Metadaten) solche inhaltlichen Verknüpfungen zwischen einzelnen Web-Inhalten automatisierbar machen würde. Das dafür erforderliche Know-How ist mittlerweile weitgehend vorhanden und wird in vielen Bereichen erfolgreich eingesetzt. Wie so oft hapert es bei der breiten Umsetzung, gerade im publizistischen Umfeld, an der Durchsetzung der erforderlichen Standards und dem doch beträchtlichen Aufwand in der alltäglichen Arbeit.
Mit einer verbesserten und vereinheitlichten semantischen Auszeichnung journalistischer Inhalte ließe sich zum Beispiel auch die Idee eines ‘Gütesiegels’ für Nachrichten von Anbietern umsetzen, die bestimmte ethische und qualitative Standards einhalten. Im Sinne besserer Transparenz könnte man solche Nachrichten auch mit ihren Quellen und ihrer Versionsgeschichte anreichern.
Solche zusätzlichen Features müssten nicht auf den ersten Blick sichtbar sein und würden es auch nicht komplizierter machen, Nachrichten in sozialen Netzwerken zu rezipieren. Aber sie würden die Nachrichten mit einer zusätzlichen Funktionalität versehen, die es den Nutzerinnen und Nutzern einfacher macht, sich bei Bedarf zu orientieren und somit deren Vertrauen stärken.
Journalistische Professionalität
Die Empfehlung, die mir jedoch am meisten am Herzen liegt, hat weniger mit Änderungen an Infrastruktur und Technik zu tun, als mit einer allgemeinen Schärfung des journalistischen Profils. In einer gesellschaftlichen Situation, in der Propaganda, Halbwahrheiten und Irrationalismus mit traurigem Erfolg in die publizistische Öffentlichkeit eingedrungen sind, müssen wir Schluss machen mit einer falsch verstandenen Augenhöhe zwischen Journalismus und anderen Formen gesellschaftlicher Artikulation. Wir müssen unsere Professionalität unter Beweis stellen und die journalistischen Distinktionsmerkmale stärker herausarbeiten. Dazu gehören nicht nur gute Recherche und die exzellente Aufbereitung aktueller Themen, sondern auch ein strategisches Themenmanagement, das relevante Themen auch dann verfolgt, wenn diese nicht auf den ersten Blick ‘sexy’ sind. Dazu gehört darüber hinaus ein noch viel genauerer Blick für die realen Lebenswelten unseres Publikums.
Ein Beispiel dafür liefert die sozialwissenschaftliche Studie “Rückkehr zu den politisch Verlassenen”, die das Progressive Zentrum unter der Leitung von Johannes Hillje gemeinsam mit französischen Partnern durchgeführt hat. Dafür wurden in Regionen, in denen rechtspopulistische Bewegungen wie die AfD und der ehemalige Front National ihre Stammwählerschaft haben, qualitative Interviews durchgeführt. Durch geschickte Fragetechnik gelang es den Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, hinter den altbekannten Unmutsäußerungen über Migration und Eliten eine zweite, verdeckte Schicht sehr viel nachvollziehbarer Sorgen und Nöte aufzudecken.
Hier scheint für mich die Möglichkeit eines Journalismus auf, der sich auch von derartigen Einsichten informieren lässt und der sich nicht treiben lässt vom Zirkus der öffentlichen Bühnen, von den Profis der Aufmerksamkeitssteuerung zur Sicherung von Macht und Geschäft. Mit einem geschärften Blick auf gesellschaftliche Zusammenhänge würde ein solcher Journalismus sich deutlicher als bisher in den Dienst seiner wichtigsten Zielgruppe, der Allgemeinheit, stellen. ZEIT ONLINE beispielsweise hat in den letzten Jahren mit Projekten wie #d17 oder “Deutschland spricht” Schritte in diese Richtung unternommen.
Vom Nachrichtenjournalismus wiederum verlangt eine solche gesellschaftlich reflektiertere Herangehensweise vor allem eine ständige und genauere Überprüfung seiner Relevanzkriterien, denn Aktualität ist kein Selbstzweck. Wir werden die Kontrolle über den öffentlichen Raum, die klassische Rolle des ‘Gatekeepers’ nicht zurückerobern, das wäre auch gar nicht wünschenswert. Um so wichtiger ist es aber, mit gründlicher Recherche, Wahrhaftigkeit und Relevanz zu trumpfen und deutlich zu machen, dass guter Journalismus immer dem Gemeinwohl dient.
Dieser Beitrag ist gerade erschienen in Tanja Köhler (Hg.): Fake News, Framing, Fact Checking. Nachrichten im digitalen Zeitalter. Bielefeld 2020, transcript verlag.
Textübernahme mit freundlicher Genehmigung von Herausgeberin und Verlag.
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