Ausgehend von der Corona-Krise fragen sich Ingrid Kurz-Scherf und Hans-Jürgen Arlt via Email, wie gangbare Wege gefunden werden können, die in eine politische Ökonomie der Nachhaltigkeit, der Gerechtigkeit und der Demokratie führen. Max Horkheimers (und Antonio Gramscis) Maxime, dem sehr begründeten theoretischen Pessimismus mit einer persönlichen optimistischen Praxis zu widersprechen, könne nur der Anfang sein. Denn „wenn ‚das Gute‘ keine Grundlage in der Theorie hat, dann ist entweder die Praxis, die darauf zielt, von vorneherein zum Scheitern verurteilt, oder die Theorie ist mindestens unvollständig, vielleicht sogar falsch“. Immer wieder hilfesuchende, aber auch kritische Blicke auf die Gesellschaftstheorien von Karl Marx und Niklas Luhmann werfend, sucht der „Schriftwechsel“ nach theoretischen Anschlüssen und strategischen Orientierungen einer emanzipatorischen Praxis. Er ist zugleich eine Einladung an seine Rezipienten, ihn kommentierend und kritisierend weiter zu schreiben.
Als edition bruchstuecke #2 steht der Text
auch als pdf zum Download zur Verfügung.
Hans-Jürgen:
Ich denke, dass es drei Grunderfahrungen mit der Corona-Krise gibt. Die eine, die potentiell oder tatsächlich katastrophische, machen die Infizierten und stark Gefährdeten. Sie sind zugleich die am wenigsten Sprechfähigen, sie kommen in der öffentlichen Kommunikation als Opfer und als statistische Größen vor. Die andere Erfahrung, ich nenne sie die störende und belastende, machen alle, die von Lockdown und Shutdown, von Ausgangs- und Arbeitssperren betroffen sind, und mehr oder weniger darunter leiden. Sie befinden sich im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Für eine dritte Erfahrung, die chancenreiche und zukunftsweisende, stehen diejenigen, die lange vorher betont haben, dass es weder ökologisch noch sozial so weiter gehen könne. Sie bekommen mehr Aufmerksamkeit – aber auch mehr Wirksamkeit? Wie viel Optimismus in ein Fortschrittspotential dieser Krise hast du?
Auf der Möglichkeit von Fortschritt bestehen
Ingrid:
Grundsätzlich bin ich immer noch und auch noch unter Corona-Schock eine Anhängerin des Prinzips Hoffnung bzw. – wie es Ernst Bloch umschrieb – des „militanten Optimismus“. Es ist sicher wichtig und richtig, wenn Wissenschaft die Dinge, so wie sie sind und wie sie laufen – auch jetzt in Corona-Zeiten – kritisiert und auf Risiken und Gefahren aufmerksam macht. Aber es ist auch richtig und wichtig, nach besseren Alternativen zum Status quo und der darin enthaltenen Dynamik Ausschau zu halten. Ich glaube nicht daran, dass sich alle Entwicklung (irgendwie unterm Strich und letztendlich) in der Form von Fortschritt vollzieht, aber ich bin – u.a. auf der Grundlage einer feministisch aufgeklärten marxistischen Gesellschafts- und in Verbindung mit sozial- und politikwissenschaftlichen Demokratie- und Modernisierungstheorien in Anlehnung an die Kritische Theorie – von der Möglichkeit des gesellschaftlichen Lernens im Sinn eines Fortschritts im Bewusstsein und in der Praxis von Freiheit, Gleichheit und Solidarität überzeugt.
Aktuell fällt mir meine Selbstverpflichtung auf praktischen Optimismus allerdings nicht nur deshalb schwer, weil Corona bei mir ein neues Bewusstsein von Alt- und Krankwerden, von Verletzlichkeit und auch von Sterblichkeit hergestellt hat, das im Moment eher mit Angst als mit Zuversicht verknüpft ist. Ich bin auch sehr verunsichert hinsichtlich der langfristigen gesellschaftlichen und politischen Folgen der Corona-Krise, die ja niemand sicher einschätzen kann. Das Fortschrittspotential der Krise beschränkt sich auf den ersten Blick zunächst einmal auf eine dramatische Beförderung der Digitalisierung – in Bildung, Kultur, Medien, in der Lebenswelt insgesamt. Da liegen Risiken und Probleme, aber durchaus auch Chancen der Erweiterung und Verbesserung von Möglichkeiten der Kommunikation, der Bildung, der Partizipation etc.
Die Corona-Krise scheint in Einzelfällen auch substanziell Prozesse des gesellschaftlichen Fortschritts zu befördern, beispielsweise in Form einer zum Teil auch materiellen, vorrangig allerdings bislang immateriellen Besserstellung von Pflegeberufen, beispielsweise in Form einer ideologischen Bekräftigung des Sozialstaats und der Delegitimierung einer entfesselten Marktwirtschaft. Auch scheint sich angesichts der Infektionsrisiken skandalöser Arbeitsbedingungen in Schlachthöfen oder z. T. auch in der Landwirtschaft das Bewusstsein von der Relevanz des Arbeitsschutzes für den Gesundheitsschutz zu verbreitern.
Die Corona-Krise – vor allem eine Bedrohung
Faktisch verschärft die Corona-Krise allerdings die meisten Probleme, mit denen wir auch auch vorher zu kämpfen hatten, insbesondere die soziale Ungleichheit in den einzelnen Gesellschaften, wie aber auch im globalen Maßstab. Ich fürchte: nüchtern betrachtet bedroht die Corona-Krise aktuell die sozialen, politischen und kulturellen Errungenschaften der Moderne weit mehr, als dass sie ihnen neue Perspektiven ihrer Entfaltung eröffnet. Dabei geht es selbstverständlich nicht um die Corona-Pandemie als solche, also in ihren virologischen Dimensionen und Dynamiken, sondern um die sozialen, politischen und kulturellen Verhältnisse, auf die die Pandemie trifft, wie auch um die Art und Weise, wie auf die Pandemie mit ihren vielfältigen Aspekten und Auswirkungen politisch reagiert wird. Oft fungieren geschlechtsspezifische Aspekte einer Situation oder einer Entwicklung als Seismographen ihrer gesellschaftspolitischen Tendenz. Und da besorgt es mich schon, wenn der Corona-Krise auf der Grundlage einschlägiger Studien eine starke Tendenz zur Retraditionalisierung der Geschlechterverhältnisse, zur Rückkehr des Patriarchats bescheinigt wird – auch weil die Politik dem Rückfall in alte Muster der Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen in den privaten Haushalten ebenso wie in der Erwerbstätigkeit nicht wirksam entgegensteuert.
Dennoch könnte die Corona-Krise „theoretisch“ durchaus auch jenen „Gestaltwandel der Moderne“ (Ulrich Beck) befördern, den viele seit langem einfordern. Denn letztendlich bestärkt sie eine Erkenntnis, die wir eigentlich schon lange haben, nämlich dass sich Zukunft in den modernen Gesellschaften und im globalen Maßstab nicht mehr als einfache Fortführung der Vergangenheit denken und gestalten lässt, weil dies unweigerlich in den sozialen, ökologischen, politischen, kulturellen und letztendlich auch ökonomischen Kollaps führt. Wir brauchen einen Richtungs- und einen Paradigmenwechsel dessen, was wir unter Fortschritt verstehen: weg vom Wachstum und rein quantitativen Kriterien von Lebensstandard hin zur Entwicklung und Entfaltung eines guten Lebens im doppelten Sinn des Guten: als Maßstab von Ethik und Moral und als Maßstab von Wohlergehen und Lebensqualität.
Wandel des Geschlechterverhältnisses
Schon in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatten wir hier in Deutschland dazu eine entwickelte Diskussion, u.a. im Anschluss an den Bericht des Club of Rome über „Grenzen des Wachstums“, aber durchaus auch inspiriert von den neuen sozialen Bewegungen wie aber auch vom gewerkschaftlichen Konzept der Arbeitszeitverkürzung. Damals war die Rede vom „unvollendeten Projekt der Moderne“ (Jürgen Habermas), von „reflexiver Modernisierung“ (Ulrich Beck), von einer neuen „Ökonomie für den Menschen“ (Amartya Sen), von „utopischem Realismus“ (Anthony Giddens), oder auch von neuen „Wegen ins Reich der Freiheit“ (André Gorz). An dieser Debatte haben sich fast alle beteiligt, die im Kommunikationsraum der alten Bundesrepublik Deutschland/west Rang und Namen hatten.
Das waren damals wie heute vorrangig Männer, aber die Frauenbewegung und der von ihr angestoßene Wandel der Geschlechterverhältnisse spielte zumindest im Hintergrund eine wichtige Rolle und unter den programmatischen Schriften der damaligen Zeit befassten sich einige mit der weitverbreiteten These vom „Ende des Patriarchats“ (Libreria delle Donne di Milano). Die ganze Debatte wurde dann aber vom Ende des Kalten Kriegs und dem Zusammenbruch des Autoritären Sozialismus quasi erstickt. Wir hatten dann eine lange Phase der Hegemonie des sog. Neoliberalismus, des Erlahmens der Sozialen Bewegungen und einer tiefen Krise des Denkens und Handelns in Alternativen zum Status Quo. Es gab immer mal wieder Ansätze für einen neuen Aufbruch, aber unter’m Strich ging es stramm nach rechts: Die zunehmende soziale Ungleichheit und die sich immer weiter ausbreitende Prekarisierung von Lebensverhältnissen (auch im Kontext der ost-west-deutschen Vereinigung) produzierten – in Verbindung mit einem Substanzverlust von Demokratie im Kontext der Globalisierung und der europäischen Integration – eher rückwärts gewandte soziale Bewegungen und Revolten mit einer deutlichen Tendenz nach rechts. Erst die Bewegung „Friday for Future“ signalisierte immerhin die Möglichkeit einer Trendwende – auch im Kontext mit dem Erstarken von eher linken Reform- und Protestbewegungen in Reaktion auf die Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 und auf die dadurch ausgelöste Politik, die in vielerlei Hinsicht genau die Strukturen zementierte, die die Krise herbeigeführt hatten.
Politische Ökonomie als Achillesferse
Die Frage ist nun allerdings, ob und wie sich in der Corona-Krise der davon zunächst einmal deutlich gebremste Schwung einer ökologischen, sozialen-emanzipatorischen Zukunftsbewegung neu entfalten kann. Voraussetzung dafür wäre aus meiner Sicht ein neuer Zukunftsdiskurs, der dem konservativen Credo von der Rückkehr zur Normalität der Vergangenheit wirksam entgegen tritt und dem es überhaupt nicht um irgendeine Form der Normierung von Arbeit, Leben, Politik, Kultur etc. geht, sondern um die theoretische und praktische Ermöglichung von Fortschritt im Bewusstsein und in der Praxis von Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und Demokratie. Ich fürchte, die Achillesferse des Nachdenkens über und des Ausprobierens von sozial-emanzipatorischen und sozial-ökologischen Möglichkeiten der Zukunft ist die Frage nach ihrer politischen Ökonomie – nicht nur weil sie von den durch die Corona-Krise nicht wirklich erschütterten, vorrangig ökonomisch basierten Machtverhältnissen vernebelt wird, sondern weil sich die Kritik am Status quo der modernen Ökonomien gerade nicht auf die Suche nach gangbaren Alternativen, sondern auf eher abstrakte und rein negative Kapitalismuskritik konzentriert.
Gerade was eine auch positiv formulierte politische Ökonomie von Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und Demokratie anbelangt, finde ich in der Tradition der Kritischen Theorie, auf die ich mich berufe (angefangen bei Karl Marx, über Herbert Marcuse bis hin zu Jürgeen Habermas oder Axel Honneth) wenig Anhaltspunkte. Eher schon im feministischen Diskurs, beispielsweise im Zusammenhang mit der sog. Care-Revolution oder auch mit dem Manifest für einen „Feminismus der 99 %„. Das Problem der meisten Konzepte zu einer politischen Ökonomie der Nachhaltigkeit, der Gerechtigkeit und der Demokratie ist aber, dass die wünschenswerte Zukunft nicht wirklich überzeugend mit der Gegenwart und ihrer Vergangenheit, also mit den real vorfindbaren Tendenzen und Möglichkeiten verbunden wird, sondern sich weitgehend mit Appellen und Forderungen begnügt, die aber leider nicht in gangbare Strategien übersetzt werden – sei es dass gar nicht danach gesucht wird, sei es dass die realen Machtverhältnisse, unter denen eine solche Strategie in Gang gesetzt werden müsste, ausgeblendet werden.
Bei Luhmann spielt die Ökonomie ja eine viel zentralere Rolle als z.B. bei Habermas und er reduziert sich dabei ja auch nicht auf mehr oder minder grundsätzliche und abstrakte Kapitalismuskritik. Gibt es bei ihm Ansatzpunkte für eine über den Status quo hinaus weisende Politische Ökonomie? Oder an welchen Punkten müsste und könnte ein von Luhmann inspirierter Zukunftsdiskurs ansetzen?
Marx und Luhmann, realitätstüchtige Theoretiker
Hans-Jürgen:
Das Festhalten an der „Möglichkeit des gesellschaftlichen Lernens im Sinn eines Fortschritts im Bewusstsein und in der Praxis von Freiheit, Gleichheit und Solidarität“, wie du es formulierst, ist sicherlich unser gemeinsamer Ausgangspunkt. Auch darüber hinaus kann ich deinen Beschreibungen und Analysen an den Ankerpunkten zustimmend folgen.
Das willst du vielleicht eher nicht lesen, aber ich sehe die große Gemeinsamkeit von Marx und Luhmann darin, dass sie eine Gesellschaftsanalyse auf der Höhe ihrer Zeit abgeliefert haben, näher und härter an den Realitäten als alle anderen. Der große Unterschied liegt darin, dass sich Marx für praktische politische Konsequenzen aus seiner Kapital-Analyse interessiert hat, Luhmann hingegen politischer Veränderungswille wohl eher abging. Aber auf die Personen kommt es ja nicht an. Warum wurde aus dem „Kapital“ so etwas wie ein Grundstein der Arbeiterbewegung, während „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ wie ein Findling irgendwo erratisch herumliegt? An der Schwierigkeit der Texte kann es nicht liegen, es sind beide gleichermaßen „dicke Brocken“. Es muss etwas mit den Zuständen der Gesellschaft zu tun haben, in die hinein sie publiziert wurden. Die gestrige soziale Veränderungsdynamik des 19. Jahrhunderts zielte auf Alternativen zu den sich durchsetzenden kapitalistischen Strukturen. Die heutige Veränderungsdynamik kommt unter dem bezeichnenden Titel Innovation daher und sucht nach laufenden Alternativen innerhalb der kapitalistischen Grundstrukturen.
An der Proklamation schöner, guter und wahrer Ziele mangelt es nicht. Im Licht der realen Entwicklungen bekommt politisches „wildes Wünschen“ (Luhmann) die traurige Gestalt von Illusionen. Es scheint mir eine aufschlussreiche Paradoxie zu sein, dass niemand nachdrücklicher als Niklas Luhmann darauf besteht, dass alles auch ganz anders sein könnte, während aus der gesellschaftlichen Fähigkeit, radikale Alternativen zu denken, zu diskutieren und zu realisieren, eine Art Seifenblasenproduktionsanlage geworden ist. Ich lasse diese Paradoxie einfach so stehen und greife einen deiner zentralen Sätze auf, die in diesen Kontext passen:
„Das Problem der meisten Konzepte zu einer politischen Ökonomie der Nachhaltigkeit, der Gerechtigkeit und der Demokratie ist aber, dass die wünschenswerte Zukunft nicht wirklich überzeugend mit der Gegenwart und ihrer Vergangenheit, also mit den real vorfindbaren Tendenzen und Möglichkeiten verbunden wird, sondern sich weitgehend mit Appellen und Forderungen begnügt, die aber leider nicht in gangbare Strategien übersetzt werden.“
Wie wahr! Es fängt schon damit an, dass eine Forderung wie „Kapitalismus abschaffen“ bei gegebener kapitalistischer Ökonomie oft rüberkommt wie „Wirtschaft abschaffen“. Zugegeben, an Vorschlägen für alternatives Wirtschaften fehlt es nicht, und es sind gerade Texte von Frauen, die einen viel realistischeren Arbeitsbegriff haben, als „die breimäuligen Faselhänse der deutschen Vulgärökonomie“ (Karl Marx). Weshalb erweisen sich so viele kluge und gute Ansätze für eine Arbeit, die nicht unter dem Diktat steht, aus viel Geld mehr Geld zu machen, als nicht anschlussfähig, als bestimmt gut gemeinte, aber unbrauchbare Ideen? Macht spielt eine wichtige Rolle, aber es darauf zu reduzieren, ist mir zu wenig. Macht ist ein Verhältnis, damit sie funktioniert, bedarf es auch der Bereitschaft zur Ohnmacht.
In Organisationen fallen alle wichtigen Entscheidungen
Warum also klappt es nicht? Erstens weiß ich es nicht. Zweitens habe ich einen von Luhmann gelernten Gedanken, den ich gerne diskutieren würde. Seine Theorie legt großen Wert darauf, dass sich die moderne Gesellschaft auch in der Weise ausdifferenziert hat, dass zwischen drei Ebenen unterschieden werden muss: Erstens die Gesamtgesellschaft, die sich funktional differenziert in die großen Funktionsfelder (er sagt natürlich „Funktionssysteme“) wie Wirtschaft, Politik, Recht, Öffentlichkeit, Wissenschaft, Religion, Kunst, Sport etc. Zweitens, am anderen Ende sozusagen, die Interaktionen, also die Beziehungen zwischen Anwesenden (die „Lebenswelt“ würde wohl Habermas sagen, manche sprechen von „Zivilgesellschaft“). Drittens die Organisationen. In Organisationen fallen so gut wie alle wichtigen Entscheidungen unserer Gesellschaft; in Organisationen wird die (bezahlte) gesellschaftliche Arbeit geleistet, die außerhalb der Haushalte stattfindet; in Organisationen werden die Leistungen erbracht, die das Funktionieren der gesellschaftlichen Funktionsfelder ermöglichen.
Ich denke, dass Organisationen die sozialen Orte sind, an welchen man am ehesten Zugriff auf das gesellschaftliche Veränderungspotential hat. (Das erinnert ein bisschen an den „Marsch durch die Institutionen“, bei dem sich so viele dann doch lieber für die von Organisationen angebotenen Karrieren entschieden haben.) Die moderne Gesellschaft ist inzwischen ein globalisiertes Monstrum, das sich jedem direkten Zugriff entzieht. Der große Ruf nach „Gesellschaftsveränderung“, also nach der Veränderung einer Gesellschaft, die den ganzen Tag vor allem eines macht: sich zu verändern, ist ein bisschen naiv. Die große Hoffnung auf eine Lebenswelt oder eine Zivilgesellschaft, aus denen der Wille und die Kraft zu radikalen Veränderungen kommen, wurde bislang stets enttäuscht. Organisationen sind für mich Dreh- und Angelpunkte, weil sie Kommunikation und Operation, Produktion und Konsumtion miteinander verknüpfen. Auf Organisationen kann und muss Druck von innen und außen (es geht nur mit sozialen Bewegungen, aber sie dürfen nicht in der zivilgesellschaftlichen Luft hängen) ausgeübt werden, die Kriterien ihrer Entscheidungen zu überprüfen, zu rechtfertigen – und zu verändern.
Wenn wir mit den Organisationen den Ort der Veränderungen identifiziert hätten, fehlt es uns aber trotzdem noch an „gangbaren Strategien“, wie du sagst; Strategien müssen vermitteln zwischen den vorgefundenen Zuständen und den Zielen. Dieses Problem wird uns noch zu beschäftigen haben. In der Sache halte ich den feministischen Angriff auf das bestehende Geschlechterverhältnis und die ökologische Verteidigung der natürlichen Lebensgrundlagen für die beiden entscheidenden Bezugspunkte. Das bedingungslose garantierte Grundeinkommen ist auf der Instrumentenebene für mich ein vielversprechender Hebel – aber ich finde, jetzt solltest erst Du dringend wieder zu Wort kommen.
Zwar konstruktiv, aber leider nicht besonders radikal
Ingrid:
Ich lese in dem, was Du schreibst, genau die Spannung, die ja auch schon im Titel des Blogs, für den wir dieses Gespräch führen, angesprochen ist: der Anspruch und die Schwierigkeit einer Vermittlung zwischen Radikalität und Konstruktivität. Wie läßt sich radikale Kritik am Zustand der Welt und den darin aktuell dominierenden Tendenzen und Interessen verbinden mit machbaren Konzepten zur Überwindung und Veränderung dieses Zustands – und zwar nicht im Sinn einer einfachen Modifikation des Status quo eher im Sinn des Machterhalts derer, die von diesem Status quo profitieren, sondern im Sinn von mehr Freiheit, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Solidarität und Emanzipation? Also im nicht zufälligerweise einigermaßen altmodisch anmutenden Sinn einer „Weltverbesserung“.
Ich teile Deine Skepsis gegenüber sympathischen Vorschlägen beispielsweise hinsichtlich einer anderen Wirtschaftsweise, die sich aber noch nicht einmal die Frage stellen, ob und wie sich diese Vorschläge unter den gegebenen Bedingungen einschließlich der darin enthaltenen Machtverhältnisse in praktisches Handeln konkreter Akteure übersetzt werden können. Es entsteht dann der Anschein, als ob sich denkbare Akteure (Regierungen, Parteien, sonstige Organisationen und Institutionen, soziale Bewegungen) diesen Vorschlägen aus Dummheit, Verblendung oder mehr oder minder niederen Motiven einfach verweigerten. Vor diesem Hintergrund kann die Verzweiflung am Zustand der Welt dann leicht in die Sehnsucht beispielsweise nach einem starken Mann oder einer starken Frau oder einem starken Expertengremium umschlagen, die die Welt endlich in Ordnung bringen, die Klimakrise beseitigen, den Kapitalismus zähmen und die Globalisierung in vernünftige Bahnen lenken.
Viele Vorschläge zur Veränderung der Weltwirtschaftsordnung oder auch nur der Konstruktion des deutschen Sozialstaats setzen bei genauerem Hinsehen eine Revolution voraus – ohne den Funken einer Idee wer, warum und wie diese Revolution bewerkstelligen könnte. Es gibt auch Vorschläge, die auf einen irgendwie revolutionären Impetus verzichten und – zumindest zunächst – nur vergleichsweise harmlose Reformen ins Auge fassen. Solche Vorschläge erscheinen zwar konstruktiv, aber eben leider nicht besonders radikal und es steht genau deshalb zu befürchten, dass sie an den grundlegenden Problemen etwa des Mangels an Gerechtigkeit, Solidarität, Nachhaltigkeit und Emanzipation nichts ändern und auch nicht wirklich eine Dynamik in diese Richtung in Gang setzen.
Ich kann gut nachvollziehen, dass Du nach Erklärungen suchst, warum die Spannung zwischen Radikalität und Konstruktivität so schwer zu überbrücken ist. Auch dass Du solche Erklärungen bei Luhmann suchst und findest, oder eben auch bei Karl Marx. Beide analysieren systemisch befestigte Verhältnisse, die sich gegen Veränderung immunisieren, indem sie die entsprechenden Impulse in eine Modernisierung des Status quo umlenken – unter Beibehaltung und Stabilisierung der Grundstrukturen. Mich stört nun bei Luhmann allerdings nicht nur der Verzicht auf konstruktive Vorschläge zu politischem Handeln unter den vom ihm analysierten Konstellationen; mich stört ebenso der Verzicht auf eine auch normativ gehaltvolle radikale Kritik an der unendlichen Variation der in ihren Grundstrukturen gleichbleibenden Verhältnisse. Bei Karl Marx ist demgegenüber aus meiner Sicht die Intention der Veränderung mit der Radikalität seiner Kritik systematisch verknüpft, weil sie sich gleichsam wechselseitig bedingen.
„Blasierte Selbstgerechtigkeit“
Hans-Jürgen:
An dieser Stelle habe ich leider keinen Grund, dir zu widersprechen. Zwar haben Kritik und Protest in Luhmanns Theorie der Moderne einen hohen Stellenwert, aber „Luhmanns Systeme sind ziemlich ausbruchssicher. Um da rauszukommen, genügt es nicht einmal, ein neues Leben anzufangen“, hat Franziska Augstein einmal geschrieben. Für die Protestierenden findet Luhmann manchmal harsche Worte wie „blasierte Selbstgerechtigkeit“, „unreflektiertes Sich-für-besser-Halten“ und er krönt seine Distanz zum Protestverhalten mit der süffisanten Bitte: „Vielleicht könnte man die Naivität etwas reduzieren.“ Er hält Protest im wesentlichen für „Angstkommunikation“, die zu der einen und anderen Korrektur führen mag oder auch zu Zerstörungen, aber so etwas wie konstruktive Radikalität sieht er darin gewiss nicht.
Renaissance der Kapitalismuskritik
Ingrid:
Anleitungen zum politischen Handeln finden sich allerdings auch nicht – oder jedenfalls nicht unmittelbar bei Karl Marx. Das Problem bei ihm liegt nun allerdings darin, dass das konstruktive Potential seiner Gesellschaftskritik in der Aktualisierung ihrer Radikalität immer mehr verloren geht. Gerade in jüngerer Zeit erlebt die Marx’sche Kapitalismuskritik eine beachtliche Renaissance – beispielsweise im Kontext der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/9 und auch aktuell wieder in der Corona-Krise. Aber die Vorstellung, dass sich in der Zuspitzung der inneren Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaftsweise und mit der Verschärfung der von ihr produzierten Probleme zugleich auch die Bedingungen der Möglichkeit einer „großen Transformation“ herstellen, hat sich zumindest bislang als Illusion erwiesen.
Trotzdem halte ich die Konstruktion eines unauflösbaren Widerspruchs zwischen der Radikalität und der Konstruktivität der Gesellschaftskritik für falsch – auch z.B. in der Version, wie sie von der frühen Kritischen Theorie, der ich mich im Übrigen ja sehr verbunden fühle, vertreten wurde. Es gibt ein sehr bezeichnendes Zitat von Max Horkheimer, in dem das Problem einer Vermittlung zwischen Radikalität und Konstruktivität auf eine elegante, aber m.E. höchst problematische Weise „gelöst“ wird: „Mein Pessimismus“ – so erläuterte Horkheimer die Grundhaltung der Kritischen Theorie, wie sie von ihm und den meisten anderen ihrer Begründer vertreten wurde – „lässt sich besser verstehen, wenn man den Gedanken, den ich immer wieder ausgesprochen habe … mit hineinnimmt, nämlich das Motto: Theoretisch Pessimist und praktisch Optimist sein, das Schlimme erwarten und doch das Gute versuchen“ (Horkheimer 1972).
Aber wenn „das Gute“ keine Grundlage in der Theorie hat, dann ist entweder die Praxis, die darauf zielt, von vorneherein zum Scheitern verurteilt, oder die Theorie ist mindestens unvollständig, vielleicht sogar falsch. Der Untertitel dieses Blocks – „radikale Konstruktivität“ – verweist deshalb aus meiner Sicht nicht nur auf ein Spannungs- sondern auch auf eine wechselseitiges Bedingungsverhältnis von Radikalität und Konstruktivität in dem Sinn, dass der Mangel an Konstruktivität der Kritik einen Zweifel an ihrer Radikalität begründet – und umgekehrt. In den Worten von Oskar Negt formuliert: nur noch Utopien sind realistisch.
Werturteile, versteckt hinter scheinbar objektiven Zahlen
Die gute Absicht kann selbstverständlich eine möglichst vorurteilsfreie Analyse ihrer Realitätstüchtigkeit – auch und insbesondere hinsichtlich nicht intendierter Nebenfolgen entsprechenden Handelns – nicht ersetzen. Dennoch muss die Frage „wie ist Veränderung möglich?“ und „in welchem Sinn, in welcher Art und Weise ist sie nach welchen Kriterien nicht nur machbar sondern auch wünschenswert?“ gestellt werden dürfen – und zwar nicht nur an Politiker, Theologen und Philosophen sondern auch von Sozial- und Politikwissenschaftlern, Experten in unterschiedlichen Fachgebieten und auch von Journalisten.
Es ist selbstverständlich notwendig und möglich, nach der Eigendynamik beispielsweise einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung oder auch nach der inneren Logik der Corona-Pandemie einerseits und ihres unterschiedlichen Managements in verschiedenen Ländern zu fragen – ohne vorab ein Urteil über die moralische Qualität der kapitalistischen Wirtschaftsweise, oder über die sozialen und politischen Risiken der Pandemie bzw. des von ihr ausgelösten Handelns abzugeben. Tatsächlich hat allerdings gerade die Corona-Krise gezeigt, dass vermeintlich objektive, wertneutrale Wissenschaftler und Experten doch sehr bestimmt waren von – oft allerdings kaum reflektierten – Werturteilen, die sich dann auch in vermeintlich objektiven, scheinbar wertneutralen Statistiken, Kennziffern niedergeschlagen haben. Zum Beispiel haben sich Experten, Wissenschaftler, Ärzte, Verbandsfunktionäre einige Zeit vorrangig an der Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems orientiert. Das war selbstverständlich ein Werturteil. Man hätte dieses Ziel auch von vorneherein durch andere Werte und Normen relativieren können – wie beispielsweise die Beachtung der Würde des Menschen oder auch die Vermeidung einer tiefgreifenden Wirtschaftskrise oder auch die Beherzigung demokratischer Grundrechte (beispielsweise auch von alten Menschen in Altersheimen oder von kleinen Kindern in beengten Wohn- und schwierigen Familienverhältnissen).
Im Nachhinein wird die einseitige Ausrichtung des Umgangs mit der Pandemie an Funktionskriterien des Gesundheitssystems intensiv diskutiert. Dabei spielt allerdings die Frage, an welchen Kriterien die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems gemessen wird, immer noch einer eher nachrangige Rolle. Tatsächlich waren aber die von den Experten empfohlenen und tatsächlich ergriffenen Maßnahmen ganz stark auf intensivmedizinische technische Kapazitäten ausgerichtet, während beispielsweise palliativmedizinische Kapazitäten kaum thematisiert wurden.
Aus meiner Sicht, und damit reiche ich an Dich weiter, ist die Frage „wie ist Veränderung möglich?“ nicht zu trennen von einer anderen Frage – nämlich „in welchem Sinn, in welcher Art und Weise und nach welchen Kriterien ist Veränderung nicht nur machbar, sondern auch wünschenswert?“ Und da kommt neben dem Spannungsverhältnis zwischen Radikalität und Konstruktivität auch noch das Spannungsverhältnis zwischen Utopie und Realismus ins Spiel – und zwar auch im Sinne jenes wechselseitigen Bedingungungsverhältnisses, das in der Rede von „konkreter Utopie“ (Bloch) und von „utopischem Realismus“ (Giddens) angedeutet wird.
Wider den funktionalen Extremismus
Hans-Jürgen:
Konstruktive Radikalität als Problem und Herausforderung haben wir, finde ich, ganz gut umrundet. Wollen wir praktisch werden, führt kein Weg daran vorbei, Komplexität drastisch zu reduzieren und mit allen Risiken, vielleicht doch den falschen Griff zu tun, Knackpunkte zu bestimmen.
Erst einmal: Wir und viele andere würden nicht über Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und Demokratie sprechen, wären es nicht Werte, die in unserer Gesellschaft anerkannt sind. Zugleich gibt es aber die offenkundig ausgeprägte Neigung, es im Alltagshandeln mit diesen Werten nicht so ernst zu nehmen und es für relativ normal zu halten, das ziemlich genaue Gegenteil zu praktizieren. Nach mehr als 200 Jahren Erfahrung mit der modernen Gesellschaft scheint mir unbestreitbar, dass sie ökologische Zerstörung, soziale Ungerechtigkeit und undemokratische Entscheidungsprozesse systematisch erzeugt und, zieht man eine Gesamtbilanz, sogar favorisiert. Zwar wird national wie global immer wieder protestiert und reformiert, dabei so manches korrigiert und verbessert, aber die Ursachen für umweltzerstörende, ungerechte und undemokratische Praktiken sind offenbar tief verwurzelt.
„Der Mensch“ sei dafür verantwortlich, ist an Stammtischen zu hören, auf Online-Plattformen und in Leitartikeln zu lesen. Je nach dem, wofür gerade eine Erklärung fehlt, wird hausgemachte Anthropologie bemüht, werden rücksichtslos, gierig, herrschsüchtig, unterwürfig etc. zu Gattungsmerkmalen des homo sapiens ernannt und unter besonderer Berücksichtigung dessen, was „typisch Mann“ und „typisch Frau“ ist, als leider unabänderliche Verhaltensweisen abgehakt. „Menschlich, allzu menschlich“ dient als Legitimationsmuser inhumaner Zustände.
Mehr für sich selbst haben, mehr von anderen nehmen
Wenn man im Gegensatz dazu Menschen als „weltoffene“, zu fast allem fähige Lebewesen respektiert, werden die Verhältnisse wichtig, unter denen sie agieren. Welche Strukturelemente der Moderne sind dafür verantwortlich, dass sowohl der Raubbau an der Natur laufend weiter geht, als auch wahnwitziger Komfort und fürchterliches Elend ständig neu entstehen, als auch Macht statt Mitbestimmung ungebrochen das Sagen behält – und die Vielen trotz allem irgendwie mitmachen. Ich denke, die Wurzel ist der funktionale Extremismus der Moderne, der zu Unverantwortlichkeit der einzelnen Akteure für das Ganze und zu Unverantwortlichkeit des Ganzen für die einzelnen Akteure führt.
Von funktionalem Extremismus zu sprechen, ist deshalb berechtigt, weil die Eigendynamik funktionaler Differenzierung einen doppelten Effekt hat, nämlich Steigerung nach innen und Instrumentalisierung nach außen. Nicht nur Kapitalisten agieren geldgierig und Politiker machthungrig. Auf jedem Feld, auch in der Wissenschaft, dem Sport, der Kunst, der Öffentlichkeit hängt herausragender Erfolg für Organisationen und Personen davon ab, sich der jeweiligen Funktionslogik möglichst uneingeschränkt zu unterwerfen, auf dem eigenen Gebiet immer noch mehr zu wollen und seine (soziale und natürliche) Umwelt nur unter den zwei Gesichtspunkten wichtig zu nehmen, wie sie ausgenutzt und ob sie zum Störfaktor werden kann. Ohne dass (rechtlich verbindliche) Grenzen gesetzt und durchgesetzt werden, kennen die Funktionsfelder weder ein Genug ihrer Erfolgsmedien: mehr ist besser als weniger, das betrifft nicht nur das Geld, sondern auch die Macht, das Wissen, die Prominenz, die Liebe, die Gesundheit, die Siege; noch kennen sie Zurückhaltung gegenüber ihren sozialen und natürlichen Umwelten, wenn es darum geht, sie für die eigenen Erfolge zu instrumentalisieren. Dieser funktionale Extremismus fällt an der Wirtschaft und an der Politik nur besonderes auf und hat dort als „Kapitalismus“ und als „Machiavelismus“ eigene Namen bekommen, tatsächlich herrscht er auf allen Funktionsfeldern.
Zwei strategische Ansätze
Wenn man den extremen Funktionalismus als Grundproblematik anerkennt und fragt, wie die gesellschaftlichen Akteure, also Organisationen und Personen, in die Lage versetzt werden können, sich von dessen Handlungsanweisungen zu befreien, dann sehe ich zwei strategische Ansätze: Erstens die Organisationen dazu zu bringen, mehr Verantwortung für das Ganze zu übernehmen, und zweitens die Personen von der alleinigen Verantwortung für sich selbst zu entlasten, also mehr kollektive Sorge für deren Wohlergehen zu tragen.
„Das Ganze“ schreibt sich so leicht, dabei handelt es sich heute um nicht weniger als die Weltgesellschaft, aber sieht man genauer hin, existiert das Ganze in vielteiligen Formen angefangen mit der Stadt über die Region, das Bundesland und die Nation bis hin zu transnationalen Vereinigungen und eben die Welt als Dorf. Und in jedem Einzelfall stellen sich genau diese beiden strategischen Fragen, wie die Organisationen ihrer Verantwortung für das Ganze besser gerecht werden und wie die Einzelpersonen kollektiv entlastet werden können, um ihre Mögllichkeiten der Selbstbestimmung zu verbessern.
Praktisch heißt das, dass laufend sehr viele politische Entscheidungen anstehen, dass Herr-im-Haus-Ansprüchen die Basis entzogen wird und das Gelingen davon abhängt, dass demokratische Prozesse zu konkreten Vereinbarungen führen; zu konkreten Vereinbarungen darüber, wie die Entscheidungs- und Handlungsfreiheiten der Organisationen stärker eingeschränkt und kontrolliert werden; zum anderen wie die Personen zum Beispiel auf dem Weg eines bedingslosen Grundeinkommens aus der völligen Abhängigkeit von individuell zuschreibbaren bezahlten Arbeitsleistungen befreit werden können.
Für die Realitätstüchtigkeit dieses strategischen Ansatzes spricht, dass beide Wege längst beschritten werden, dass zentrale politische Auseinandersetzungen genau um diese beiden Konfliktpunkte geführt werden – aber auf der Grundlage historisch gewachsener, damals gut begründeter, inzwischen jedoch völlig unangemessener Sinnstiftungen, die den Organisationen bei weitem zu große Freiheiten zugestehen und den Personen viel zu schlechte Voraussetzungen bieten, ihre Selbstverantwortung selbstbestimmt zu leben.
Kontroversen, Konflikte, Kämpfe
Ingrid:
Ich glaube, Dein Schwenk ins Praktische ist mir ein bisschen zu abstrakt und irgendwie auch zu groß und allumfassend: „die“ Organisationen und „die“ Personen“ – wer oder was ist das? Meinst Du alle Organisationen gleichermaßen und alle Personen? Ich bin kein Fan von Carl Schmitt und ich finde es auch einigermaßen problematisch, wenn er neuerdings mit seinem Freund-Feind-Schema zur Referenz von Strategiedebatten in linken Milieus – wie beispielsweise bei Chantal Mouffe – avanciert. Aber moderne Gesellschaften differenzieren sich ja nicht nur funktional; sie tun dies auch in hohem Maße hierarchisch und selektiv. Sie sind dementsprechend geprägt von unterschiedlichen und zumindest partiell und latent widersprüchlichen Interessen, Bedürfnissen, Werten und politischen Standpunkten, die mit sehr unterschiedlichen Möglichkeiten ihrer Artikulation und Durchsetzung ausgestattet sind. Die Entwicklung dieser Gesellschaften vollzieht sich auch im Modus von Kampf, Konflikt und Kontroversen zwischen Organisationen und Institutionen wie aber auch zwischen unterschiedlichen Bevölkerungs- und Interessengruppen – wie z.B. zwischen „der Wissenschaft“ und „den Interessenverbänden“, zwischen NGOs und politischen Parteien, oder auch zwischen „Staat“ bzw. „Politik“ und „Wirtschaft“ bzw. „Markt“.
Aber aus meiner Sicht immer sind auch das immer noch zu große Kategorien um über Möglichkeiten des praktischen Handelns zu sprechen bzw. sich darüber Gedanken zu machen. Es geht nicht um „Staat versus Markt“, „Politik versus Ökonomie“, „Zivilgesellschaft“ versus „Parlament“ oder „Regierung“. Das sind falsche Alternativen, die sich weder theoretisch noch praktisch so stellen. Es gibt auch nicht die eine große Vision, die alle Bedürfnisse und Interessen unter einen Hut bringt. Es gibt viele Vorstellungen von Freiheit, Gleichheit und Solidarität und es gibt auch viele Bemühungen um mehr Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und Demokratie, die sich wechselseitig ergänzen, die aber vielleicht auch miteinander in Konflikt stehen oder zumindest geraten können. Und es gibt Gegenkräfte und –tendenzen, die etwas ganz anderes wollen und befördern, oder die auch einfach nur ihren individuellen oder organisationalen Vorteil suchen.
Kultur der Verschiedenheit
Es gibt im feministischen Diskurs schon seit einiger Zeit das Stichwort der Intersektionalität. Ursprünglich war damit die Überschneidung unterschiedlicher „Achsen der Differenz“, unterschiedlicher Mechanismen und Erfahrungen von Diskriminierung gemeint – etwa aufgrund von Geschlecht, sozialer Herkunft, Ethnizität, sexueller Orientierung, Alter, politischer Überzeugung, religiösen Glaubens etc. Aber Intersektionalität meint inzwischen auch Kommunikation und Kooperation zwischen unterschiedlichen sozialen Bewegungen und unterschiedlichen Arenen politischen Handelns, die ja nicht nur mit ihren jeweiligen Anliegen miteinander in Konflikt geraten können. Auch die Denkstrukturen und Handlungslogiken unterscheiden sich fundamental beispielsweise zwischen Gewerkschaften und neuen sozialen Bewegungen, zwischen politischen Parteien und Bürgerinitiativen oder auch zwischen unterschiedlichen Segmenten der Ökonomie, zwischen der Energiewirtschaft und Fridays for Future – ohne dass eine Seite gegenüber der anderen immer und per se „gut“ und „im Recht“ ist.
Intersektionalität zielt auf eine Kultur der Verschiedenheit – auch in der Form des Konflikts und der Kontroverse, die aber ihre Basis in wechselseitiger Anerkennung und in der Selbstverpflichtung auf das Prinzip der inklusiven Solidarität hat. Das ist jetzt sicher auch wieder ziemlich abstrakt und noch nicht so richtig praktisch. Aber es weist doch in eine etwas andere Richtung als Dein Plädoyer für die „Verantwortung für das Ganze“ und die „Entlastung der Einzelnen von der alleinigen Verantwortung für sich selbst“. Ich weiß nicht, ob es so etwas geben kann wie „Verantwortung für das Ganze“ – ich weiß aber, dass Akteure, die das für sich beanspruchen, dazu tendieren sich über andere, denen sie irgendeine Form von Partikularismus attestieren, zu erheben – im Zweifel und notfalls auch auf höchst undemokratische Weise. Ich gehe deshalb lieber davon aus, dass wir nur hoffen können, dass sich „das Ganze“ im möglichst demokratischen und solidarischen Zusammenwirken der vielen in seinen historisch variablen Bestimmungen zur Geltung bringt und nie durch einen einzelnen Akteur repräsentiert wird. Und die „alleinige Verantwortung für sich selbst“ ist ohnehin eine – im Übrigen sehr männliche – Fiktion. Wir sind alle – von der Wiege bis zur Bahre – abhängig von anderen. Und zwar nicht nur in Form von Geld oder Einkommen, sondern auch und in erster Linie in Form von Arbeit.
Die Corona-Krise hat u.a. sehr deutlich gezeigt, dass die modernen Arbeitsgesellschaften in vielfältiger Weise einer grundlegenden Transformation hinsichtlich der Anerkennung und Wertschätzung unterschiedlicher Tätigkeitsfelder, aber auch ganz grundsätzlich hinsichtlich der Konstruktion und Organisation von Arbeit, der Verhältnisses zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit, des Zusammenhangs zwischen Arbeit und Leben und nicht zuletzt auch der internationalen Arbeitsteilung zwischen den Weltregionen bedarf. Das ist nicht nur ein Jahrhundertprojekt sondern die darin enthaltenen Herausforderungen verweisen auf den offenen Horizont von Zukunft schlechthin. Ich hoffe aber, dass in der Corona-Krise diejenigen Kräfte, die auf eine sozial-ökologische und sozial-emanzipatorische Transformation der Arbeit drängen eher gestärkt wurden. Es ist nur sehr schade, dass die Gewerkschaften sich mit ihrer Lobbyarbeit für die Automobilindustrie mal wieder als ziemlich gestrig profiliert haben.
Ich bin mit Dir für ein bedingungsloses Grundeinkommen im Sinn einer bedingungslosen Gewährleistung eines Rechts auf eine menschenwürdige Existenz. In der Corona-Krise wurden ja durchaus Elemente einer bedingungslosen Gewährleistung eines existenzsichernden Einkommens umgesetzt, die es für zukünftige Situationen einer tiefgreifenden sozialen Krise in eine tragfähige Strategie zu übersetzen gilt. Vielleicht ergeben sich daraus auch Impulse, für eine dauerhafte Implementierung einer sanktionsfreien Grundsicherung, die aber m.E. nur wirksam werden, wenn sich eine soziale Initiative in diese Richtung entfaltet, die dann auch in die etablierten Institutionen hineinwirkt.
Ich erhoffe mir aber vor allem von der Corona-Krise, dass von ihr nachhaltige Impulse für ein neues Verständnis der politischen Ökonomie einer modernen Demokratie ausgehen – und zwar vorrangig im Sinn der Versorgung und nicht im Sinn der Verwertung, vorrangig im Sinn von Kooperation und Solidarität und nicht im Sinn von Konkurrenz und Vorteilsnahme. Aber auch das wird nur dann stattfinden, wenn sich Menschen für ein solches Projekt engagieren. Eine strategische Schlüsselbedeutung hat für mich in diesem Kontext weniger das bedingungslose Grundeinkommen als eine neue Debatte um die Zukunft der Arbeit und um das Verhältnis zwischen „Arbeit“ und „Leben“. Und dazu könnten auch JournalistInnen und WissenschaftlerInnen wichtige Beiträge liefern. Auf geht’s!
Deine Gegenargumente machen mich sicherer
Hans-Jürgen:
Da wir – gemessen an dem, was in der öffentlichen Kommunikation für notwendig gehalten wird, um Aufmerksamkeit zu bekommen und zu behalten – ohnehin viel zu gehoben-freundlich miteinander umgehen, ist dein deutlicher Widerspruch von Vorteil. Leider ist er unbegründet, weil ich deine Argumente als Erläuterungen und Ergänzungen zu dem lese, was ich denke, freilich so nicht geschrieben habe.
Deine Gegenargumente machen mich sicherer, einen brauchbaren strategischen Ansatz gefunden zu haben, der zum einen theoretisch gut verankert ist. Denn auch wenn sie es unterschiedlich beschreibt und gewichtet, so ist sich die Soziologie doch über kaum etwas so einig wie über die funktionale Differenzierung als Kennzeichen der Moderne. Zum anderen ist der Ansatz politisch gut zu gebrauchen, weil er genau die beiden Konfliktlinien erfasst, um die sich die politischen Auseinandersetzungen in hohem Maße drehen. Nämlich erstens genau darum, ob und inwieweit die Entscheidungen und Handlungen der Organisationen und Personen nur partikular-eigensüchtigen Interessen folgen oder, so drückt es die Politik aus, auch zum Allgemeinwohl beitragen. Und zweitens, ob und inwieweit, jede und jeder Einzelne für ein gelingendes Leben die alleinige Verantwortung trägt oder ob die kollektiven Voraussetzungen, die vorgegeben Verhältnisse, in denen und unter denen jemand entscheidet und handelt, nicht doch sehr viel wichtiger genommen werden müssen.
Wer wollte bestreiten, dass sich die gesellschaftlichen Entwicklungen, wie du schreibst, „auch im Modus von Kampf, Konflikt und Kontroversen zwischen Organisationen und Institutionen wie aber auch zwischen unterschiedlichen Bevölkerungs- und Interessengruppen“ vollziehen. Konkurrenz (auf Märkten vom Arbeits- bis zum Beziehungsmarkt) und Hierarchie (in allen Organisationen, auch in den formal-demokratischen) bestimmen in der Tat den Alltag – aber eben im Rahmen und auf Basis funktionaler Differenzierung. Wenn man diesen Rahmen nicht ernst nimmt, ist nicht hinreichend zu verstehen, wie Politik, Wirtschaft, Öffentlichkeit etc. funktionieren.
By the way: Wenn man die funktionale Differenzierung nicht berücksichtigt, versteht man übrigens auch nicht, warum die gesellschaftliche Arbeit ihre feudal beherrschten bäuerlichen und handwerklichen Familienzusammenhänge verlassen musste zugunsten von industriellen Wirtschaftsorganisationen, die nur eines im Sinn haben, nämlich wie man aus investiertem Geld mehr Geld macht (und dabei ihren Kunden und der Öffentlichkeit via Marketing, Werbung und PR vorgaukeln, sie würden alles, was sie tun, nur für andere tun – was ja stimmt, aber sie tun es eben so und nur so, dann und nur dann, wie und wenn „es sich rechnet“, alles andere lassen sie unerledigt liegen).
Das Ganze existiert nur als Streitpunkt
Nee, Intersektionalität (sie zielt auf eine Kultur der Verschiedenheit, die ihre Basis in wechselseitiger Anerkennung und in der Selbstverpflichtung auf das Prinzip der inklusiven Solidarität hat, wie du sagst) und „Verantwortung für das Ganze“ weisen nicht in verschiedene Richtungen. Ich denke, etwas vereinfacht, das eine ist der Weg und das andere das Ziel. Das Ganze, ob kommunal oder global, existiert nur als Streitpunkt. Es ist kein Altar, an dem unter den Augen Hoher Priester der Macht, den Trumps, Putins und Erdogans, die einen geopfert und die anderen reich gesegnet werden. Welchen anderen Sinn soll denn Demokratie haben als genau diesen, das Ganze der Verfügbarkeit durch Autokraten zu entziehen und der kollektiven, gleichberechtigten Meinungs- und Willensbildung anheim zu stellen.
„Und die ‚alleinige Verantwortung für sich selbst‘ ist ohnehin eine – im Übrigen sehr männliche – Fiktion“, schreibst du. Ich sage, es ist die bürgerlich-moderne Fiktion mit fataler Tiefenwirkung, denn der Mainstream richtet sich danach, sonst wäre es nicht möglich, dass in der reichsten Gesellschaft der Menschheitsgeschichte Hunger, Obdachlosigkeit, Elend, Flucht Massenphänomene sind. Zu ignorieren, was du festhältst („Wir sind alle – von der Wiege bis zur Bahre – abhängig von anderen. Und zwar nicht nur in Form von Geld oder Einkommen, sondern auch und in erster Linie in Form von Arbeit.“), so zu tun, als ob es nicht so wäre, ist doch gerade die Spezialität des bürgerlich-modernen Gesellschaftsbildes. Weil dieses so unrealistisch ist, befindet sich hier ein entscheidender Hebel, mit dem ökologische und emanzipatorische Transformationen konstruktiv-radikal voran bewegt werden können.
Ich freue mich auf dein Schlusswort.
Funktions- und Herrschaftszusammenhänge
Ingrid:
Wahrscheinlich gibt es zwischen uns beiden wirklich eine tiefe Übereinstimmung in der Überzeugung, dass es keine Rangfolge gibt zwischen Individuum und Gesellschaft, Subjekt und Struktur, Freiheit und Gerechtigkeit, dass man „das Ganze“ vom Einzelnen her begreifen muss und umgekehrt, dass es ein reziprokes Verhältnis zwischen der Verantwortung des Einzelnen (der einzelnen Individuen ebenso wie der einzelnen Organisationen) für „die Gesellschaft“ einerseits und der Verantwortung „der Gesellschaft“ für die Einzelnen andererseits. Wir stehen mit diesen Überzeugungen in Opposition zu dem in den modernen Gesellschaften unter den in ihnen herrschenden Machtverhältnissen dominanten Gesellschafts- und Menschenbild. Du meinst, Du kannst das besser mit dem Konzept der funktionalen Differenzierung begründen, ich greife eher auf das Konzept der Arbeit und der Arbeitsteilung bzw. der sozialen Kooperation zurück, weil ich damit nicht nur die Komponente der Differenz, sondern auch die der Hierarchie und der Herrschaft erfassen kann. Du gibst der funktionalen Differenzierung eine systematische Priorität, ich erachte die Funktions- und Herrschaftszusammenhänge moderner Gesellschaften als untrennbar miteinander verwoben.
In sehr vielen politisch-praktischen und auch -theoretischen Fragen stimmen wir weitgehend überein, so auch – wie in diesem Gespräch deutlich wurde – in der Einschätzung der sogenannten Corona-Krise und der darin enthaltenen Herausforderungen. Trotzdem weiß ich nicht, ob ich mich wirklich darüber freuen soll, dass Du meine kritischen Einwände gegen Deinen auf „die Verantwortung der Organisationen für das Ganze“ und „die Entlastung der Personen von der alleinigen Verantwortung für sich selbst“ bezogenen strategischen Ansatz nicht als „Gegenargumente“ sondern als „Erläuterung und Ergänzung“ liest. Ich finde es ein bisschen schade, dass unser Gespräch zumindest aus Deiner Sicht in einen doch eher vagen Konsens mündet – und nicht in eine radikal-konstruktive Kontroverse, die vielleicht auch von anderen fruchtbar weitergeführt werden kann – auch und gerade was die konkreten Möglichkeiten und Risiken politischen Handelns in der aktuellen Krise anbelangt.
Ich habe vor ein paar Tagen eher durch Zufall im Deutschlandfunk in der Serie „Essay und Diskurs: Projekt Weltverbesserung“ einen Beitrag von Mathias Greffrath zum Thema „Die Ideen sind da, doch wir noch nicht so weit. Warum Utopien scheitern“ gehört, der ganz zentral Bezug auf die gegenwärtige Lage nimmt. Greffrath meint, dass sich in der Corona-Krise eine „Weggabelung“ unterschiedlicher Bewältigungsstrategien öffnet, die in einem engen Zusammenhang mit Problemen und Herausforderungen stehen, mit denen die modernen Gesellschaften auch schon vor dem Ausbruch der Pandemie konfrontiert waren. Weil Greffrath unterschiedliche Aspekte der Krise, die wir auch angesprochen haben, zu konkreten Alternativen politischen Handelns verdichtet, will ich ihn hier am Ende unseres Gesprächs etwas ausführlicher zitieren. Greffrath erläutert die Weggabelungen eher beispielhaft als systematisch mit folgenden Fragen:
- „Wenn die Corona-Arbeitslosigkeit sich wie befürchtet entwickelt, wenn sie durch einen Automatisierungsschub verstetigt wird: Wollen wir ein paar Millionen Menschen mit einem kargen, aber bedingungslosen Grundeinkommen in ein Leben steriler, ungeselliger Passivität entlassen, oder besinnen wir uns auf das Rezept der ehrwürdigen Arbeiterbewegung: allgemeine radikale Verkürzung des Arbeitstages?“
- „Wenn der Impfstoff auf sich warten lässt: Werden wir die Lehrerlücke mit Microsoft- und Apple-Produkten füllen, das digitale Lernen zur Norm machen, oder werden wir mehr Lehrer einstellen, die Klassen verkleinern, die Tablets nutzen, um die Schule zu einem sozialen Ort zu machen?“
- „Werden wir den Pflegenotstand der nächsten Jahrzehnte durch Roboter und durch billige Hilfskräfte lösen, die dann in Osteuropa fehlen, oder werden wir darüber nachdenken, wie wir Familien entlasten, wie wir die Pflege vom Profit befreien?“
- „Begnügen wir uns mit einer verbesserten Aufsicht über die norddeutschen Schlachthöfe oder nutzen wir die Chance von Corona, um über das Abholzen des Amazonas-Waldes für Futtersoja-Plantagen nachzudenken, über den Zusammenhang unserer Essgewohnheiten mit der Ausbeutung rumänischer Familienväter? Und nicht nur über die Schlachthofarbeiter aus Rumänien, sondern auch die Lkw-Fahrer aus Weißrussland, die Putzfrauen aus Moldawien und die Bauarbeiter aus Bulgarien – also über Europa?“
Zumindest was den ersten Punkt anbelangt, die Einschätzung des bedingungslosen Grundeinkommens, bist Du ja dezidiert anderer Meinung – allerdings nicht im Sinn einer Alternative zu einer radikalen Arbeitszeitverkürzung. Tatsächlich könnten sich beide Konzepte gut ergänzen und mit neuen Ansätzen einer solidarischen Lohnpolitik verbinden. Das gegenwärtige Krisenmanagement enthält Komponenten der bedingungslosen Gewährleistung eines Existenzminimums ebenso wie Momente radikaler Arbeitszeitverkürzung und von einer solidarischeren Lohnpolitik – etwa für Pflegekräfte oder für Beschäftigte in der Fleischindustrie – war zumindest viel die Rede. Aber wir sind in unserem Gespräch bei der Frage, wie man die Verstetigung fortschrittlicher Momente der Krisenbewältigung praktisch sichern und befördern kann, nicht wirklich weit gekommen. Und die anderen Alternativen politischen Handelns, die Greffrath beispielhaft umreißt, veranschaulichen doch auch eher die Diskrepanz zwischen dem, was wir für wünschenswert halten und dem, was wir realistischerweise erwarten. Aber wir verfügen ja gottseidank nicht nur über einen Wirklichkeits- sondern auch über einen Möglichkeitssinn und über die Erinnerung an glückliche Momente der Geschichte, in denen sich die Möglichkeit des Fortschritts in der Wirklichkeit manifestierte – wie begrenzt und ambivalent auch immer.
Ausgewählte Publikationen von Ingrid Kurz-Scherf :
- Pragmatische Strategien der feministischen Revolution. Erscheint in: Regine Othmer u.a., Sammelband mit ausgewählten und kommentierten Schriften von Annemarie Tröger. 2021.
- Der intersektionale Frauen*Streik : ein neuer Lichtblick im Dickicht verschlungener Verhältnisse? In: Ingrid Artus u. a. (Hrsg.), Arbeitskonflikte sind Geschlechterkämpfe. Sozialwissenschaftliche und historische Perspektiven. Münster 2020.
- Eine eigene Geschichte: Frauen in der IG Metall. In: Jörg Hofmann, & Christiane Benner (Hrsg), Geschichte der IG Metall, Frankfurt a.M. 2019.
- „Wir sollten alle Feministinnen sein“. In: Willi Körtels, Biographien von Frauen der Region Trier. Trier 2019.
- Was ist falsch am Kapitalismus und seiner Kritik? – Oder: Hatte Karl Marx vielleicht doch (nicht) recht? In: Alexandra Scheele, & Stefanie Wöhl (Hrsg.), Feminismus und Marxismus. Weinheim Basel 2018.
… und von Hans-Jürgen Arlt:
- Mustererkennung in der Coronakrise. Schöpferin und Zerstörerin von Netzwerken. Wiesbaden, Springer VS 2020.
- Spielen ist unwahrscheinlich. Eine Theorie der ludischen Aktion. Springer VS 2020 (mit Fabian Arlt).
- Die Entscheidung. Lösungen einer unlösbaren Aufgabe. Springer VS 2019 (mit Jürgen Schulz)
- Arbeit und Freiheit. Eine Paradoxie der Moderne. Wiesbaden, Springer VS 2017.