Grobianische Weltanschauungen und kuscheliger Betroffenheitskult

In der Sache lohnt es sich nicht, auf die völlig missratene Polizei-Kolumne von Hengameh Yaghoobifarah in der taz vom 15. Juni 2020 zurückzukommen. Die grundsätzlichen Fragen, die sich daraus ergeben, haben sich jedoch nicht erledigt. Man kann die Kolumne zum Anlass nehmen, sich zu fragen, wie solche Texte den Weg in die Zeitung finden und auf welchen intellektuellen und mentalen Voraussetzungen diese Art von Journalismus beruht.

Die erste Frage richtet sich an die Redaktion und kann deshalb von Außenstehenden nur unzureichend beantwortet werden, weil sie redaktionelle Bräuche, Regeln und Zuständigkeiten nicht genau genug überblicken. Deshalb dazu nur kurz das Wenige an Bekanntem. Was die Strukturen betrifft, so hat die taz zwei Chefredakteurinnen und für jedes Ressort einen oder mehrere Redaktionsleiter. Das Spezifische der taz-Strukturen ist jedoch, dass „die Ressorts … autonom sind, sie entscheiden selbst, was sie veröffentlichen und welchen Themen sie sich widmen“, schreibt Saskia Hödl, Leiterin des Ressorts „Gesellschaft und Medien“, in dem die Müll-Kolumne erschienen ist. Ressort-Autonomie kann eine gute Sache sein, wird aber schnell zum Problem, wenn die Leitung nicht willens oder nicht fähig ist, Schaden von der Zeitung abzuwenden. Der tritt ein, wenn in einem Artikel von Menschen, in diesem Fall von Polizisten die Rede ist, „die man nicht einmal in die Nähe von Tieren“ bringen sollte oder – ohne den Hauch eines Belegs – vom „überdurchschnittlichen Fascho-Mindset“ einer ganzen Berufsgruppe schwadroniert wird. Ressortleitungen, die derlei nicht als haltlosen Unfug erkennen, sondern als „Meinung“ oder „Satire“ durchwinken, haben schlicht versagt.

Die zweite Frage wirft kompliziertere Probleme auf, denn das Versagen der Redaktionsleitung legt den Verdacht nahe, dass sich die intellektuellen und politischen Voraussetzungen der Autorin der Polizei-Kolumne und der Ressortleiterin mindestens gleichen, vielleicht sogar decken. Saskia Hödl verteidigt Hengameh Yaghoobifarah in der taz vom 22.6.2020 auf einer ganzen Seite, ohne auch nur mit einem Wort auf den unsäglichen Inhalt der Kolumne der Kollegin einzugehen. „Mein oberstes Ziel war es, Hengameh Yaghoobifarah nicht in den Rücken zu fallen“. Sie sieht diese vielmehr als ein Opfer von „weißen Kolleginnen und Kollegen“, die der iranisch-deutschen Autorin „in verletzenden Debatten (…) Kompetenz, Vernunft, Objektivität oder Relevanz“ absprachen. Belege für diese pauschale Behauptung liefert Saskia Hödl nicht. Sie unterstellt einfach, dass „weiße Kollegen und Kolleginnen“ emotional, intellektuell und politisch in einer „weißen Perspektive“ befangen sind, aus der sie so wenig entkommen können wie aus ihrer weißen Haut. Im Widerspruch dazu statuiert sie trotzdem mit viel Pathos: „In einer Gesellschaft kann es eine Nichtbetroffenheit von der Betroffenheit der anderen nicht geben“.

Der Imperativ der Betroffenheit – ein intellektuell halbgares Produkt

Was heißt und worauf beruht die Behauptung, wenn sich eine/einer von etwas betroffen fühle, könnte sich keine/keiner nichtbetroffen fühlen? Wie funktioniert eine Welt oder Gesellschaft, die Betroffenheit zum moralischen Imperativ deklariert? Eine Voraussetzung, die Homogenität unterstellt, wo doch offensichtlich und faktisch Diversität, Pluralität und Differenz vorliegen. Der Imperativ der Betroffenheit ist das intellektuell halbgare Produkt einer Sozialisierung in und mit gesellschaftstheoretischen Konzepten, die zwar großkalibrige Begriffe wie „Gender, Sex, Rasse, Macht, Gewalt, Rasse und Privilegien“ vor sich her tragen, aber recht sorglos damit umgehen und sich kaum um theoretische Konsistenz und empirische Überprüfbarkeit kümmern. Schon in der Philosophie und Theorie Michel Foucaults zum Beispiel verliert der Begriff Macht, um den sein Werk zentriert ist, Grenzen und Konturen sowie an Substanz und Überprüfbarkeit. Und unterhalb, also bei seinen Adepten und Interpreten, wird es schnell finster. Sozusagen alles kann, alles wird im Handstreich totalisiert und als Ausdruck von Macht funktionalisiert – vom Liebesbrief über die körperliche Züchtigung bis zur Atombombe.

Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Autorinnen und Autoren sowie Redakteurinnen/Redakteure wurden auf ihrem Bildungsweg an Universitäten, Fachhochschulen und Journalistenschulen mit einem Rucksack voller mehr oder weniger leichter bis windiger Theoreme aus dem „Intersektionalitätslexikon: Rassismus, Sexismus, Homophobie, Transphobie und Antisemitismus“ (Dietmar Dath, FAZ 10.7.2020) ausgestattet, die mit Theorie bzw. Wissenschaft marginal, mit Weltanschauungsgefasel und Quasi-Religionen zentral zu tun haben.

Dem pauschalisierend verengten Blick entgeht nichts – außer dem Wesentlichen

Ein erschreckendes Beispiel für die Trivialisierung und Enthistorisierung der Debatte bot jüngst die Anglistin Susan Arndt, nebenher Spezialistin für „Sprache, Diskriminierung und Empowerment im Umfeld der Gender Studies, Intersektionalitätsstudien und Rassismusforschung“ in der taz vom 8. Juli 2020. Unter dem Titel „Machtsystem Rassismus“ bringt die Autorin es fertig, über 2000 Jahre Philosophie- und Herrschaftsgeschichte zwischen Aristoteles und Kant auf „Rassismus“ und „Macht“ zu reduzieren, obwohl der Begriff Rasse in der längsten Zeit dieser Globalsicht gar nicht existierte, und Macht, Gewalt, Unterdrückung, Herrschaft und Privilegierung in den zwei Jahrtausenden aus ganz vielen anderen Motiven und mit durchaus unterschiedlichen sozialen, politischen und ökonomischen Mechanismen funktionierten.

Dem pauschalisierend verengten Blick, der alles homogenisiert und zu Rasse/Macht vermanscht, entgeht nichts – außer die wesentlichen systematischen und historischen Unterschiede, auf die es ankommt. Etwa derjenige, dass Kant natürliche und empirisch wahrnehmbare Unterschiede der Menschen nach Hautfarbe, Sprache oder Religion in seiner Moralphilosophie theoretisch fundiert abgrenzt vom Menschenrecht auf rechtliche Gleichheit und dem „ursprünglichen, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehenden Recht“, wonach die „Freiheit eines jeden“ gelte, sofern sie mit der Freiheit „jedes Anderen“ nach einem „allgemeinen Gesetz“ zusammen bestehen könne. Mit der Erinnerung daran hat beispielsweise Michael Wolff in der FAZ (9.7.2020) Kant gegenüber dem fast schon komischen Vorwurf verteidigt, ein „Rassist“ zu sein..

Im journalistischen und tagespolitischen Handgemenge sind es vor allem Debatten über Feminismus, Gender, Sex, und Rassismus in den Feuilletons, die solchen totalisierenden Verkürzungen Raum bieten. Soziale Medien sorgen dann für die zügige Vereinfachung, Vergröberung und Verbreitung. Im Anschluss an Judith Butlers anregendes Buch „Gender Trouble“ (1990) entstanden zahlreiche queertheoretische Ansätze von unterschiedlichem intellektuellem Format. Gemeinsam blieb diesen Ansätzen jedoch die „Unbestimmtheit“ ihrer begrifflichen und methodischen Grundlagen, wie Annamarie Jagose in ihrer Darstellung der Queer-Theorie hervorhebt. Je nachdem, wie stark die Hervorbringung, Zuschreibung oder Konstruktion eines Geschlechts gegenüber dem materialen Vorhandensein von Geschlecht von Geburt an radikalisiert wird, schwindet die Chance, männliche Rollen von weiblichen, ja Frauen von Männern zu unterscheiden oder für die Gleichberechtigung Argumente zu finden. Was nicht (mehr) existiert, hat auch Ansprüche und Rechte verspielt – etwa der Körper.

Geschlecht ist, was ich und nur ich dazu mache

Solche Kollateralkosten der Neutralisierung des Körperlichen tauchen bei Beatrix Preciados (seit 2010 Paul B. Preciado) gar nicht erst auf. Ihr/sein „Kontrasexuelles Manifest“ (2000) treibt die Purifizierung so weit, dass sie/er für eine Gesellschaft plädiert, die ohne Geschlechter auskommt und in der jede/jeder alle möglichen Körperöffnungen mit Dildos behandeln kann und so nicht nur maskulinen und femininen Sex abschafft, sondern nebenher auch die Fortpflanzung. Von einer Erlösung des Körpers oder einer Befreiung von heteronormativer Herrschaft kann jedoch keine Rede sein. Denn die Herrschaft der Hetero-Norm wird nur ersetzt durch die Herrschaft der Dildo-Maschine, der soziale Determinismus durch den Determinismus eines universal-egomanen Subjekts, das sein Geschlecht laufend selbst hervorbringt und verändert, nach der „queeren“ Devise, Geschlecht ist, was ich und nur ich dazu mache.

Das ist der Kern dessen, was im vieldeutigen Begriff „Identitätspolitik“ steckt. Die für die taz-Kolumne verantwortliche Ressortleiterin verteidigte ihre Autorin mit dem absurden Satz: „Im Grund ist alles Identitätspolitik“. „Identität“ ist freilich nur ein unfassbarer Kobold, wie Wittgenstein darlegt: „Von zwei Dingen zu sagen, sie seien identisch, ist ein Unsinn, und von einem zu sagen, es sei identisch mit sich selbst, sagt gar nichts“ (Tractatus 5.5303). Die Zurechtlegung von Welt und Existenz als „Identitätspolitik“ läuft auf einen mereologischen Fehlschluss hinaus. Mereologie, von griechisch ‚méros‘, Teil, ist die Logik der Relationen von Ganzem und seinen Teilen. Aus der Tatsache, dass eine Uhr, die richtige Zeit anzeigt folgt nicht, dass eines ihrer Zahnräder die Zeit richtig anzeigt.

Für den journalistischen Hausgebrauch zugerüstete Legosteine

„Identitätspolitik“ behauptet, dass nur meine Erfahrung zählt und obendrein dazu berechtigt, mitzureden, wenn es darum geht, was geschieht, nicht geschieht oder wichtig ist im Privaten wie im Politischen. Derlei reimt sich mit dem auf den Kurzschluss, dass niemand Nichtbetroffenheit reklamieren kann, wenn einer Betroffenheit einklagt. „Von weißen Leuten erwartet man ja nichts anderes als die Produktion von Rassismus“ (Hengameh Yaghoobifarah). In intellektuell etwas weniger verwilderten und verwüsteten Kreisen sprach man im Kontext solcher Thesen einst von Stammtischparolen, die jetzt im aufgehübschten Kostüm von „Identitätspolitik“ rehabilitiert werden.

Die aus den Büchern von Butler, Foucault u.a. entlehnten und für den journalistischen Hausgebrauch zugerüsteten begrifflichen Legosteine dienen freilich mehr zur Konstruktion grobianischer Weltanschauungen und kuscheliger Befindlichkeits- und Betroffenheitsideologien als zu theoretisch-methodisch fundiertem und empirisch überprüfbarem Wissen. In der politischen Praxis wirken diese als agitatorische, propagandistische und hetzerische Verstärker. Dabei geht es um die Steigerung inhaltlicher Beliebigkeit und das Bestreben der Überbietung, die den Motor der Radikalisierung bildet. Im Kampf um Follower in den Seichtgebieten kommt jede rhetorische Aufspreizung und jede verbale Pirouette gerade recht. Inhaltliche Beliebigkeit und verbale Radikalisierung sind die Signatur eines informations- und kenntnisarmen Journalismus, der vor allem Meinungsmache produziert, die sich selbst, aber zuvor die Zeitungen ruiniert, die sich ihr verschreiben.

Der Text erschien zuerst auf dem Schweizer Online-Dienst https://www.infosperber.ch/index.cfm

Rudolf Walther
Rudolf Walther ist Historiker und hat als Redakteur und Autor des Lexikons »Geschichtliche Grundbegriffe« gearbeitet. Seit 1994 ist er als freier Autor und Publizist für deutsche und schweizerische Zeitungen und Zeitschriften tätig. Seine Essays, Porträts und Kommentare liegen in vier Bänden unter dem Titel »Aufgreifen, begreifen, angreifen« vor.

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