Exit, Exitus, Exodus oder was?

Flughafen München 2019 | Foto: Jürgen Schulz

„Wer rausgeht, muss auch wieder reinkommen.“ Herbert Wehners lapidare Bemerkung galt Bundestagsabgeordneten, die aus Protest gegen seine Rede zur inneren Sicherheit 1975 den Plenarsaal verließen. Ungleich schwerer erscheint das Wiederhereinkommen nach dem Lockdown des Frühjahrs 2020. Über eine Rückkehr wird unter dem Namen „Exit“ verhandelt. Politik, Journalismus und wissenschaftliche Sachverständige debattieren über eine sogenannte „Exitstrategie“. Überwiegend geht es dabei um die Rückkehr zu einer individuellen und kollektiven Vorstellung von Normalität. Warum muss dafür das Wort Exit herhalten? Ist doch bei Exit, abgesehen von der synonymen religiösen Bedeutung des Heimgangs, keine Rückkehr vorgesehen. Der lateinische Ursprung des Wortes verweist auf das Ende. Für Medizinerinnen ist der Exitus das Ende ihrer Möglichkeiten. Für die Eröffnung von Möglichkeitsräumen hingegen steht das Wort Exodus.

Von Eddie Mallin – https://secure.flickr.com/photos/dubpics/5619960763/, CC BY 2.0 | wikimedia commons

„Exodus, movement of Jah people.“ Der Titelsong des gleichnamigen Reggae-Albums wurde 1977 nach einer existenzbedrohenden Erfahrung Bob Marleys im Londoner Exil eingespielt. In den Refrains bestimmen „Movement“ (Bewegung) und „move“ (bewegen) den Text. Marley bezieht sich in Exodus auf das gleichnamige Zweite Buch Mose. Exodus (lat. Auszug) ist die Ursprungsgeschichte des alten Testaments. Es geht um die Rettung von Menschen aus Unterdrückung und Sklaverei. Man muss nicht an die Bibel glauben, um die Aktualität dieser grandiosen Geschichte zu erkennen. Exodus ist ein Megathema und Megaproblem. Nach Schätzungen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen sind 80 Millionen Menschen weltweit betroffen. Ihrem Exodus ist meist kein Happy End beschieden. Er führt in Flüchtlingslager oder in den Exitus.


Ausgang aus der Unmündigkeit

Das Buch Exodus handelt von Gottvertrauen und begründet den Monotheismus. Es geht auch um die göttliche Eifersucht gegenüber anderen Meinungen und Wahrheiten. Ein neuzeitlicher Exodus ist der Auszug aus der menschlichen Unmündigkeit. Immanuel Kant beantwortet die Frage der Aufklärung in der Berlinischen Monatsschrift 1784: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Die Gründe für selbstverschuldete geistige Unmündigkeit sieht Kant in fehlendem Mut, Feigheit, Faulheit, Bequemlichkeit und der unvoreingenommenen Hinnahme sozialer Bedingungen, also überall dort, wo Menschen sich zu Gewohnheitstieren erniedrigen.

Nicht Robustheit, nicht Zerbrechlichkeit: Antifragilität

Um sich selbstbestimmt auf die Reise zu begeben, bedarf es einer offenen Einstellung zur Veränderung. Manchmal sind drastische Maßnahmen nötig, um nicht mehr zurückzukehren. Nach einer Legende soll der Berberfürst Tariq ibn Ziyad im Jahre 711 seinen Männern befohlen haben, die Schiffe zu zerstören, mit denen sie aus dem heutigen Marokko auf die iberische Halbinsel übergesetzt waren. Die anschließende Eroberung des Westgotenreiches gelang in nur drei Jahren.

Auch solche Forcierungen des Exodus gelingen nicht ohne intrinsische Motivation. Der Mathematiker und Risikoforscher Nassim Nicholas Taleb hat für den produktiven Umgang mit Grenzerfahrungen den Ausdruck „Antifragilität“ geprägt. Das Fragile droht an einschneidenden Erlebnissen zu zerbrechen. Robustheit steht für die Unbeeinflussbarkeit gegenüber äußeren Einflüssen. Antifragilität für die Fähigkeit, Bedrohungen zu eigener Stärke zu kompensieren. Taleb stammt aus dem krisengeschüttelten Libanon und seine Theorie der Antifragailität trägt ebenfalls biographische Züge.

„Ich muss gar nichts“

Der alteuropäische Imperativ gegen Trägheit „Du mußt Dein Leben ändern!“ nervt uns weiter. „Ich muss gar nichts“, lautet die in einer Berliner Kindertagesstätte geschärfte Erwiderung meiner Tochter. Solche Anweisungen verbieten sich allein aus ethischen Gründen. Veränderungsnotwendigkeit ist nicht der Rede wert, höchstens als Paradoxon erträglich: Wenn Du willst, dass alles so bleibt, musst Du etwas ändern, bzw. lass alles so wie es ist, dann wird sich etwas verändern.

Exit-Strategie ist für die Lage in der Corona-Krise in jedem Fall eine in die Irre führende Wegbeschreibung, ob sie den Glauben an eine einfache Rückkehr zur Normalität ausdrücken soll oder die Hoffnung, der Krise für immer zu entgehen. Die Frage ist nicht, wie man wieder an den Ursprungsort gelangt, sondern wie durch Reform und Wandel Beweglichkeit und Veränderung möglich werden. Es geht nicht um Konservieren, sondern um Evolvieren. Die Frage für Veränderung ist nicht, woher ich komme, sondern wohin die Reise geht bzw. gehen könnte.


Postskriptum. Das Buch Exodus lässt sich auch als moderne Wandlungsbewegung interpretieren. Es erzählt die beeindruckende und folgenreiche Geschichte des Aufbruchs als kollektiven Auszugs des hebräischen Volkes aus Ägypten. Der Bruch mit der Herkunft und dem Ursprung ist, wie Delphine Horvilleur betont, ein prototypisches Thema hebräischer Identität. „Der Hebräer ist nicht derjenige, der einem Ort entstammt, sondern derjenige, der seinen Geburtsort hinter sich lässt […] und unternimmt alles in seiner Macht Stehende, um nie wieder zurückzukehren“. Nicht nur um diese Nicht-Identität ist das Judentum zu beneiden.


Literaturhinweise.
Horvilleur, Delphine (2020). Überlegungen zur Frage des Antisemitismus. Berlin: Hanser


Jürgen Schulz
Prof. Dr. Jürgen Schulz lehrt und forscht im Studiengang Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste Berlin (UdK). Er arbeitet auch in der Redaktion von „Ästhetik & Kommunikation“.

3 Kommentare

  1. “Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird; aber soviel kann ich sagen, es muß anders werden, wenn es gut werden soll.” Stell dir vor Jürgen, wir hätten ein Abendessen mit Kant und Lichtenberg!

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