An meine Generation: Was machen wir aus unserem historischen Lottogewinn?

Turnschuhe von Joschka Fischer, in denen er 1985 den Amtseid als erster Grüner Minister in Deutschland leistete. Aufgenommen im Ledermuseum Offenbach | https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:CC-BY-SA-4.0

Noch nie sind so viele Menschen in Ruhestand gegangen, die hochqualifiziert sind, und eine immense fachliche und gesellschaftliche Erfahrung haben. Im Gegensatz zu früheren Generationen genießt eine große Zahl von ihnen eine gute Gesundheit und ist dazu noch materiell komfortabel versorgt. Nach vielen Jahren des beruflichen Eingespannt-Seins bietet sich vielen von uns wieder ein großes Maß an Freiheit. Alles in allem ein riesiges Potential, das mitgestalten und beeinflussen könnte. Engagement im Konjunktiv – in einer Situation überbordender Probleme, extremen Leidensdrucks für Milliarden weltweit und hochbrisanter Zukunftsgefahren auch bei uns. Alles noch zusätzlich gesteigert durch die Covid19-Pandemie und ihre massiven sozio-ökonomische Auswirkungen.

Viele von uns reagieren mit fassungslosem Abwarten, Wegducken, Schweigen, Geschehenlassen. Die Versuchung kommt auf, uns zufrieden zu geben mit dem historischen Lotto-Gewinn unserer Generation. Nämlich erst nach dem Nazikrieg und in den wachsenden Wohlstand hineingeboren zu sein, und nun mit der begründeten Aussicht, nicht mehr das Überkochen des politisch-ökologisch-sozialen Welthexenkessels am eigenen Leib erleben zu müssen.

Menschlich ist diese Reaktion verständlich. Aber sie ist unverantwortlich angesichts unserer Kinder und verwerflich angesichts der Maßstäbe, die wir in den 70er Jahren an das politische Handeln unserer Elterngeneration angelegt haben. So unsere vorwurfsvolle Frage an Eltern und Großeltern: Was habt ihr gegen Hitlers Aufstieg und später gegen seine Verbrechen unternommen?

Unsere Vergangenheit, unser Wissen und unsere Möglichkeiten verpflichten uns

Studierende und ihre Kinder demonstrieren am 13. Dezember 1968 an der Kieler Universität für den Bau einer Kinderkrippe. Stadtarchiv Kiel, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=69375691

Indem wir damals – in den 70ern und 80ern – hohe Maßstäbe an vorangehende Generationen gelegt, zu Recht kritisiert und demonstriert haben, haben wir auch Verpflichtungen übernommen. Zudem sind auch wir mit einem Teil der Krisenursachen verwoben: eine Multi-Kulti-Illusion, Überziehen beim Infrage-Stellen von Sekundärtugenden, ein Übermaß des an sich richtigen Selbstverwirklichungsziels, das aber auch Tendenzen zum hemmungslosen, auch antiökologischen Egoismus mitbefördert haben mag.

Trotzdem stecken aber im Denken und in den Erfahrungen der 70er Jahre wichtige Lehren, um die nahe Zukunft zu gestalten:

  • Sich am „Sein-statt-Haben“ und nicht am puren Materialismus zu orientieren,
  • den Anspruch auf Authentizität in den Mittelpunkt stellen und nicht die (mediale) Inszenierung,
  • die Frage nach dem Sinn zustellen und nicht angebliche Sachzwänge zu übernehmen,
  • Autoritäten zu hinterfragen und mehr Demokratie zu wollen,
  • die Natur wiederherzustellen und tradierte Geschlechterrollen zu überwinden.

Die Zeiten fordern uns: Wer von uns sich treu bleiben will, der muss offensiv was tun, nicht GEGEN die Jüngeren, sondern als Bringschuld FÜR sie; zumal viele von ihnen von Pflichten und Anforderungen in Familie wie Beruf und geschwundenen Sicherheiten gefesselt sind.

Dabei geht es gerade nicht darum, in alte Sektengewohnheiten zurückzufallen, uns griesgrämig zu verschleißen und auf den nichtpolitischen Lebensgenuss zu verzichten. Sondern ganz im Gegenteil: Durch die Leistung eines „allgemeinpolitischen Zehnten“ wirkungsvoll zu intervenieren. Denn die Alternative: „Untätig zu bleiben, aber das mit schlechtem Gewissen“, dient niemandem. Und wenn es gelingt das BEGRENZTE Engagement in Formen von sympathischen Gruppen wie Freundeskreisen auszuüben, dann gewinnen wir noch doppelt: Durch das Gefühl, durch Mithandeln uns treu zu bleiben und dazu noch durch neuen sozialen Zusammenhalt.

Unser Beitrag

Ist ein Beitrag unserer Generation überhaupt notwendig? Es gibt doch viele junge PolitikerInnen und Aktive, die inhaltlich überzeugen und überzeugend auftreten. Das stimmt. Es stimmt aber auch: Wichtige Erkenntnisse, die wir wiederum machten, werden anhaltend ignoriert. Hier meine drei wichtigsten Beispiele:

O Weniger ist Mehr:

Dieser Leitsatz der postmaterialistischen Bewegung in den 70er und 80er Jahren gilt auch heute noch, um viele ökologisch-sozialen Probleme zu lösen; gerade angesichts des Zwangs zum Wirtschaftswachstums. Eine Erkenntnis unserer Generation: Besteht eine komfortable ökonomische Grundversorgung, dann führt ab einem bestimmten Punkt ein Mehr an Produktion zu einem Weniger an Lebensqualität. Die Mehrproduktion wird ökologisch, sozial und individualpsychologisch kontraproduktiv, dient sie doch nicht mehr der Versorgung mit Notwendigem, sondern einem sinnlosen Wegwerf- und Verschwendungskonsum. Wir, die wir schon in den 70er Jahren mit der Hälfte des heutigen Bruttoinlandsproduktes pro Kopf gut gelebt haben und viel gereist sind, sind dafür Kronzeugen.

O Mit neuen Techniken kritisch umgehen:

Anfang der 70er Jahre schien es, als könnten die Probleme der Welt mit einem Überfluss an vermeintlich sauberer Atom-Energie und hochproduktiven Robotern gelöst werden. Die Risiken wurden verdrängt und diejenigen, die sie thematisierten, als ewiggestrige Technikfeinde diffamiert. Und heute? Heute spielen Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und Robotisierung eine vergleichbare Rolle, sind quasi zu einer Ersatzreligion geworden. Wo immer sich ein Problem auftut — ob in Schulen, Medizin, Landwirtschaft oder im Verkehrswesen — reflexartig wird Digitalisierung als Allheilmittel propagiert; zwar werden die Risiken der Überwachung behandelt, jedoch nicht die des Elektroschrotts und des enorm hohen Energiebedarfs.

Einer der Gründe, warum auch heute nur die sogenannten Chancen in den Mittelpunkt gerückt werden: Mit digitalen Scheinlösungen soll das Weniger um fast jeden Preis vermieden werden. Beispiel E-Autos: Aus den beinahe 50 Millionen Autos in Deutschland sollen im Rahmen einer Verkehrswende nicht etwa 25 oder gar nur 15 Millionen werden. Nein, aus 50 Millionen Verbrenner-Autos sollen 50 Millionen E-Autos werden. Ein enormes Wachstumsprogramm wird zur ökologischen Großtat umdeklariert; weshalb auch die ökologischen Risiken von Herstellung, Nutzung und Entsorgung der Millionen Batterien verdrängt werden. Abwägend und differenzierend ist auch unsere Haltung zur Digitalisierung: Wir sind nicht gegen Digitalisierung als bereicherndes und entlastendes Hilfsmittel, sondern gegen ihre ideologische Überhöhung „als Wert an sich“!

O Richtiges kann durch radikales Überziehen zum Falschen werden!

Vor dieser gerade zur Zeit wieder spürbaren Gefahr kann unsere Generation mit einer Reihe selbstkritischer Beispiele warnen. So die Pervertierung der an sich richtigen Vietnam-Kriegs-Kritik zur enthemmten Selbstanmaßung der RAF mit ihrem Terror. Oder die im Kern richtige Kapitalismus-Kritik, deren totalitäre Enthemmung aber in maoistischen Gruppen zur Entschuldigung bis hin zur Propagierung von Massenterror wie in der Kulturrevolution oder des Völkermords in Kambodscha führte. Bei den Grünen der 80er Jahre machte die Idealisierung von „Diversity“ aller gesellschaftlichen Minderheiten „als Wert an sich“ blind zum Beispiel für hochproblematische Minderheiten, die die „Pädophilie“ verharmlosen bis entkriminalisieren wollten. Typisch ist dabei die – schon aus der Französischen Revolution bekannte – selbstverstärkende Tendenz der Radikalisierung, bei der Dialog, Argument und Bedenken diffamiert und platte Zuspitzung als besonders moralisch stilisiert werden. In diesem Zusammenhang werden wir gebraucht, damit alte Fehler verhindert und faire, argumentative Debatten ermöglicht werden.

Nicht neue utopische Heilsversprechen braucht unsere Gesellschaft, sondern Entschleunigung, Auffangstrukturen und mehr finanziellen Handlungsspielraum für unser Gemeinwesen

Streik an den Berliner Universitäten 1976/77. Polizeieinsatz am Fachbereich Medizin der FU Berlin
Foto: W. Hermann (Fotostab am IfP – Institut für Publizistik FU Berlin) – http://www.weltgegend.de/ends/uni.html, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=31843594

Wie auch immer eine bessere Gesellschaft aussehen mag, eines ist klar: Jede Art von Besserung braucht als Voraussetzung eine Entschleunigung der Prozesse. Wie auch immer eine bessere Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung aussehen mag, noch eines ist klar: Viel mehr Geld und Ressourcen für die Gemeinwesen und das Öffentliche. Nur dann kann auch das Demokratische funktionieren. Wie sollen Menschen als BürgerInnen mitentscheiden, wenn in den Unternehmen mit Robotern, Künstlicher Intelligenz und Digitalisierung ohne viele Worte seit Jahren bereits Fakten geschaffen werden. Nur ein Moratorium zu diesem Punkt und anderen (Freihandelsabkommen, Liberalisierung der Wirtschaft) lässt den Menschen ihren Charakter als demokratische Subjekte. Motto: Erst denken, öffentlich und gemeinsam abwägen, dann erst (eventuell unumkehrbare) Beschlüsse fassen.

Was wir zügig brauchen, das fordert die Pandemie: öffentliche Reserven und Auffangnetze für eine Ökonomie der Grundversorgung. Es ist ein Hochrisiko-Spiel, sich beispielsweise bei der Versorgung mit Lebensmitteln, wichtigen Medikamenten, öffentlichen Dienstleistungen und bei der Gewährleistung digitaler Sicherheiten von Produzenten und Lieferanten außerhalb des Landes oder gar der EU abhängig zu machen. Es bedarf also zuallererst eines ZUSÄTZLICHEN staatlichen Notfall-Netzes.

Macht durch Beschränkung aufs Wesentliche

Wie sollen GERADE WIR das Ruder herumreißen können, lautet die berechtigte Frage. Und die Antwort: Gerade dadurch, dass wir auf das schauen, was letztendlich zählt. Und auch auf das, was nicht!

Wenig bewirkt das Sektenwesen – so richtig auch einzelne Impulse sein mögen. Wenig bewirkt auch das, wohin politischen Parteien 90 % ihrer Energie verschwenden: Ins schwarze Loch der inneren Machtkämpfe, die zumeist nicht einmal tatsächlich aus inhaltlichem Streit bestehen, sondern aus dem Ringen um die Macht an sich.

Was historisch tatsächlich etwas bewegt, sind gesellschaftliche Grundstimmungen. Leider haben das um das Jahr 2000 vor allem neoliberale Lobby-Netzwerke verstanden und entsprechend zielgerichtet und radikal den gesellschaftlichen Mainstream beeinflusst. So durch eine hoch wirksame Stimmungsmache für die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, dramatische Steuersenkungen für Wohlhabende, die „Agenda 2010“ und überhaupt für die Verbreitung einer Käuflichkeits-Ideologie.

Positives Gegenbeispiel war um 2003 das damals hoch wirksame Bündnis „Attac“. Unter dem Motto „Die Welt ist keine Ware“ ist so eine Gegenbewegung entstanden. Eine, die aus den damals neoliberal infizierten Grünen und der SPD heraus so nicht entstanden wäre.
Bei der Beeinflussung der gesellschaftlichen Grundströmungen, bei dem, was als „Zeitgeist“ bezeichnet wird, da können Netzwerke von gemeinsam agierenden Menschen eine richtungs- entscheidende Rolle spielen, selbst wenn sie zahlenmäßig eine kleine Minderheit sind.

Gelegentliches Intervenieren, aber dann entschlossen

Das politisch-psychologische Muster hinter diesem Vorgehen beruht, vereinfacht dargestellt, auf dem Verhältnis von Multiplikatoren und Zuschauern. Die meisten Menschen sind eher unpolitisch und versuchen — wenn es für sie halbwegs plausibel erscheint —, sich an das anzupassen, was als Mehrheitsmeinung gilt; in den Medien, im eigenen sozialen Umfeld. Sie richten sich an Multiplikatoren aus, also an Menschen mit einer gewissen politisch-sozialen Reputation und überzeugendem Auftreten, diese dienen ihnen zur Orientierung. Besonders wenn diese Multiplikatoren sich gemeinsam als aktiv zeigen, ihre (plausiblen) Aussagen und ihr Auftreten bündeln. „Demonstrieren“ heißt „Zeigen“. Insbesondere in Situationen, in denen eine Gesellschaft vor bedeutenden Entscheidungen steht, ist diese Präsenz wichtig. Egal wie und wo, es muss nicht unbedingt die klassische „Demo“ sein.

Ein entschlossenes Promille aller Erwachsenen, wird es von nennenswerten Teilen der Gesellschaft als aktive selbstbewusste Masse wahrgenommen, kann viel bewirken. Konkret: 20.000 Menschen können, wenn sie für große Teile der Gesellschaft integer-ehrlich, verständlich und einig auftreten, in einem Land das medial-atmosphärische Pendel herumreißen.

Hendrik Auhagen
Hendrik Auhagen war in den 1980er Jahren für die Partei Bündnis 90/Die Grünen (Grüne) im Deutschen Bundestag. Er hat in den Nuller-Jahren erfolgreich gegen die damals geplante Privatisierung der Deutschen Bahn gekämpft und engagiert sich zur Zeit im VerkehrsClub Deutschland gegen die geplante Abhängung des Südens von Baden-Württemberg vom Stuttgarter Hauptbahnhof. In den Jahren 1999 und 2000 unterrichtete er Deutsch an einem Kolleg in Legnica (Polen), von 2001 bis 2004 Deutsch und Gemeinschaftskunde in Bad Säckingen am Scheffel-Gymnasium, später am Friedrich-Wöhler-Gymnasium in Singen.

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