„Das Wunder hat, fast über Nacht, soziale Marktwirtschaft vollbracht“

CDU-Bundesgeschäftsstelle Lizenz: KAS/ACDP 10-025:389 CC-BY-SA 3.0 DE/ wikimedia commons

Gerade erteilte die EU-Kommission dem Corona-Impfstoff des Mainzer Unternehmens Biontech und seines US-Partners Pfizer die „bedingte Marktzulassung“. Bereits Anfang Dezember klotzte die formell unabhängige Propagandazentrale „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ mit ganzseitigen Inseraten in den großen deutschen Tageszeitungen mit dem rustikal-grobianischen Slogan „Impfstoff. Made in sozialer Marktwirtschaft – also mit „Freiheit und Wettbewerb… Sie sorgen dafür, dass Forscher und Unternehmen innovative Produkte entwickeln“. Fehlt da nicht eine Kleinigkeit?

Bei Licht besehen sind „Freiheit“ und „Wettbewerb“ bestenfalls noch marktgängige Codewörter für „Geld“ bzw.  „mehr Geld“. Noch ist nicht bekannt, mit wie viel Markt und mit wie vielen Milliarden an staatlicher Hilfe, also Steuergeldern und Krediten, die Impfstoff-Entwicklung subventioniert und damit erst ermöglicht wurde. Wer fragt, wie die vom Impfstoff profitierenden Firmen und Investoren in Zukunft zur Beteiligung an den Millionen an Zinszahlungen für die staatlichen Kreditaufnahmen herangezogen werden? Die „Soziale Marktwirtschaft“ hat keine Steuernummer und auch keine Mail- und keine  Post-Adresse.

Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) wurde im Jahr 2000 vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall, den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektro-Industrie, gegründet und „mit einem klaren Auftrag versehen. Der Auftrag besteht darin, wirtschaftliberale Themen auf die Agenda zu setzen und für einen wirtschaftsfreundlichen Klimawechsel in der Gesellschaft zu sorgen. Allerdings ‚führt‘ Gesamtmetall die INSM an einer ‚langen Leine'“ (Rudolf Speth).

Der deutsche Wirtschaftsjournalist Nikolaus Piper verstieg sich sogar zur These: „Die Marktwirtschaft rettet uns. Die Erfahrung liefert keine Argumente gegen den Kapitalismus, aber sehr viele dafür“. Die Erfahrung mit Corona lehrt nur Dreierlei: Erstens rettet uns der Staat und vor allem der Sachverstand der Forscher. Zweitens hilft der Staat bei der Privatisierung der Gewinne mit milliardenschweren Abnahmegarantien und drittens bei der Kostenersparnis der Firmen mit staatlichen Subventionen und Krediten, für deren Bedienung die Steuerzahler vom ersten Tag an aufkommen.

Fundamentale Paradoxie

Mit dem faktischen, wenn auch nicht formellen Einbau der „Sozialen Marktwirtschaft“ in die Wirtschafts- und Sozialordnung durch viele Gesetze ohne Verfassungsrang (Betriebsverfassungs-, Mitbestimmungsgesetz, Sozialgesetzbuch usw.) sollte in der Bundesrepublik die fundamentale Paradoxie jeder liberalen Verfassung beseitig werden: die Paradoxie nämlich, dass die politische Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger als Grundlage die unvermeidlichen sozialen und wirtschaftliche Ungleichheiten hat, die die kapitalistische  Wirtschafts- und Produktionsweise hervorbringt.

Die dafür gleichsam als ein Akt der Versöhnung in Stellung gebrachte „Soziale Marktwirtschaft“ war von Anfang an  d i e  Lebenslüge des liberaldemokratischen Neubeginns von 1949, denn die Paradoxie blieb erhalten und die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit wurde nicht beseitigt, sondern bestenfalls abgefedert und rechtlich legitimiert – während sie sich zur sozialen Spaltung auswuchs.

Foto: Konrad Adenauer Stiftung/ wikimedia commons

Die „Soziale Marktwirtschaft“ entstand im politischen Handgemenge und kann als für relativ lange Zeit einigermaßen tragfähige Verlegenheitslösung bezeichnet werden. An den Wirtschaftsliberalismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts konnte nach 1945 nicht bruchlos angeknüpft werden. Das alte konzeptionelle Fundament von Interessenharmonie, Freihandel und „laissez faire“-Ideologie war endgültig verschlissen. Die pure Not zwang zu Anpassungen, weil der Krieg zwar als Gleichmacher wirkte, aber die Reichen blieben, als das Reich zerfiel.

Der Ökonom Wilhelm Röpke unterschied zwischen dem „unvergänglichen Liberalismus“ der als „geistig-politischer“ nicht weniger als „das Wesen abendländischer Kultur schlechthin ausmacht“. Für den Alltag stand der „wirtschaftliche Liberalismus“, den Röpke nur negativ fasste als Absage an „Kommando-“ und „Zentralverwaltungswirtschaft“.

Dass zwischen „individueller Unternehmung“ und dem „Interesse der Allgemeinheit“ (Otto von Mehring) eine theoretisch wie praktisch-politisch tragfähige Brücke geschlagen werden musste, war der einzige Punkt, in dem sich nach 1945 die Wirtschaftswissenschaftler von Friedrich A. Hayek bis Franz Böhm und von Alfred Müller-Armack bis Walter Eucken einig waren. Wie jedoch diese Synthese zwischen staatlich gelenkter und freier Wirtschaft zu konzipieren sei, blieb strittig bzw. offen.

Theodor-Heuss-Haus Stuttgart/ wikimedia commons

Die meisten sprachen jetzt einfach von „Verkehrswirtschaft“ oder von „Marktwirtschaft“. Walter Eucken entwickelte den für die Synthese zentralen Begriff des „Ordo“, worunter er nicht nur eine „konkrete, positive, gegebene Tatsache“ verstand, sondern „eine Ordnung, die dem Wesen des Menschen und der Seele entspricht,… in der Maß und Gleichgewicht“ herrschen und die sich als „sinnvolle Zusammenführung des Mannigfaltigen zu einem Ganzen“ begreifen ließ. Der Begriff „Ordo“ verbreitete sich schnell, aber über die Institutionen, Maßnahmen und Kompetenzverteilungen im herzustellenden „Ganzen“ gingen die Ansichten unter Ökonomen stark auseinander.

Die Staatsidee von 1933 und die soziale Marktwirtschaft

In dieser Situation brachte Alfred Müller-Armack (1901-1978),  in einer „Stellungnahme der Industrie- und Handelskammer von Nordrhein-Westfalen zur Prüfung und Kontrolle der Produktionsbetriebe und konstruktiver Vorschlag einer neuen Marktgestaltung“ im April 1947 den Begriff „soziale Marktwirtschaft“ ins Gespräch. Müller-Armack war gleich 1933 NSDAP-Mitglied geworden und erklärte im gleichen Jahr in seinem Buch „Staatsidee und Wirtschaftsordnung im neuen Reich“, was ihm das neue Regime bedeutete. Nach 1945 trat er der CDU bei. Für den über Nacht zum CDU-Mitglied mutierten Autor verpuppte sich die alte „Staatsidee“ zur „sozialen Marktwirtschaft“, die er angesichts der prekären Versorgungslage im besetzten Deutschland als „Übergangsregelung zur freien Marktwirtschaft“ (31.7.1947) deklarierte.
Noch zwei Monate zuvor verwendete er den Begriff nicht explizit: „Wir bedürfen einer neuartigen Synthese von Sicherheit und Freiheit, die uns … befähigt, mehr Sozialismus mit mehr Freiheit zu verbinden. Dies dürfte jedoch nur auf dem Boden einer sozial gesteuerten Marktwirtschaft möglich sein.“
An eine theoretische Vertiefung des Konzepts dachte damals niemand. Noch 1959 beklagte sich Müller-Armack über die mangelnde „Beschäftigung mit den der sozialen Marktwirtschaft zugrunde liegenden theoretischen Gedankengängen“. Dabei ist es geblieben.

Seinen Durchbruch verdankt der Begriff keiner theoretischen Fundierung und keiner bewährten Praxis, sondern einzig dem Erfolg als Slogan im ersten Bundestagswahlkampf 1949. In diesen zog die CDU mit den „Düsseldorfer Leitsätzen“ vom 15. Juli 1949, in denen die „soziale Marktwirtschaft“ als Mitte zwischen „Planwirtschaft“ und „freier Wirtschaft“ definiert wird. Die Partei distanzierte sich darin ausdrücklich von der „sogenannten ‘freien Wirtschaft‘ liberalistischer Prägung“ und forderte staatlichen Schutz der „wirtschaftlich und sozial Schwachen“ durch ein „System von Ordnungsmitteln“. Dieses System sollte „an die Stelle eines behördlichen oder privaten monopolistischen Ermessens, das von niemandem wirksam kontrolliert werden kann“, treten.

„Die Planwirtschaft bekommt uns sauer, wir alle wählen Adenauer“

Zweite Bundestagswahl 1953 | Lizenz: KAS/ACDP 10-001: 402 CC-BY-SA 3.0 DE wikimedia commons.
Der schwer lesbare Text in der linken Spalte lautet:
Die Pläne und die Formulare, die sind der Wirtschaft Totenbahre.
Der Käufer in der Tinte sitzt, wenn zu viel Tinte wird verspritzt.
 Man plant und plant und lenkt und lenkt, und der Verbrauch wird eingeschränkt;
trotz aller Planung, aller Mühen, hat niemand was Rechtes anzuziehen.
 Vom Eier-Plan das Monats-Ei, die Käufer steh’n in langer Reih’:
Knapp ist das Fleich, die Milch, die Butter, es hungern Kinder, Vater, Mutter.

Für das Bekenntnis zur „sozialen Marktwirtschaft“ blieb dabei weiterhin ein enorm breites Spektrum zwischen „Freiheit“ und „Sozialismus“ übrig. Volkmar Muthesius, einer der rührigsten Propagandisten der neuen Lehre, erklärte deren Kern bündig mit dem Satz: „Die Gesellschaft beruht auf der Tatsache, dass jeder verdient, was er verdient. Das ist Gerechtigkeit.“ Einigen Ökonomen war der Begriff „soziale Marktwirtschaft“ zu vage. Sie schlugen vor, von „Neoliberalismus“ zu sprechen. Davon distanzierte sich Leonhard Mikisch energisch, während Alexander Rüstow „Neoliberalismus“ mit „sozialer Marktwirtschaft“ 1952 gleichsetzte. Müller-Armack wiederum protestierte entschieden: „Während sich die neoliberale Theorie vor allem auf die Technik der Wettbewerbspolitik stützt, ist das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft ein umfassender Stilgedanke, der nicht nur im Bereiche des Wettbewerbs, sondern im gesamten Raum des gesellschaftlichen Lebens… Anwendung findet“ (1959).

Dieser „Stilgedanke“ blieb bis heute so vage wie das ganze der „sozialen Marktwirtschaft zugrunde liegende Konzept. Als Angela Merkel 2002  die Parole „neue soziale Marktwirtschaft“ ausgeben wollte, widersprach ihr Friedrich Merz heftig: Die Erweiterung „verwässert das Markenzeichen“ der CDU.

Rudolf Walther
Rudolf Walther ist Historiker und hat als Redakteur und Autor des Lexikons »Geschichtliche Grundbegriffe« gearbeitet. Seit 1994 ist er als freier Autor und Publizist für deutsche und schweizerische Zeitungen und Zeitschriften tätig. Seine Essays, Porträts und Kommentare liegen in vier Bänden unter dem Titel »Aufgreifen, begreifen, angreifen« vor.

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