Ein Beweggrund für das deutsche, nun verabschiedete Lieferkettengesetz liegt in Bangladesch. In der dortigen Textilindustrie stürzten Fabriken ein und begruben die Arbeiterinnen unter sich. Dort brannten Fabriken ab, und die Näherinnen fanden alle Fluchtwege verschlossen. Im letzten Jahrzehnt starben etwa 1.300 Menschen in der pakistanischen Textilindustrie. Wer kommandiert diese Industrie; ist es korrekt, sie als pakistanisch zu bezeichnen?
Als die Gewerkschaft Textil und Bekleidung in der IG Metall aufging, mussten die hier Beschäftigten den Sinn eines neuen Worts begreifen: Logistikkonzern. Das ist ein Konzern, der nur aus Einkauf, Vertrieb, Design und Marketing besteht. Eigene Fabriken betreibt der Konzern keine. Er lässt bei contract manufacturer für sich arbeiten. Dessen Fabriken stehen zum Beispiel in Pakistan. Der dortige Unternehmer zahlt seinen Beschäftigten knapp 100 Dollar im Monat. Die deutsche Textilindustrie hat sich seit Jahrzehnten eine solche schlanke Struktur verordnet. Im westfälischen Bielefeld arbeiten vielleicht 500 Leute für einen Konzern; in Karatschi vernähen zehn Mal so viele das feine Garn. Das Lieferkettengesetz erfasst solche Logistikkonzerne nicht. Es gilt erst ab 3.000 Beschäftigten – im Inland.
Nun ist die Textilindustrie im Vergleich mit dem deutschen Maschinenbau ein Zwerg. Aber der Maschinenbau ist vor dem neuen Gesetz auch ein Zwerg; denn seine Gerippe sind Klein- und Mittelbetriebe, keine Großunternehmen. Das Zwergenhafte relativiert sich sofort, nimmt man die Zulieferer dazu. Dann mutieren die Mittelständler ebenfalls zu Riesen. Beim deutschen Maschinenbau geht es umgekehrt zu wie beim Scheinriesen der Augsburger Puppenkiste. Je näher man den Firmen kommt, desto größer werden sie. Es sind Scheinzwerge, die als Mittelstand firmieren, und für den gilt, hebt der Bundeswirtschaftsminister zufrieden hervor, das neue Gesetz nicht. Der Maschinenbau ringt mit der Autoindustrie um die Krone, die größte deutsche Branche zu sein. Auch wenn in 2024 das Gesetz für Betriebe mit 1000 Leuten gilt, wird der Maschinenbau von ihm nicht erfasst werden.
Das Lieferkettengesetz schreibt sehr Sinnvolles vor: Unternehmen müssen das Risiko der Verletzung von Menschenrechten in ihrer Lieferkette analysieren; sie müssen Prävention betreiben und haben für Abhilfe zu sorgen; ihnen ist eine innerbetriebliche Beschwerdeinstanz abverlangt. An diese kann sich wenden, wer sich gesundheitlichen Risiken ausgesetzt sieht. Solche Regularien haben sich die Großen aller Branchen, ob sie C&A oder BMW heißen, aber bereits selbst verordnet. Das Regelwerk nennt sich Corporate Social Responsibilty. CSR ist notwendig geworden, als die Tragödien in der Textilindustrie die Konsumenten verschreckten. Ein T-Shirt aus einer Fabrik, in der Menschen verbrannt sind, verkauft sich schlecht. Nun hat Responsibilty also Gesetzesstatus erlangt. Aus einer freiwilligen Selbstverpflichtung ist eine gesetzliche Verpflichtung geworden. Die aber den vermeintlich Kleinen gar nicht abverlangt wird.
Ein blässliches Wort umschreibt eine verwaschene Sache
Das erste Glied der Lieferkette zu überprüfen, schreibt das Gesetz vor. Ein Autobauer in Untertürkheim muss also sicherstellen, dass der von Thyssen Krupp aus Duisburg-Bruckhausen bezogene Leichtstahl nicht von Kindern gewalzt wird. Anlassbezogen soll er auch die Zulieferer der folgenden Glieder durchleuchten. Das blässliche Wort umschreibt eine verwaschene Sache. Damit die Daimler AG sich mit den Praktiken eines Subunternehmers beschäftigen muss, müssen Klagen an ihr Ohr gekommen sein. Solche Klagen kann eine NGO oder eine Gewerkschaft oder der Sozialattaché der Botschaft vortragen; ihnen steht nun ein Klagerecht zu. Human Rights Watch beschäftigt weltweit 460 Leute; sämtliche deutschen Gewerkschaften haben zu tun, die hiesigen Werke ordentlich zu betreuen; bleibt nur der Sozialattaché, der es in China oder in Indien oder in Indonesien richten soll. Erfährt er vom Leid des indischen Lackierers, der seine Gesundheit mit den Aerosolen einer Sprühpistole ruiniert, weil sein Boss die Anschaffung einer Lackieranlage für überflüssig hält?
Ein weiterer Webfehler des erst in zwei Jahren in Kraft tretenden Gesetzes: Die fehlende Haftung bei Verstößen. Stattdessen gibt es ein Bußgeld, das bis zu zehn Prozent des Umsatzes ausmachen und zum Ausschluss von öffentlichen Aufträgen führen kann. Er habe das Gesetz mit Biss versehen, sagt Hubertus Heil, der Bundesarbeitsminister. Es ist vermutlich eher ein Zahnersatz. Eine Behörde, angesiedelt beim Wirtschaftsministerium, wird die Einhaltung des Gesetzes überwachen. Sie hat zu überprüfen, was die Unternehmen in ihre Berichte schreiben. Sie soll einmal 65 Leute umfassen; das ist nicht gerade gigantisch.
Die Unternehmensverbände wollten keine zivilrechtliche Haftung; auch diesen Punkt, den für sie wichtigsten, haben sie gemacht. Käme die Haftung, erklärten sie den Politikern, könnten sie sich aus der globalisierten Welt zurückziehen. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hat den Ministerialräten die Weltwirtschaft erklärt. (Ein bisschen war‘s wohl, wie wenn ein Freier einem Frommen die Usancen in einem Bordell erklärt). Drohe deutschen Unternehmen eine Klagewelle, müssten sie sich aus den Märkten zurückziehen und die chinesischen würden sich ins Fäustchen lachen. Das hat die Ministerialen überzeugt.
Mit der Bußgeld-Lösung hat sich das Bundeswirtschaftsministerium nun in die Zwangslage gebracht, die es den Unternehmen ersparen wollte. Denn es wird im Falle VW und China entscheiden müssen, ob Zwangsarbeiter beschäftigt sind, oder ob der regierungsamtlichen Propaganda zu glauben ist. Gibt es das Zwangssystem und sind die Uiguren in dieses System hineingepresst, ist ein Fünftel des in China verdienten VW-Geldes weg. So will es dann das Gesetz. Der Inbegriff der deutschen Industrie gerät ins Trudeln, weil ein Wirtschaftsminister ihn dermaßen zur Kasse bittet? Einer ethnischen Minderheit wegen, die in der fernen Mongolei unterdrückt wird? Gerne würde man glauben, dass sich die Waagschale dort neigt, wo das Menschenrecht liegt. Jedoch kommt auf der anderen Schale das ökonomische Interesse zu liegen, daher hat man großen Zweifel.
Ein Konzern wie VW ist Teil der chinesischen Innenpolitik. Die Zentralregierung schreibt vor, wo das Unternehmen investieren darf. Die mongolische Fabrik gilt als ineffizient, aber sie darf nicht geschlossen werden, weil die Zentralmacht Fabriken im Uiguren-Gebiet angesiedelt sehen will. Sie sollen für ein wenig Wohlstand und sie sollen für viel Fabrikdisziplin sorgen. Die Aussicht auf ein eigenes Auto soll darüber hinwegtrösten, dass keine Aussicht auf ein Leben ohne Diktatur besteht. Erst Umerziehungslager mit Zwangssterilisation, dann Fabrikarbeit. Es waren zunächst britische und US-amerikanische Berichte, die verstörten, dann zogen die deutschen Medien langsam nach.
Westliche Rechtsgüter drohen plattgewalzt zu werden
Die Debatte um die Lieferketten hat ein Problem deutlich gemacht, das durch das deutsche Gesetz nicht zu lösen ist. Das Gesetz schreibt die sogenannten Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) fest. Für die Bundesrepublik gelten alle Normen, aber die Volksrepublik hat wesentliche gar nicht anerkannt. Auf die Vereinigungsfreiheit und das Recht, kollektiv den Lohn auszuhandeln, lassen sich die chinesischen Machthaber nicht vereidigen. Niemand ist so naiv zu glauben, ihnen könne ein deutsches Gesetz das Koalitionsrecht abringen; keine Kritik des Lieferkettengesetzes unterstellt seinen Machern solche Naivität. Aber wenn das Gesetz mehr sein will als Symbolik, muss es Hebel aufweisen, die die Vereinigungsfreiheit auf den Weg bringen.
China ist auf dem Sprung, die Schwellenländer zu dominieren. Im Unterschied zu Maos Großem Sprung könnte es diesmal etwas werden. Das Projekt Neue Seidenstraße dockt längst auch in Ländern der Europäischen Union an. Die chinesische Ökonomie kommt als Dampfwalze daher, und in ihrem Gefolge drohen westliche Rechtsgüter plattgewalzt zu werden. Die Wirtschaftsverbände schreien auf, weil es kein level playing field gibt. In China werden ihre Patentrechte verletzt, können sie im Bankenwesen nicht Fuß fassen, und ganze Firmen aufkaufen, wie es die chinesischen Einkäufer in Europa tun, können sie auch nicht. Das sind die Rechtsgüter, die die Unternehmen durchgesetzt sehen wollen.
Die Menschenrechtsgruppen und die Gewerkschaften verstehen unter den Rechtsgütern noch etwas anderes. Aber sie sind mit dem neuen Gesetz ihrer Sache nicht wesentlich nähergekommen. Das Lieferkettengesetz soll die Debatte um die Bürgerrechte befrieden, ohne die Außenhandelsbilanz und das viele im Ausland investierte Kapital zu beschädigen. Am Beispiel China wird das Dilemma sichtbar. Es ist das Dilemma der Menschenrechtler und der Gewerkschafter; für die Unternehmer und ihre Fürsprecher ist die Sache jetzt weitgehend rund.
Wer die Vereinigungsfreiheit für ein Bürgerrecht ansieht, wem freie Gewerkschaften nötig scheinen, um der Armut zu steuern, der muss einen neuen Anlauf nehmen. Die deutsche Ratspräsidentschaft hat, bevor ihr Mandat turnusmäßig endete, – mit einer Eile, die man sich beim Lieferkettengesetz gewünscht hätte – noch schnell ein Investitionsabkommen mit China auf den Weg gebracht. Dieses Abkommen steht in Grundzügen, das Europaparlament muss es konkretisieren (und nicht bloß annehmen, wie es auf der Website der Bundesregierung heißt). Was das Lieferkettengesetz nur symbolisch liefert, sollte dieses Abkommen materiell festschreiben, die Vereinigungsfreiheit und das Verbot von Zwangsarbeit. Beides zur Bedingung des Investitionsabkommens zu machen, sollte die Europäische Union sich durchringen.
Die Hintertür steht schon offen
Das sei Gesinnungsethik, keine Realpolitik? Man kann die Floskel vorausahnen, auf die ein solches Begehren trifft. „Unsere Werte“ kommen in jeder zweiten Merkel-Rede vor, und zuverlässig war die rituelle Formel wieder zu hören: “Insgesamt kann man sagen, dass hier die europäischen Werte … soweit es überhaupt möglich ist, in diesem Investitionsabkommen verankert worden sind”, heißt es in der Berliner Presseerklärung. Soweit es überhaupt möglich ist – steht die Hintertür schon offen. Nur nicht den in Peking Regierenden auf die Füße treten, das ist Gesinnungsethik. Was sich ihnen vor die Füße wirft, bekommt die verantwortungsethische Weihe. Derweil gestalten die realpolitischen chinesischen Herren die Welt nach ihrem Bild, und sie sind damit schon weit gekommen. Die freie Assoziation passt nicht in ihr Gesellschaftsbild, auch wenn sich ihres angeblich von Marx herschreibt.
TTIP, das Transatlantische Abkommen mit den USA, ist, wie erinnerlich, am unverdaulichen Chlorhühnchen gescheitert und an der fehlenden Traute von Merkel und Gabriel, sich gegen den gesinnungsmäßigen Antiamerikanismus zu stemmen, der sich bei der CDU-Wählerschaft genauso findet, wie bei den Grünen, der Linken und der SPD. Ob diese ganz große Koalition wieder zustande kommt, wenn statt der toten Kreatur die lebende, menschliche Kreatur in Gestalt der Uiguren ihren Anwalt braucht? Eines der weltweit größten Anbaugebiete von Baumwolle liegt in deren Heimat, in der Provinz Xinjiang. Eine halbe Million dieser Minderheit wird, laut einer Studie des Center for Global Policy, zwangsweise zum Ernten auf die Felder geschickt.
Verkettet mit schmutzigen Produktionsbedingungen
Die chinesische Zentralregierung reagiert sehr gereizt, nachdem ihre Minderheitenpolitik in der Weltöffentlichkeit nicht mehr mit Schweigen bedacht wird. Seit die EU-Außenminister gar Sanktionen beschlossen haben, die sich gegen vier für die Repression der Uiguren mitverantwortliche Kader richten, hat die KP ihre Propagandamaschine richtig auf Touren gebracht. Schon die verhaltene, eher symbolische Reaktion der EU ist der chinesischen Regierung unerträglich. Sie lässt auf einer Pressekonferenz gegen kritische, ausländische Sinologen hetzen: „Die Lügen Adrian Zenz’s entlarven“ (Der eine oder andere gealterte Maoist wird sich an diesen Sprachstil noch erinnern). Die Parteizeitung Global Times droht ganz unverhohlen damit, das Investitionsabkommen zwischen China und Europa platzen zu lassen. Merkel und Macron werden daran erinnert, wie sie „angekrochen waren, um die Beziehungen zu China zu reparieren, …nachdem sie die Menschenrechtskarte gegen China gespielt hatten“ (FAZ, 24.03.21). Der Kanon der Menschenrechte – ein taktischer Winkelzug im Spiel der Mächtigen, so erscheint er den in Peking Herrschenden.
Die deutsche Gesellschaft ist moralisch verkettet mit Gesellschaften, denen bürgerliche Rechtsstandards völlig abgehen. „Die Arbeit in weißer Haut kann sich nicht dort emanzipieren, wo sie in schwarzer Haut gebrandmarkt wird“, schreibt Karl Marx. Was für die frühen USA im Verhältnis der weißen Arbeiter der Nord- zu den schwarzen Arbeitern der Südstaaten galt, gilt fortgesetzt in der Gegenwart: Die Arbeit in den entwickelten Ländern mag noch so clean in Büros und Fabriken vonstattengehen; sie ist eingebunden in oft ganz schmutzige Produktionsbedingungen. Überlange Arbeitstage, niedrige Arbeitsschutzstandards, Zwangsarbeit auf den Baumwoll-Feldern in der Provinz der Uiguren.
Der Beitrag ist unter dem Titel „Lieferprobleme symbolischer Politik“
zuerst auf www. faust-kultur.de erschienen.